Skip to main content

1.2 Geschichtliche Entwicklung

106. Die Entwicklung des Humanitären Völkerrechts wurde in den verschiedenen Epochen durch religiöse Vorstellungen und philosophisches Gedankengut beeinflusst. Gewohnheitsrechtliche Regeln der Kriegführung zählen mit zu den ersten völkerrechtlichen Regeln überhaupt.
107. Schon im Altertum lassen sich vereinzelt Regeln nachweisen, durch welche die Kriegsführung, die Kriegsmittel und die Methoden ihrer Anwendung eingeschränkt wurden.
Die Sumerer verstanden den Krieg als einen rechtlich geordneten Zustand, der mit der Kriegs- erklärung begann und durch einen Friedensvertrag beendet wurde. Im Krieg galten Regeln, die beispielsweise die Immunität des gegnerischen Unterhändlers garantierten.
Hammurabi (1728-1686 v. Chr.), König von Babylon, verfasste den „Kodex Hammurabi" zum Schutz der Schwachen gegen die Unterdrückung der Starken und verfügte die Freilassung von Geiseln gegen Lösegeld.
Die Hethiter kannten in ihren Gesetzen ebenfalls die Kriegserklärung und den Friedensschluss durch Vertrag sowie die Verschonung der Einwohner einer gegnerischen Stadt nach Erklärung der Kapitulation. So wurde der Krieg zwischen Ägypten und den Hethitern 1269 v. Chr. durch einen Friedensvertrag beendet.
Im 7. Jahrhundert v. Chr. ließ der König der Perser, Kyros I., die verwundeten Chaldäer wie die eigenen verwundeten Soldaten behandeln.
Das indische Mahabharata-Epos (um 400 v. Chr.) und die Manu-Legende (nach der Zeitenwende) enthalten bereits Bestimmungen, welche die Tötung des kampfunfähigen und des sich ergebenden Gegners verbieten, bestimmte Kampfmittel wie vergiftete oder brennende Pfeile untersagen und den Schutz gegnerischen Eigentums und der Kriegsgefangenen regeln.
In den Kriegen zwischen den sich als gleichberechtigt betrachtenden griechischen Stadtstaaten, aber auch im Kampf Alexanders des Großen gegen die Perser, achteten die Griechen Leben und persönliche Würde von Kriegsopfern als vorrangiges Gebot. Sie schonten Tempel und Botschaften, Priester und Gesandte der Gegenseite und tauschten die Gefangenen aus. Bei der Kriegführung war z. B. das Vergiften von Brunnen geächtet. Auch die Römer gestanden ihren Kriegsgefangenen das Recht auf Leben zu. Griechen und Römer unterschieden aber zwischen kulturell gleichgestellten Völkern und Völkern, die sie als Barbaren ansahen.
108. Auch der Islam erkannte wesentliche Forderungen der Humanität an. In den Anweisungen des ersten Kalifen, Abu Bakr (etwa 632), an seine Heerführer war festgelegt: „Das Blut der Frauen, Kinder und Greise beflecke nicht euren Sieg. Vernichtet nicht die Palmen, brennt nicht die Behausungen und Kornfelder nieder, fällt niemals Obstbäume und tötet das Vieh nur dann, wenn ihr seiner zur Nahrung bedürft." Kaum anders als die Kriegführung der Christen war auch die islamische oft grausam. Unter Führerpersönlichkeiten wie Sultan Saladin im 12. Jahrhundert wurden Regeln der Kriegführung jedoch vorbildlich eingehalten. Saladin ließ vor Jerusalem die Verwundeten beider Seiten versorgen und gestattete dem Johanniter-Orden die Ausübung seines Pflegedienstes.
