5 Schutz der Zivilbevölkerung
5.1 Allgemeines
501. Die Zivilbevölkerung umfasst alle Zivilpersonen (5 50 Abs. 2). Der Begriff der Zivilperson wird im Humanitären Völkerrecht nicht positiv, sondern negativ durch den Ausschluss bestimmter Personenkategorien definiert (5 50 Abs. 1 Satz 1 i. V. m. 3 4 A Nrn. 1, 2, 3 und 6; 5 43). Zivilperson ist danach jede Person, die weder den Streitkräften im weiteren Sinne noch einer „levée en masse" angehört, grundsätzlich also Personen, die nicht Kombattanten sind. Zu den Einzelheiten der Personengruppen, die nicht zur Zivilbevölkerung gehören, siehe Abschnitt 3.
502. Die Zivilbevölkerung und einzelne Zivilpersonen genießen allgemeinen Schutz vor den von Kriegshandlungen ausgehenden Gefahren (5 51 Abs. 1). Weder die Zivilbevölkerung als solche noch einzelne Zivilpersonen dürfen das Ziel von Angriffen sein (5 51 Abs. 2, 52 Abs. 1). Insbesondere Terrorangriffe, d. h. die Anwendung oder Androhung von Gewalt mit dem hauptsächlichen Ziel, Schrecken unter der Zivilbevölkerung zu verbreiten, sind verboten (5 51 Abs. 2 Satz 2).
503. Im Zweifel gilt eine Person als Zivilperson (5 50 Abs. 1 Satz 2). Die Zivilbevölkerung (5 50 Abs. 2) bleibt auch dann Zivilbevölkerung, wenn sich unter ihr einzelne Personen befinden, die nicht Zivilpersonen sind (5 50 Abs. 3).
504. Zivilpersonen, die nicht unmittelbar an Feindseligkeiten teilnehmen, sind zu schonen und zu schützen. Sie sind unter allen Umständen menschlich zu behandeln (5 75 Abs. 1) und haben Anspruch auf Achtung ihrer Person, Ehre, Familienrechte, Gewohnheiten und Gebräuche, religiösen Anschauungen und gottesdienstlichen Handlungen (4 27 Abs. 1; 16a 46 Abs. 1). Auch ihr Eigentum ist geschützt (16a 46 Abs. 2). Die Zivilbevölkerung als solche sowie einzelne Zivilpersonen dürfen nicht angegriffen werden, insbesondere dürfen sie weder getötet noch verwundet werden (5 51 Abs. 2; 6 13 Abs. 2).
505. Sofern die Zivilbevölkerung einer Konfliktpartei nicht ausreichend mit den unentbehrlichen Bedarfsgütern wie Lebensmitteln, Arzneimitteln und Kleidung versorgt ist, müssen Hilfsaktionen neutraler Staaten oder humanitärer Organisationen gestattet werden. Jeder Staat, insbesondere auch der Gegner, ist verpflichtet, solchen Hilfsaktionen freien Durchlass zu gewähren, allerdings nur unter Vorbehalt seines Kontrollrechts (4 23; 5 70). Die Konfliktparteien können in Bezug auf die geschützten Personen diejenigen Kontroll- und Sicherheitsmaßnahmen ergreifen, die sich infolge des Konflikts als notwendig erweisen (4 27 Abs. 4).
506. Frauen werden besonders geschont und geschützt. Jeder Angriff auf die Ehre der Frau, namentlich Vergewaltigung, Nötigung zur Prostitution und jede andere unzüchtige Handlung, ist verboten (4 27 Abs. 2; 5 76 Abs. 1).
507. Kinder werden besonders geschont und geschützt. Ihnen ist jede Pflege und Hilfe zu gewähren, die sie wegen ihrer Jugend oder aus einem anderen Grund benötigen (4 24; 5 77 Abs. 1).
508. Nehmen Kinder, die das 15. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, unmittelbar an Feindseligkeiten teil, und geraten sie in die Gewalt einer gegnerischen Partei, wird ihnen besonderer Schutz gewährt (5 77 Abs. 3; 6 4 Abs. 3).
509. Die Vertragsstaaten des Fakultativprotokolls zum VN-Kinderschutzübereinkommen vom 25. Mai 2000 anerkennen, dass alle Personen, die das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, Anspruch auf besonderen Schutz haben (40 3 Abs. 1).
510. Zivilpersonen dürfen von keiner Konfliktpartei als Schild benutzt werden, um Kampfhandlungen von gewissen Punkten oder Gebieten fernzuhalten (4 28; 5 51 Abs. 7). Die Konfliktparteien dürfen Bewegungen der Zivilpersonen nicht zu dem Zweck lenken, militärische Ziele vor Angriffen abzuschirmen oder Kriegshandlungen zu decken (4 28; 5 51 Abs. 7, siehe auch Abschnitt 4). Der Missbrauch von Zivilpersonen als Schutzschild ist völkerrechtswidrig und als Kriegsverbrechen strafbar (33 8 Abs. 2 Buchst. b xxiii; 35 11 Abs. 1 Nr. 4).
