5.4 Besetzung
5.4.1 Allgemeine Bestimmungen
527. Ein Gebiet gilt als besetzt, wenn es tatsächlich in die Gewalt der gegnerischen Streitkräfte gelangt ist (16a 42). Die Besatzungsmacht übernimmt die Verantwortung für das besetzte Gebiet und seine Bevölkerung (4 29, 47 ff.; 16a 43). Die Besatzungsmacht muss die Besatzungsgewalt tatsächlich ausüben können. Besatzungsgewalt kann eine in gegnerisches Gebiet eindringende Truppe erst dann begründen, wenn sie in der Lage ist, der Zivilbevölkerung Anweisungen zu erteilen und auch durchzusetzen.
528. Nicht zum besetzten Gebiet gehören die Kampfgebiete, d. h. die noch umkämpften und nicht ständiger Besatzungsgewalt unterliegenden Gebiete (Invasionsgebiet, Rückzugsgebiet).
529. Bei der kriegerischen Besetzung (occupatio bellica) handelt es sich nicht um einen Fall von Territorialerwerb eines Staates von einem anderen. Die Errichtung von Besatzungsgewalt ändert die völkerrechtliche Zuordnung des betroffenen Gebietes nicht.
530. Das Völkerrecht anerkennt das Recht der Besatzungsmacht, ihre eigene Hoheitsgewalt im Besatzungsgebiet wahrzunehmen. Im besetzten Gebiet ruht die Hoheitsgewalt des besetzten Staates, soweit die Besatzungsmacht die Regelungsgewalt an sich zieht.
531. Die Besatzungsmacht ist verpflichtet, nach Möglichkeit die öffentliche Ordnung und das öffentliche Leben wiederherzustellen und aufrechtzuerhalten (16a 43). Sie hat sich nur als Verwalter und Nutznießer der öffentlichen Gebäude, Liegenschaften, Wälder und landwirtschaftlichen Betriebe
zu betrachten, die dem gegnerischen Staat gehören und sich in dem besetzten Gebiet befinden, und soll den Bestand dieser Güter erhalten und sie nach den Regeln des Nießbrauchs verwalten (16a 55).
532. Zivilpersonen haben unter allen Umständen Anspruch auf Achtung ihrer Person, Ehre, Familienrechte, Gewohnheiten und Gebräuche, religiösen Überzeugungen und gottesdienstlichen Handlungen. Ihr Privateigentum ist geschützt (4 27 Abs. 1; 5 48 ff., 75; 16a 46).
533. Benachteiligungen wegen der Rasse, Nationalität, Sprache, Geschlecht, Religion, Weltanschauung, der politischen Meinung, der sozialen Herkunft oder ähnlicher Unterscheidungs- merkmale sind unzulässig (4 27; 5 75 Abs. 1).
534. Zivilpersonen sind vor Gewalttätigkeiten zu schützen (4 13, 27; 16a 46). Verboten sind insbesondere • Strafen für Verhalten Dritter („Stellvertreterstrafen") und Kollektivstrafen, ferner Maßnahmen zur Einschüchterung oder Terrorisierung (4 33 Abs. 1; 5 51 Abs. 2; 6 13 Abs. 2),
• Repressalien gegen die Zivilbevölkerung und ihr Eigentum (4 33 Abs. 3; 5 20, 51 Abs. 6),
• Plünderungen (4 33 Abs. 2; 16a 47) und
• Festnahmen von Geiseln (4 34).
535. Im Falle einer militärischen Besetzung liegt der Zustand des internationalen bewaffneten Konflikts vor. Das gilt auch dann, wenn die Kampfhandlungen bereits endgültig und allgemein beendet sind.
536. In besetzten Gebieten endet die vollständige Anwendung des IV. Genfer Abkommens ein Jahr nach der allgemeinen Einstellung der Kampfhandlungen. Die Besatzungsmacht ist jedoch auch über die Jahresfrist hinaus, soweit sie die Funktionen einer Regierung in dem in Frage stehenden besetzten Gebiet weiterhin ausübt, noch durch eine Reihe von grundlegenden Bestimmungen zum Schutze der Zivilbevölkerung gebunden (4 6 Abs. 3). Auch geschützte Personen, deren Freilassung, Heimschaffung oder Niederlassung zu einem späteren Zeitpunkt erfolgt, bleiben im Besitze ihrer Rechte nach dem Abkommen (4 6 Abs. 4).
Hinsichtlich der Staaten, die an das I. Zusatzprotokoll gebunden sind, ist ergänzend zu beachten, dass die Anwendung der Genfer Abkommen und des I. Zusatzprotokolls (5) im Fall besetzter Gebiete erst mit der Beendigung der Besetzung endet, was jedoch nicht für Personen gilt, deren endgültige Freilassung, Heimschaffung oder Niederlassung zu einem späteren Zeitpunkt erfolgt. Diese Personen genießen bis zu ihrer endgültigen Freilassung, ihrer Heimschaffung oder Niederlassung weiterhin den Schutz der einschlägigen Bestimmungen der Genfer Abkommen und des I. Zusatzprotokolls (5 3 Buchst. b).
537. Die Besatzung endet mit der Aufgabe der Ausübung unmittelbarer und effektiver Besatzungsgewalt; sie kann ganz oder teilweise aufgehoben werden. Mit der vollständigen Aufhebung der Besatzungsgewalt erlangt der betroffene Staat die volle Souveränität über seine inneren und äußeren Angelegenheiten wieder.
 
                
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