109. Im Mittelalter unterlagen Fehde und Krieg strikten gewohnheitsrechtlichen Regeln. Der Grundsatz der Schonung von Frauen, Kindern und Greisen vor Kampfhandlungen geht auf den Kirchenlehrer Augustinus zurück. Mit der Durchsetzung der Achtung vor heiligen Stätten (Gottesfrieden) entstand ein Recht der Zuflucht in den Kirchen („Kirchenasyl"), über dessen Achtung die Kirche sorgsam wachte. Ritter untereinander fochten nach bestimmten (ungeschriebenen) Regeln. Diese Waffenregeln wurden verschiedentlich durch Schiedsleute oder Rittergerichte durchgesetzt. Sie galten allerdings nur für Ritter. Der Feind wurde oft als gleichberechtigter Kampfpartner angesehen, der in ehrenhaftem Kampf besiegt werden musste. Es galt als verboten, einen Krieg ohne vorherige Ansage zu eröffnen. 110. Im „Buschido", dem mittelalterlichen Ehrenkodex der Kriegerkaste Japans, findet sich das Gebot, Menschlichkeit auch im Kampf und gegenüber Gefangenen zu zeigen. Im 17. Jahrhundert schrieb der Militärtaktiker Sorai, dass des Totschlags schuldig sein solle, wer einen Gefangenen töte, gleichgültig, ob dieser sich ergeben oder gekämpft habe „bis zum letzten Pfeil".
111. Bedingt durch den Niedergang des Rittertums, die Erfindung der Schusswaffen und vor allem durch die Entstehung der Söldnerheere verrohten gegen Ende des Mittelalters die Sitten im Kriege wieder. Erwägungen ritterlicher Art waren diesen Heeren fremd. Ebenso unterschieden sie nicht zwischen den an den Kampfhandlungen Beteiligten und der Zivilbevölkerung. Die Söldner betrachteten den Krieg als Handwerk, das sie aus Gewinnstreben ausübten.
112. Die Neuzeit brachte zu Beginn in den Religionskriegen, vor allem im Dreißigjährigen Krieg, noch einmal die unmenschlichsten Methoden der Kriegführung mit sich. Die Grausamkeiten dieses Krieges trugen wesentlich dazu bei, dass sich die Rechtswissenschaft mit dem Recht im Kriege befasste und eine Reihe von Forderungen aufstellte, die von den Kriegführenden beachtet werden sollten. Hugo Grotius, der Begründer des modernen Völkerrechts, zeigte in seinem 1625 erschienenen Werk „De iure belli ac pacis" bestehende Schranken in der Kriegführung auf.
113. Einen grundlegenden Wandel in der Einstellung der Staaten zur Kriegführung brachte erst das 18. Jahrhundert mit der Aufklärung. Jean-Jacques Rousseau hatte 1762 in seinem Werk „Du contrat social ou principes du droit politique (Vom Gesellschaftsvertrag oder Prinzipien des Staatsrechtes)" erklärt: „Der Krieg ist keineswegs eine Beziehung von Mensch zu Mensch, sondern eine Beziehung von Staat zu Staat, und die Einzelnen sind weder als Menschen noch als Bürger als Feinde anzusehen, sie sind es als Soldaten, nicht als Mitglieder ihres Landes, aber als dessen Verteidiger. Da Ziel des Krieges die Zerstörung des gegnerischen Staates ist, besteht das Recht, seine Verteidiger zu töten, solange sie die Waffen in der Hand haben. Sobald sie diese jedoch ablegen und sich ergeben, werden sie wieder einfache Menschen, und man hat kein Recht, ihnen das Leben zu nehmen." Aus dieser bald allgemein anerkannten Lehre folgt, dass sich Kriegshandlungen nur gegen die bewaffnete Macht des Gegners, nicht gegen die Zivilbevölkerung richten dürfen, die an den Feindseligkeiten nicht teilnimmt. Diese Gedanken kamen auch in einigen Staatsverträgen jener Zeit zum Ausdruck.
Beispiel: Der Freundschafts- und Handelsvertrag zwischen Preußen und den Vereinigten Staaten vom 10. September 1785, als dessen wesentliche Autoren König Friedrich der Große und Benjamin Franklin gelten, enthielt vorbildliche und zukunftsweisende Regelungen, ins- besondere für die Behandlung von Kriegsgefangenen. ​

