1.5 Bindung an Völkerrecht
143. Die für die Bundesrepublik Deutschland geltenden Verpflichtungen des Humanitären Völkerrechts binden nicht nur den Staat, sondern jeden Einzelnen. Schwere Verstöße gegen das in internationalen und in nicht-internationalen bewaffneten Konflikten anwendbare Humanitäre Völkerrecht werden im Römischen Statut des Internationalen Strafgerichtshofs (33) und im deutschen Völkerstrafgesetzbuch (35) unter Strafe gestellt (siehe auch Abschnitt 15).
144. Die allgemeinen Regeln des Völkerrechts sind nach Artikel 25 des Grundgesetzes (GG) für die Bundesrepublik Deutschland Bestandteil des Bundesrechts. Sie gehen den einfachen Gesetzen vor und erzeugen unmittelbar Rechte und Pflichten. Zu diesen allgemeinen Regeln des Völkerrechts gehören neben denjenigen
• Normen, denen die Qualität on zwingendem Völkerrecht zukommt,
• das Völkergewohnheitsrecht sowie die
• anerkannten allgemeinen Rechtsgrundsätze.
10 Vgl. auch NATO AAP-06 (2012) – military necessity: the principle whereby a belligerent has the right to apply any measures which are required to bring about the successful conclusion of a military operation and which are not forbidden by the laws of war.
145. Unter zwingendem Völkerrecht (ius cogens) versteht man Völkerrechtssätze, von denen die Staaten wegen ihrer grundlegenden Bedeutung nicht abweichen dürfen, auch nicht durch völkerrechtliche Verträge. Beispielsweise werden das Verbot des Völkermordes, das Verbot der Sklaverei und das Folterverbot zum Bestand zwingenden Völkerrechts gerechnet. Zu der Frage, in welchem Umfang das Humanitäre Völkerrecht dem ius cogens zuzuordnen ist, hat der Internationale Gerichtshof (IGH) bislang keine Feststellung getroffen. Man wird jedoch davon ausgehen können, dass auch die grundlegenden Regeln des Humanitären Völkerrechts, wie insbesondere das Unterscheidungsgebot, dem ius cogens zugeordnet werden kann.
146. Völkergewohnheitsrecht entsteht durch die von einer allgemeinen Rechtsüberzeugung getragene, ständige Übung der Staaten.
147. Bei den anerkannten allgemeinen Rechtsgrundsätzen handelt es sich insbesondere um
diejenigen Bestimmungen des Humanitären Völkerrechts, die ein Verhalten fordern, wie es sich aus den Grundsätzen der Menschlichkeit und aus den Forderungen des öffentlichen Gewissens ergibt (vgl. 5 1 Abs. 2; 6 Präambel Abs. 4).
148. Die vier Genfer Abkommen und deren Zusatzprotokolle verpflichten alle Vertragsparteien, den Wortlaut der Abkommen so weit wie möglich zu verbreiten (1 47; 2 48; 3 127; 4 144; 5 83 Abs. 1; 6 19; 6a 7). Dies soll vor allem durch Ausbildungsprogramme für die Streitkräfte und durch Anregung der Zivilbevölkerung zum Studium der Abkommen geschehen (5 83 Abs. 1). Militärische und zivile Dienststellen sollen in Zeiten eines bewaffneten Konflikts im Hinblick auf ihre Verantwortlichkeit vollkommen mit dem Wortlaut der Abkommen und deren Zusatzprotokolle vertraut sein (5 83 Abs. 2). Nach § 33 Abs. 2 SG sind die Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr über ihre völkerrechtlichen Pflichten und Rechte im Frieden und im Krieg zu unterrichten. Die Staaten haben sich verpflichtet, dem Humanitären Völkerrecht entsprechende Dienstvorschriften zu erlassen (16 1; 37 1).
149. Die völkerrechtliche Unterrichtung findet für alle Soldatinnen und Soldaten der Bundes- wehr statt. Sie wird in der Truppe von den militärischen Vorgesetzten und den Rechtsberaterinnen und Rechtsberatern sowie an den Schulen und Akademien der Streitkräfte von den
Rechtslehrerinnen und Rechtslehrern sowie Rechtsdozentinnen und Rechtsdozenten
durchgeführt. Die fachliche Aus- und Fortbildung dieses Lehrpersonals obliegt der Zentralen Ausbildungseinrichtung für die Rechtspflege der Bundeswehr am Zentrum Innere Führung.
150. Vorgesetzte sind dafür verantwortlich, dass ihre Untergebenen ihre völkerrechtlichen Pflichten und Rechte kennen. Sie werden bei der Erfüllung dieser Aufgaben durch Rechtsberaterinnen und Rechtsberater unterstützt (5 82). Vorgesetzte sind verpflichtet, Völkerrechts- verletzungen zu verhindern und sie notfalls zu unterbinden bzw. den zuständigen Behörden anzuzeigen (5 87). Die Verletzung dieser Vorgesetztenpflichten ist im bewaffneten Konflikt in besonderer Weise strafbewehrt (vgl. 33 28; 35 13, 14).
151. Vorgesetzte dürfen nur rechtmäßige Befehle erteilen. Insbesondere müssen sie bei
ihrer Befehlsgebung die Regeln des Völkerrechts beachten (§ 10 Abs. 4 SG). Für ihre Befehle tragen sie die Verantwortung (§ 10 Abs. 5 SG).
152. Für alle Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr ist es eine selbstverständliche Pflicht, die Regeln des Humanitären Völkerrechts zu befolgen. Die Einhaltung dieser Pflicht ist stets Bestandteil
militärischer Operationsführung (Einheit von Operationsführung und Recht).
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