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13 Nicht-internationaler bewaffneter Konflikt

13.1 Allgemeines
1301. Ein nicht-internationaler bewaffneter Konflikt ist eine in der Regel innerhalb eines
Staatsgebietes ausgetragene, länger anhaltende, intensive gewaltsame Auseinandersetzung zwischen der bestehenden Staatsgewalt und einer organisierten bewaffneten Gruppe als nichtstaatliche Konfliktpartei, oder zwischen solchen bewaffneten organisierten Gruppen, selbst im Falle nicht mehr bestehender Staatsgewalt (33 8 Abs. 2 Buchst. d, f; 6 1 Abs. 2; 24 3, 4). In Fällen innerer Unruhen und Spannungen wie Tumulte, vereinzelt auftretender Gewalttaten und anderer ähnliche Handlungen wird die Schwelle zum nicht-internationalen bewaffneten Konflikt noch nicht überschritten.
1302. In einem nicht-internationalen bewaffneten Konflikt sind völkerrechtliche Schutz- bestimmungen zu beachten, die insbesondere in dem den vier Genfer Abkommen von 1949 gemeinsamen Artikel 3 (1-4 3) sowie in der Kulturgutschutzkonvention von 1954 (24 19) und den
dazugehörenden Protokollen vereinbart sind. Völkergewohnheitsrecht spielt beim Schutz der Opfer nicht-internationaler bewaffneter Konflikte eine bedeutende Rolle. 1303. Findet innerhalb eines Staatsgebietes ein bewaffneter Konflikt zwischen den Streitkräften der bestehenden Staatsgewalt und organisierten bewaffneten Gruppen, die unter einer verantwortlichen Führung stehen, statt und üben diese Gruppen eine solche Kontrolle über einen Teil des Staatsgebietes aus, dass sie anhaltende, koordinierte Kampfhandlungen vornehmen und in der Lage sind, die Schutzbestimmungen des II. Zusatzprotokolls von 1977 (6) anzuwenden, gelten die den gemeinsamen Artikel 3 der vier Genfer Abkommen von 1949 ergänzenden und weiterentwickelnden Schutzbestimmungen des II. Zusatzprotokolls von 1977 unter der Voraussetzung, dass der Staat, in dessen Hoheitsgebiet der Konflikt stattfindet, Vertragsstaat des II. Zusatzprotokolls ist.
1304. Das II. Zusatzprotokoll von 1977 hat somit eine höhere Anwendbarkeitsschwelle als der gemeinsame Artikel 3 der Genfer Abkommen von 1949. Das II. Zusatzprotokoll findet ausdrücklich nicht auf Fälle innerer Unruhen und Spannungen, wie Tumulte, vereinzelt auftretender Gewalttaten und anderer ähnlicher Handlungen Anwendung, die nicht als bewaffnete Konflikte gelten (6 1 Abs. 2).
Obwohl er keine ausdrückliche Regelung hierzu enthält, wird auch bei dem gemeinsamen Artikel 3 der Genfer Abkommen in solchen Fällen innerer Unruhen und Spannungen wie Tumulte, vereinzelt auftretender Gewalttaten und anderer ähnlicher Handlungen die Schwelle zum nicht-internationalen bewaffneten Konflikt noch nicht überschritten; dies ergibt sich aus den vorbereitenden Arbeiten und den dokumentierten Umständen des Abschlusses der Genfer Abkommen von 1949.
1305. Völkerrechtliche Verträge im Bereich des Humanitären Völkerrechts, die für den Fall des internationalen bewaffneten Konflikts abgeschlossen wurden, sind nicht ohne Weiteres im nicht- internationalen bewaffneten Konflikt anwendbar. Die Konfliktparteien sind jedoch aufgerufen, die für internationale bewaffnete Konflikte vereinbarten Bestimmungen der Genfer Abkommen im Wege von Sondervereinbarungen auch in nicht-internationalen bewaffneten Konflikten ganz oder teilweise in Kraft zu setzen (1-4 3 Abs. 3).
1306. Bestimmte völkerrechtliche Verträge wie das II. Protokoll zur Kulturgutschutzkonvention von 1954 (24c), das Chemiewaffenübereinkommen (29), das Ottawa-Übereinkommen (32), das Oslo- Übereinkommen (51) und vor allem das Römische Statut des Internationalen Strafgerichtshofes (33) schließen den nicht-internationalen bewaffneten Konflikt jedoch ausdrücklich in ihren Anwendungsbereich mit ein. Mit Inkrafttreten der Änderung des Artikel 1 des VN- Waffenübereinkommens ist auch dieses Übereinkommen mitsamt seines Protokolls I vom 10.
Oktober 1980 über nichtentdeckbare Splitter, seines Protokolls II vom 10. Oktober 1980 über das Verbot oder die Beschränkung des Einsatzes von Minen, Sprengfallen und anderen Vorrichtungen, seines Protokolls III vom 10. Oktober 1980 über das Verbot oder die Beschränkung des Einsatzes von Brandwaffen sowie seines Protokolls IV vom 13. Oktober 1995 über blind machende Laserwaffen auf nicht-internationale bewaffnete Konflikte anwendbar geworden.