114. Im 19. Jahrhundert setzten sich humanitäre Ideen – nach vorübergehenden Rückschlägen – weiter durch. Sie führten zu beachtenswerten Initiativen einzelner Persönlichkeiten und zum Abschluss zahlreicher völkerrechtlicher Verträge. Diese Verträge beschränken die Kriegsmittel und die Methoden ihrer Anwendung.
115. Die Engländerin Florence Nightingale (*12. Mai 1820 in Florenz/†13. August 1910 in London) linderte das Leid der Kranken und Verwundeten bei ihrem Einsatz als Krankenpflegerin im Krimkrieg (1853-1856). Sie trug später wesentlich zur Erneuerung des zivilen und militärischen Krankenpflegewesens in ihrer Heimat bei. In Anerkennung ihres Lebenswerkes erhielt Florence Nightingale viele Ehrungen, darunter das „Royal Red Cross" (1883) und – als erste Frau überhaupt – den „Order of Merit" (1907).

View attachment 9134
Abb. 1: Florence Nightingale

116. Der deutschstämmige Amerikaner Franz (Francis) Lieber (*18. März 1798 in Berlin/ †2. Oktober 1872 in New York), von 1835-1856 Professor am South Carolina College in Columbia/ South Carolina und ab 1857 Professor am Columbia College in New York, entwarf im Rahmen eines im Dezember 1862 durch das Kriegsministerium der USA errichteten Ausschusses die „Instructions for the Government of Armies of the United States in the Field" (sog. Lieber-Code). Nach nur wenigen Ergänzungen und Kürzungen durch die anderen Mitglieder des Ausschusses wurde der Entwurf durch Präsident Abraham Lincoln gebilligt und am 24. April 1863 veröffentlicht. Der „Lieber- Code" entwickelte sich zum Vorbild einer ganzen Reihe militärischer Handbücher von Streitkräften anderer Staaten und beeinflusste die weitere Entwicklung des Völkerrechts wesentlich.


View attachment 9135
Abb. 2: Franz Lieber

117. Der Genfer Kaufmann Henry Dunant (*8. Mai 1828 in Genf/†30. Oktober 1910 in Heiden in der Schweiz) erlebte 1859 im italienischen Einigungskrieg auf dem Schlachtfeld von Solferino das Elend von 40.000 österreichischen, französischen und italienischen Verwundeten. Auf seine Initiative hin erschien am 9. Juli 1859 im „Journal de Genève" ein Hilfeaufruf für die Verwundeten von Solferino. 1860/61 arbeitete Dunant an „Eine Erinnerung an Solferino", das 1862 auf seine Kosten in einer Auflage von 1.600 Stück erschien und weltweit bekannt wurde. Auf seine Anregung wurde 1863 in Genf der Grundstein für das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) gelegt. Dunant erhielt 1901 den Friedensnobelpreis; 1903 wurde er zum Dr. med. h. c. promoviert.

