2 Anwendungsbereich des Humanitären Völkerrechts
2.1 Bewaffnete Konflikte
201. Das Humanitäre Völkerrecht findet in bewaffneten Konflikten Anwendung. Es unterscheidet zwischen internationalen und nicht-internationalen bewaffneten Konflikten (1-4 2 Abs. 1). Diese Unterscheidung hat Auswirkungen auf die Anwendbarkeit seiner Regelungen. Einige Bestimmungen sind jedoch bereits in Friedenszeiten anwendbar wie die Verwendungsbestimmungen hinsichtlich der Schutzzeichen (1 44 Abs. 1) und die Bestimmungen über die Verbreitung des Humanitären Völkerrechts. In bewaffneten Konflikten wird das in Friedenszeiten anwendbare Völkerrecht (Friedensvölkerrecht) zwischen den beteiligten Staaten weitgehend von den Regeln des Humanitären
Völkerrechts überlagert. Soweit das Friedensvölkerrecht nicht vom Humanitären Völkerrecht überlagert wird, bleibt es aber weiter anwendbar, nicht nur im Verhältnis zwischen den Konfliktparteien, sondern insbesondere im Verhältnis zwischen ihnen und den neutralen Staaten.
202. Das Recht des internationalen bewaffneten Konflikts findet auf mit Waffengewalt ausgetragene Auseinandersetzungen zwischen zwei oder mehreren Staaten Anwendung. Es findet ferner in allen Fällen vollständiger oder teilweiser militärischer Besetzung des Gebietes einer Konfliktpartei Anwendung, selbst wenn diese Besetzung auf keinen bewaffneten Widerstand stößt (1-4 2, 5 1 Abs. 3).
203. Ein die Anwendbarkeit des Humanitären Völkerrechts auslösender internationaler bewaffneter Konflikt liegt vor, sobald eine staatliche Konfliktpartei gegen eine andere staatliche Konfliktpartei Waffengewalt einsetzt. Unerheblich ist jedoch, ob die Konfliktparteien sich als im Krieg befindlich betrachten und wie sie ihre Auseinandersetzung bezeichnen.
204. Die Anwendung des Humanitären Völkerrechts ist nicht abhängig von einer förmlichen Kriegserklärung. Förmliche Kriegserklärungen (15 1) kommen heute nur noch gelegentlich vor, was sich aus der völkerrechtlichen Ächtung des Krieges erklärt.
Erklärungen zur förmlichen Feststellung des Kriegszustandes können in Bündnisdokumenten und innerstaatlichen Verfassungsgesetzen vorgesehen sein.
Beispiel: In Deutschland kann der Bundespräsident entsprechende völkerrechtliche Erklärungen nach Eintritt des Verteidigungsfalles abgeben (Artikel 115a Abs. 1 und 5 des GG).
205. Kriegserklärungen können unbedingt abgegeben werden oder in der Form eines Ultimatums mit bedingter Kriegserklärung erfolgen (15 1). Förmliche Kriegserklärungen sind nicht zur Ausübung des Rechts auf individuelle oder kollektive Selbstverteidigung erforderlich. Artikel 51 der VN-Charta (34) schreibt jedoch vor, dass Maßnahmen, die in Ausübung des Rechts auf Selbstverteidigung getroffen werden, sofort dem Sicherheitsrat der VN anzuzeigen sind.
206. Der Ausbruch eines internationalen bewaffneten Konflikts führt nicht zwingend zum Abbruch der diplomatischen und konsularischen Beziehungen, zumal ein solcher Abbruch den Kontakt zwischen den Konfliktparteien erschweren würde.
Beispiel: Im 1980 begonnenen ersten Golfkrieg unterhielten Iran und Irak noch bis 1987 diplomatische Beziehungen.
207. Auch bewaffnete Konflikte, in denen Völker gegen Kolonialherrschaft und fremde Besetzung sowie gegen rassistische Regime in Ausübung ihres Rechts auf Selbstbestimmung kämpfen, wie es in der VN-Charta (34) und in der völkerrechtlich nicht bindenden „Erklärung über Grundsätze des Völkerrechts betreffend freundschaftliche Beziehungen und Zusammenarbeit zwischen den Staaten" im Einklang mit der VN-Charta niedergelegt ist, können sich nach den Abkommen über internationale bewaffnete Konflikte richten (5 1 Abs. 4). Hierzu ist erforderlich, dass die nicht staatliche Konfliktpartei ihre Verpflichtung erklärt, die Regeln völkerrechtlicher Verträge in Bezug auf diesen Konflikt anzuwenden (5 1 Abs. 4, 96 Abs. 3). Deutschland hat bei der Ratifikation des I. Zusatzprotokolls erklärt, es verstehe diese Regeln so, dass Erklärungen einer nichtstaatlichen Konfliktpartei nur bindende Kraft entfalten, wenn sie alle Voraussetzungen (5 1 Abs. 4) erfüllt (46). 208. Die Geltung des Humanitären Völkerrechts hängt nicht davon ab, ob sich die am Konflikt beteiligten Staaten und Regierungen gegenseitig anerkennen (1-2 13 Nr. 3, 3 4 A Nr. 3, 5 43 Abs. 1).