1307. Neben den Verträgen des Humanitären Völkerrechts, die für den Fall des nicht-inter- nationalen bewaffneten Konflikts abgeschlossen wurden, hat sich auch Völkergewohnheitsrecht entwickelt. Die Regelungen des II. Zusatzprotokolls gelten in Teilen als Völkergewohnheitsrecht. Dies ist an den mittlerweile unstreitig auf nicht-internationale Konflikte anwendbaren Kriegsverbrechen- statbeständen des Völkerstrafrechts ablesbar. Nach dem Statut des Internationalen Strafgerichtshofs sind die völkerstrafrechtlich erheblichen Regeln des II. Zusatzprotokolls auch für Konflikte zwischen nichtstaatlichen bewaffneten Gruppen ohne Beteiligung des Staates anwendbar und daher deren Verletzung als Kriegsverbrechen strafbar (33 8 Abs. 2 Buchst. e, f). Fast alle Tatbestände der Kriegsverbrechen nach dem deutschen Völkerstrafgesetzbuch (VStGB) (35 8-12) gelten sowohl für internationale als auch für nicht-internationale Konflikte.
1308. Dies betrifft insbesondere Bereiche wie
• den Schutz der Zivilbevölkerung vor Feindseligkeiten, insbesondere vor unterschiedslosen Angriffen und den Schutz ziviler Objekte, insbesondere den Schutz von Kulturgut,
• den Schutz aller Personen, die nicht oder nicht mehr an Feindseligkeiten teilnehmen, insbesondere das Verbot von Angriffen auf das Leben und die Person, von Verstümmelungen, grausamen Behandlungen oder Folterungen, von Vergewaltigungen, Zwangsarbeit und Geiselnahmen,
• das Verbot von Mitteln der Konfliktführung, die in internationalen bewaffneten Konflikten verboten sind, insbesondere das Verbot von chemischen und biologischen Waffen, von Giftgas, von Dum- Dum-Geschossen und explodierenden Geschossen und von blind machenden Laserwaffen,
• das Verbot bestimmter Methoden der Konfliktführung wie der Heimtücke, die in internationalen bewaffneten Konflikten verboten sind,
• den Grundsatz der militärischen Notwendigkeit,
• den Grundsatz der Menschlichkeit,
• den Grundsatz der ständigen Unterscheidung sowie
• das Exzessverbot.
1309. Im Gegensatz zum internationalen bewaffneten Konflikt kennt das Recht des nicht-inter- nationalen bewaffneten Konflikts den Status des Kombattanten und Kriegsgefangenen nicht. Die der Staatsgewalt gegenüberstehenden feindlichen Kräfte haben keine Befugnis zur Gewaltanwendung.
Denn es obliegt dem Staat, über diese Befugnis zu entscheiden und die Personen, die gekämpft haben, gerichtlich, insbesondere strafrechtlich, für die Teilnahme an Feindseligkeiten zu verfolgen.
Dementsprechend kann der Staat Personen, die auf Seiten der nichtstaatlichen Konfliktpartei unmittelbar an den Feindseligkeiten teilgenommen haben, auch dann nach seinem Strafrecht ahnden, wenn diese nicht gegen das völkerrechtliche Kampfführungsrecht des nicht-internationalen bewaffneten Konflikts verstoßen haben. Solange Personen auf Seiten einer nichtstaatlichen Konfliktpartei unmittelbar an Feindseligkeiten teilnehmen, verlieren sie ihren Schutz als Zivilpersonen und können mit militärischen Mitteln bekämpft werden. Entscheidend ist damit, wann, wodurch und
bis zu welchem Zeitpunkt eine Person unmittelbar an den Feindseligkeiten beteiligt und damit zulässiges Ziel direkter militärischer Gewaltanwendung ist. Dies betrifft zum einen Personen für die Dauer ihrer Beteiligung an einer spezifischen Handlung, die als Teilnahme an den Feindseligkeiten zu qualifizieren ist. Daneben sind Personen umfasst, die sich aufgrund ihrer Rolle und Funktion bei den gegnerischen Kräften dauerhaft an den Feindseligkeiten beteiligen („continuous combat function") und damit auch außerhalb der Teilnahme an konkreten Feindseligkeiten zulässiges militärisches Ziel sind. Die grundsätzliche Zulässigkeit der Ingewahrsamnahme ist für das Recht des nicht-inter- nationalen bewaffneten Konflikts nicht umstritten, jedoch finden sich im Unterschied zum detailliert geregelten Recht des internationalen bewaffneten Konflikts nur Mindestschutzstandards kodifiziert.
Die Befugnis der eingesetzten Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr zur Ingewahrsamnahme ist im jeweiligen Einzelfall und für den jeweiligen Einsatz nach den geltenden rechtlichen Rahmenbedingungen und dem konkretisierenden multinationalen operativen Regelwerk (z. B.
Operationsplan (OPLAN), Rules of Engagement (ROE)) zu beurteilen. In Gewahrsam genommene Angehörige der nichtstaatlichen Konfliktpartei haben keinen Anspruch auf Behandlung als Kriegsgefangene nach dem III. Genfer Abkommen. In Gewahrsam genommene Personen sind deshalb selbstverständlich aber nicht schutzlos und werden mit Menschlichkeit und nach menschenrechtlichen Standards behandelt.50