View attachment 9136
Abb. 3: Henry Dunant

118. Das Genfer Abkommen von 1864 zum Schutz der Verwundeten der Armeen im Felde regelte die Rechtsstellung des Sanitätspersonals. Es bestimmte, dass verwundete Gegner wie die Angehörigen der eigenen Truppen zu bergen und zu pflegen seien. Diese Regeln wurden durch das Genfer Abkommen von 1906 erweitert und verbessert.
119. Die St. Petersburger Erklärung von 1868 führte erstmals vertragliche Beschränkungen für den Einsatz von Kampfmitteln und Kampfmethoden ein. Sie hat den noch heute gültigen gewohnheitsrechtlichen Grundsatz, dass der Einsatz von Waffen verboten ist, die unnötige Leiden verursachen, kodifiziert.
120. Auf Initiative des russischen Zaren Alexander II. trat 1874 eine internationale Konferenz in Brüssel zusammen, auf der ein russischer Entwurf eines Abkommens über die Gesetze und Gebräuche des Krieges beraten wurde. Die von der Konferenz am 27. August 1874 angenommene Brüsseler Deklaration stellte die erste umfassende Formulierung der Gesetze und Gebräuche des Krieges dar, wurde von den Staaten jedoch nicht in Kraft gesetzt. Auf der Grundlage eines Entwurfs des schweizerischen Juristen Gustave Moynier (*21. September 1826 in Genf/†21. August 1910 in Genf), der von 1864 bis 1910 als Präsident des IKRK amtierte, wurde am 9. September 1880 in Oxford das sog. Oxford Manual zum Landkriegsrecht des Instituts für internationales Recht angenommen. Die Brüsseler Deklaration von 1874 war ebenso wie das Oxford Manual von 1880 eine der wesentlichen Grundlagen der Beratungen der Haager Friedenskonferenzen, welche zu der Haager Landkriegs- ordnung von 1899 (37a) führten, die 1907 neugefasst wurde (16a).

View attachment 9137
Abb. 4: Gustave Moynier

121. Der Erste Weltkrieg (1914-1918) mit seinen neuen Kampfmitteln und einer bis dahin ungeahnten und ungekannten Ausdehnung des Kriegsgeschehens zeigte die Grenzen des damaligen Rechts auf.
122. Für den Luftkrieg wurden 1923 die Haager Luftkriegsregeln (14) ausgearbeitet, gleichzeitig mit Regeln zur Kontrolle des Funkverkehrs in Kriegszeiten. Obwohl sie nicht als Vertragsrecht in Kraft gesetzt wurden, haben sie die Entwicklung der Rechtsüberzeugung beeinflusst.