209. Wenn ein Kriegszustand oder sonst ein internationaler bewaffneter Konflikt vorliegt, kommt im Verhältnis der Konfliktparteien zu den am Konflikt nicht beteiligten Staaten die Anwendung des
Neutralitätsrechts in Betracht (15 2).
210. Ein nicht-internationaler bewaffneter Konflikt ist eine in der Regel innerhalb eines Staatsgebietes ausgetragene, länger anhaltende, intensive gewaltsame Auseinandersetzung zwischen der bestehenden Staatsgewalt und einer organisierten bewaffneten Gruppe als nichtstaatlicher Konfliktpartei, oder zwischen solchen bewaffneten organisierten Gruppen, selbst im Falle nicht mehr bestehender Staatsgewalt (33 8 Abs. 2 Buchst. d, f; 6 1 Abs. 2; 24 3, 4). In Fällen innerer Unruhen und Spannungen wie Tumulten, vereinzelt auftretenden Gewalttaten und anderen ähnlichen Handlungen wird die Schwelle zum nicht-internationalen bewaffneten Konflikt noch nicht überschritten; damit ist das Humanitäre Völkerrecht in diesen Situationen nicht anwendbar. Das Humanitäre Völkerrecht setzt in nicht-internationalen bewaffneten Konflikten humanitäre Mindeststandards. So enthalten der gemeinsame Artikel 3 der vier Genfer Abkommen (1-4 3) und das II. Zusatzprotokoll (6) Mindestschutzbestimmungen und werden durch Völkergewohnheitsrecht ergänzt. Die Mindest- schutzbestimmungen der vier Genfer Abkommen von 1949 für nicht-internationale bewaffnete Konflikte (1-4 3) stellen auch für Zeiten des internationalen bewaffneten Konfliktes einen Minimalstandard dar, der das für diese Zeiten anwendbare Völkervertragsrecht und Völker- gewohnheitsrecht ergänzt (siehe Abschnitt 13).
211. Die Anwendung des Humanitären Völkerrechts ist nicht davon abhängig, ob die bewaffnete Auseinandersetzung unter Verletzung der Bestimmungen des Völkerrechts, z. B. des Verbots des Angriffskrieges, begonnen worden ist. Ein Staat ist auch dann an die Regeln des Humanitären Völkerrechts gebunden, wenn er Opfer eines völkerrechtswidrigen militärischen Angriffs geworden ist.
212. Die Regeln des Humanitären Völkerrechts finden keine unmittelbare Anwendung in Einsätzen unterhalb der Schwelle des bewaffneten Konflikts (siehe Nr. 210). Dennoch berücksichtigen alle Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr die Mindestschutzbestimmungen des Humanitären Völkerrechts, insbesondere den Schutz der Zivilbevölkerung und ziviler Objekte bei militärischen Operationen, etwa bei Einsätzen zur Friedenssicherung mit Ermächtigung des Sicherheitsrates der VN, auch wenn die in deren Rahmen eingesetzten Streitkräfte nicht in bewaffnete Unternehmungen, in denen militärische Gewalt oberhalb der Schwelle des bewaffneten Konflikts angewendet wird, einbezogen sind.11 Hinzu kommen ergänzende Verpflichtungen, die sich insbesondere aus dem nationalen Recht sowie aus Stationierungsabkommen oder sonstigen Vereinbarungen mit dem Aufenthaltsstaat ergeben können.
213. Das „Kriegsvölkerrecht" („law of war" bzw. „law of armed conflict"), das die Hauptwurzel des modernen Humanitären Völkerrechts darstellt, ist strikt vom nationalen „Kriegsrecht" („martial law") zu unterscheiden, das die jeweiligen nationalen Regelungen der staatlichen Ausnahmeordnung in Zeiten des internationalen bewaffneten Konflikts umfasst (in Deutschland die Feststellung des Verteidi- gungsfalles gemäß Artikel 115a ff. GG).
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