123. Mit dem Genfer Giftgasprotokoll von 1925 (10) wurde der Einsatz erstickender, giftiger oder gleichartiger Gase sowie von bakteriologischen Kampfmitteln durchgehend untersagt. Dieses Protokoll ist inzwischen zu Gewohnheitsrecht erstarkt und wird durch das Chemiewaffen- übereinkommen (29) ergänzt.
124. Im Jahre 1929 wurden in Genf das Abkommen zur Verbesserung des Loses der Verwun- deten und Kranken der Heere im Felde (38) und das Abkommen über die Behandlung der Kriegs- gefangenen (39) verabschiedet, die auch das Genfer Abkommen von 1906 weiterentwickelten.
125. Die bedeutendsten Kodifikationen des Humanitären Völkerrechts nach dem Zweiten Weltkrieg stellen die vier Genfer Abkommen vom 12. August 1949 (1-4) und deren Zusatzprotokolle von 1977 und 2005 (5-6a) dar. Weitere bis heute hinzugetretene bedeutende Abkommen sind insbesondere die Kulturgutschutzkonvention (24), das Umweltkriegsübereinkommen (9), das VN-Waffenüberein- kommen (8) mit dessen Protokollen (8a-e), das Chemiewaffenübereinkommen (29), das Ottawa- Übereinkommen über das Verbot von Personenminen (32) und das Osloer Übereinkommen über Streumunition (51).
126. Erste seekriegsrechtliche Regelungen finden sich bereits im Mittelalter. Sie betrafen vor allem das Recht zur Durchsuchung von Schiff und Ladung sowie das Beschlagnahmerecht und wurden später mehrfach geändert. Die Behandlung der Schiffe neutraler Staaten war uneinheitlich geregelt und umstritten. Die Hanse nutzte ihre fast unbeschränkte Seeherrschaft dazu, in Kriegs- zeiten Handelsverbote durchzusetzen, die nicht nur dem Gegner abträglich waren, sondern auch den Neutralen einen Warenaustausch mit ihm unmöglich machten. Das Interesse der neutralen Staaten, auch im Krieg ihrem Seehandel nachzugehen, war gegenüber dem Interesse der Kriegführenden an wirksamer Abschnürung des Gegners von seinen Zufuhren über See nur dann durchsetzbar, wenn die eigene Machtstellung gesichert war. Dies führte im 18. Jahrhundert zu Zusammenschlüssen neutraler Staaten und zum Einsatz ihrer Kriegsflotten zum Schutz ihres Rechts auf freien Seehandel.
127. Die Pariser Seerechtsdeklaration von 1856 (25) verlieh dem Schutz des neutralen See- handels erstmals breitere Anerkennung und schuf das Unwesen der Kaperei ab. Die Kaperei war bis dahin ein Instrument des Seekrieges, das auf dem Besitz eines gültigen Kaperbriefes beruhte, wodurch der Kaperer zur Teilnahme an bewaffneten Feindseligkeiten ermächtigt wurde.
128. Seit dem Mittelalter war die Erteilung sogenannter Kaperbriefe an private Reeder durch die Großmächte stark verbreitet, und bis in die Zeiten Heinrichs VIII. gab es in England überhaupt keine vom Staat unterhaltenen und ausgerüsteten Kriegsschiffe, vielmehr unterstellten Private bei Bedarf ihre Schiffe dem Kommando des königlichen Großadmirals. Noch unter Königin Elisabeth I. wurde Kaperern wie etwa Sir Francis Drake durch Leihe von Schiffen oder Ausgabe von Geldbeträgen zur Schiffsausrüstung die Kaperei wesentlich erleichtert. Der Einsatz von Kaperschiffen fand wohl letztmalig in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts statt, wenngleich manche Nichtvertragsmächte
der Pariser Seerechtsdeklaration auch später das Mittel der Kaperei nicht völlig ausschlossen. Die Kaperei ist inzwischen gewohnheitsrechtlich untersagt.
129. Die Sanktion von Verletzungen des Humanitären Völkerrechts wurde in der Vergangenheit vor allem als Aufgabe der jeweils zuständigen nationalen Strafgewalt verstanden. Eine wesentliche Entwicklung der jüngeren Zeit ist die Internationalisierung der Strafrechtspflege hinsichtlich der Kriegsverbrechen. Die Forderung nach Errichtung eines Internationalen Strafgerichtshofs geht bereits auf das 19. Jahrhundert zurück. Schon 1872 hatte der Schweizer Gustave Moynier den ersten förmlichen Vorschlag zur Errichtung eines Internationalen Strafgerichtshofs unterbreitet. Im Zeitalter der Nationalstaaten und des ausgeprägten Souveränitätsdenkens hatte dieser Vorschlag aber lange Zeit keine Chance.
130. Vor allem wegen der während des Zweiten Weltkriegs begangenen Verbrechen und unter dem Eindruck der Tätigkeit der Internationalen Militärgerichtshöfe von Nürnberg und Tokio wurde diese Idee in den VN bald nach ihrer Gründung neu belebt. In der internationalen Gemeinschaft wuchs zum Ausgang des 20. Jahrhunderts die Bereitschaft, sich am Verhandlungstisch auf einvernehmliche Lösungen zu verständigen. Die massiven Verstöße gegen das Humanitäre Völkerrecht im ehemaligen Jugoslawien und die Massaker in Ruanda bewogen den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen, als Zwangsmaßnahme nach Kapitel VII der VN-Charta (34) die beiden Internationalen Ad-hoc-Strafgerichtshöfe für das ehemalige Jugoslawien5 (1993) und für Ruanda6 (1994) einzurichten. Dies trug dazu bei, dem Vorhaben eines ständigen Internationalen Strafgerichtshofs weiteren Auftrieb zu geben. Eine Staatenkonferenz in Rom zur Errichtung des Internationalen Strafgerichtshofs wurde am 15. Juni 1998 vom Generalsekretär der VN eröffnet. Aus den Konferenzen ging schließlich das Römische Statut des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) vom 17. Juli 1998 (33) hervor. Am 1. Juli 2002 trat das Römische Statut des IStGH in Kraft.
Der IStGH ist eine ständige Einrichtung mit Sitz in Den Haag/Niederlande. Er tritt dort neben den Internationalen Gerichtshof (IGH) der VN, der für die Entscheidung zwischenstaatlicher Streitigkeiten zuständig ist. Die Errichtung des IStGH soll unter anderem Lücken des bestehenden Systems bei der Umsetzung des Humanitären Völkerrechts schließen. Durch den IStGH wurde die Möglichkeit geschaffen, nach seiner Errichtung begangene Verbrechen wie Völkermord, Verbrechen gegen die
Menschlichkeit, Kriegsverbrechen oder Verbrechen der Aggression wirksam strafrechtlich durch ein internationales Gericht zu ahnden. Für die Ausübung der Gerichtsbarkeit über das Verbrechen der Aggression, dessen Tatbestand erst während der Vertragsstaatenkonferenz im Jahr 2010 in Kampala definiert wurde, ist ein bestätigender Beschluss der Vertragsstaatenversammlung erforderlich, der frühestens nach dem 1. Januar 2017 ergehen darf und der die für die Änderung des Statuts erforderliche Mehrheit benötigt (33 15 bis Abs. 3, 15 ter Abs. 3).

5 Internationaler Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien, Den Haag (Niederlande). 6 Internationaler Strafgerichtshof für Ruanda, Arusha (Tanzania).

In Artikel 8 des Römischen Statuts sind Verstöße gegen das Humanitäre Völkerrecht in 50 Einzeltatbeständen als mit schweren Strafen bedrohte Kriegsverbrechen erfasst. Das deutsche Völkerstrafgesetzbuch (VStGB) vom 26. Juni 2002 übernimmt u. a. die im Römischen Statut geregelten Verbrechenstatbestände in das deutsche materielle Strafrecht7.
131. Zu den neueren Entwicklungen im Bereich des Humanitären Völkerrechts gehört vermehrt die Erarbeitung rechtlich nicht bindender Zusammenstellungen des anwendbaren Völkerrechts in spezifischen humanitär völkerrechtlichen Fragen insbesondere durch Universitäten, Institute oder auch das IKRK. In der Rechtsunterrichtung der Soldatinnen und Soldaten sowie in der Anwendung im Rahmen der Rechtsberatung kann nicht davon ausgegangen werden, dass deren Inhalte notwendig mit der Position der Bundesregierung bzw. des BMVg übereinstimmen. Beispielhaft für solche rechtlich nicht verbindlichen Zusammenstellungen und Studien seien die folgenden Studien bzw.

Handbücher genannt:
• Das am 12. Juni 1994 vom Internationalen Institut für Humanitäres Völkerrecht in San Remo veröffentlichte „Handbuch von San Remo über das in bewaffneten Konflikten auf See anwendbare Völkerrecht" bezweckt, eine zeitgemäße Darstellung des anwendbaren Völkerrechts in bewaffneten Konflikten auf See zu bieten. Das Handbuch, dem ein Kommentar beigefügt ist, enthält eine geringe Anzahl von Bestimmungen, die als Fortentwicklungen im Recht betrachtet werden könnten. Es ist rechtlich nicht bindend, wird jedoch in zunehmendem Maße in der Staaten- und internationalen Praxis als verlässliche Darstellung des anwendbaren Rechts anerkannt.
• Das IKRK veröffentlichte 2005 eine umfangreiche „Studie zum humanitären Völkergewohnheits- recht". In dieser wird anhand von nationalen und internationalen Quellen, Materialien aus den Archiven des IKRK und Ergebnissen aus Expertenkonsultationen die Staatenpraxis mit dem Ziel ausgewertet, gewohnheitsrechtliche Regeln des Humanitären Völkerrechts abzuleiten. Die IKRK- Völkergewohnheitsrechtsstudie ist rechtlich nicht bindend. Derzeit lässt sich nicht abschätzen, ob sie sich als verlässliche Darstellung des humanitären Völkergewohnheitsrechts etablieren wird.
• Das am 17. September 2008 verabschiedete Montreux-Dokument über einschlägige völkerrechtliche Verpflichtungen und bewährte Praktiken für Staaten im Zusammenhang mit dem Einsatz privater Militär- und Sicherheitsunternehmen in bewaffneten Konflikten (The Montreux Document on pertinent legal obligations and good practices for States related to operations of private military and security companies during armed conflict) bezweckt, einen Überblick über die völkerrechtlichen Verpflichtungen von privaten Sicherheits- und Militärfirmen, die in bewaffneten Konflikten im Einsatz stehen, zu geben und Empfehlungen („good practices") zu formulieren, welche den bei einem Einsatz privater Militär- und Sicherheitsfirmen beteiligten Staaten – d. h. den Staaten, die diese Unternehmen beauftragen, den Staaten, in denen diese Unternehmen zum Einsatz kommen, sowie den Staaten, in denen diese Unternehmen ihren Sitz haben oder in denen sie registriert sind – helfen

7 Näheres zu VStGB und IStGH siehe auch Abschnitt 15.

sollen, geeignete Maßnahmen zu ergreifen, damit sie ihren völkerrechtlichen Verpflichtungen nachkommen können.
• Ferner veröffentlichte das IKRK im Mai 2009 eine rechtlich nicht bindende Studie zur Auslegung des Begriffs der unmittelbaren Teilnahme an Feindseligkeiten („Interpretive Guidance on the Notion of Direct Participation in Hostilities"). Sie enthält hilfreiche Empfehlungen und Ansätze für die rechtliche Beurteilung wie insbesondere in nicht-internationalen bewaffneten Konflikten Personen zu identifizieren sind, die zulässigerweise militärisch bekämpft werden können.
• Am 15. Mai 2009 veröffentlichte das Programm für humanitäre Politik und Konfliktforschung an der Harvard-Universität das von einer Gruppe internationaler Sachverständiger erarbeitete „Harvard- Handbuch über das auf die Luft- und Raketenkriegführung anwendbare Völkerrecht". Ziel des Harvard-Handbuchs, das von einem ausführlichen Kommentar begleitet wird, ist eine zeitgemäße Darstellung des auf die Luft- und Raketenkriegsführung anwendbaren Völkerrechts. Das Handbuch ist rechtlich nicht bindend. Es enthält zahlreiche Bestimmungen, die gegenüber den Haager Luftkriegsregeln von 1923 als Fortentwicklung des Völkerrechts angesehen werden müssen. Inwiefern es in der Staaten- und internationalen Praxis als verlässliche Darstellung des anwendbaren Rechts Anerkennung finden wird, kann angesichts des kurzen Zeitraums seit seiner Veröffentlichung nicht bewertet werden.
• Im März 2013 wurde das Tallinn-Handbuch betreffend das auf Cyberkriegführung anwendbare Völkerrecht („Tallinn Manual on the International Law Applicable to Cyber Warfare"), das auf Anregung des NATO-Exzellenzzentrums für Cyberverteidigung von einer Gruppe internationaler Sachverständiger erarbeitet wurde, veröffentlicht. Ziel der Verfasser dieses Handbuchs ist, die Anwendbarkeit und Anwendung des bestehenden Rechts der bewaffneten Konflikte auf die Cyberkriegführung detailliert und mit praktischen Beispielen untermauert darzustellen.​