511. Verboten sind Strafen für Verhalten Dritter („Stellvertreterstrafen") und Kollektivstrafen;
ferner Maßnahmen zur Einschüchterung oder Terrorisierung (4 33 Abs. 1; 5 51 Abs. 2; 6 4 Abs. 2, 13 Abs. 2), Repressalien gegen die Zivilbevölkerung und ihr Eigentum (4 33 Abs. 3; 5 20, 51 Abs.
6), Plünderungen (4 33 Abs. 2; 16a 28, 47) und Geiselnahmen (4 34).
512. Angriffe auf militärische Ziele sind verboten, wenn mit Verlusten an Menschenleben unter der Zivilbevölkerung, der Verwundung von Zivilpersonen, Schäden an zivilen Objekten oder mehreren derartigen Folgen zusammen zu rechnen ist, die in keinem Verhältnis zum erwarteten konkreten und unmittelbaren militärischen Vorteil stehen, sog. Exzessverbot (5 51 Abs. 5 Buchst. b, siehe auch Nr. 404).
513. Bei einem Angriff auf ein militärisches Ziel sind alle praktisch möglichen Vorkehrungen zu treffen, um Verluste unter der Zivilbevölkerung, die Verwundung von Zivilpersonen und die Beschädigung ziviler Objekte, die dadurch mit verursacht werden können, zu vermeiden und in jedem Fall auf ein Mindestmaß zu beschränken (5 57 Abs. 2 Buchst a ii, siehe Abschnitt 4).
514. Streitkräfte dürfen aus völkerrechtlicher Sicht grundsätzlich zum Schutz ziviler Objekte eingesetzt werden. Nationale Regelungen hierüber bleiben unberührt. In einem internationalen bewaffneten Konflikt stellt allein ihre Anwesenheit auch einen Faktor der Gefährdung für das zu schützende Objekt dar, da die Soldatinnen und Soldaten mit Kombattantenstatus ein militärisches Ziel darstellen. Bei einem Einsatz von Soldatinnen bzw. Soldaten zum Schutz ziviler Objekte hat daher stets eine Abwägung der Vor- und Nachteile zu erfolgen.
515. Sanitäts- und Sicherheitszonen und -orte können im Wege gegenseitiger Vereinbarungen eingerichtet werden, um Verwundete, Kranke, Gebrechliche, Greise, Kinder unter 15 Jahren, schwangere Frauen und Mütter mit Kindern unter sieben Jahren vor den Folgen des Krieges zu schützen (4 14). Diese Zonen und Orte sind vom Kriegsgebiet ausgenommen und dürfen keinen militärischen Zweck erfüllen. Militärische Objekte dürfen nicht innerhalb oder in der Nähe von Sanitäts- und Sicherheitszonen und -orten eingerichtet werden. oder
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Abb. 6: Schutzzeichen Sanitäts- und Sicherheitszonen
516. Journalisten, die in dem Gebiet eines bewaffneten Konflikts gefährliche berufliche Aufträge ausführen, sind als Zivilpersonen geschützt, sofern sie nichts unternehmen, was ihren Status als Zivilperson beeinträchtigt (5 79 Abs. 1).
Sind Journalisten bei den Streitkräften als Kriegsberichterstatter akkreditiert, so bleibt ihr Anspruch auf den Status als Gefolge der Streitkräfte und als Kriegsgefangene (3 4 A Nr. 4) unberührt.
Journalisten können einen Ausweis erhalten, der ihren Status bestätigt (5 79 Abs. 3 und Anhang II).
Der Ausweis wird von der Regierung des Staates ausgestellt, dem der Journalist angehört, in dem er ansässig ist oder in dem sein Nachrichtenorgan ansässig ist.
517. Zivilpersonen können sich jederzeit an eine Schutzmacht, das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) oder an eine Hilfsgesellschaft mit einem Hilfeersuchen wenden (4 30 Abs. 1).
Die Vertreter der Schutzmacht und des IKRK sind berechtigt, geschützte Personen überall aufzusuchen (4 143).
Jede Konfliktpartei ist verpflichtet, nach Vermissten zu suchen (5 33) und über das Schicksal von Zivilpersonen, die sich in ihrer Gewalt befinden, ebenso Auskunft zu geben (4 136) wie über Kriegsgefangene (3 122), Verwundete, Kranke, Schiffbrüchige und Gefallene (1 16; 2 19). Zu diesem Zweck ist bei Ausbruch eines Konflikts und in allen Fällen einer Besetzung ein Amtliches Auskunfts-
büro einzurichten (3 122-124; 4 136-141), das mit dem Zentralen Suchdienst des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz zusammenarbeitet (3 123; 4 140). Das Deutsche Rote Kreuz (DRK) nimmt gemäß § 2 Absatz 1 Nr. 4 DRKG31 als freiwillige Hilfsgesellschaft die Aufgaben eines Amt- lichen Auskunftsbüros war (3 122; 4 136).
518. Zivilpersonen sind im Unterschied zu Kombattanten (Kombattantenprivileg, siehe Abschnitt 3) völkerrechtlich nicht zur Teilnahme an Feindseligkeiten berechtigt. Sie können sich daher durch die bloße Teilnahme an Feindseligkeiten strafbar machen.
Zivilpersonen verlieren ihren besonderen Schutz, sofern und solange sie unmittelbar an Feindseligkeiten teilnehmen (5 51 Abs. 3; 6 13 Abs. 3). Somit können Zivilpersonen, die konkrete Handlungen vornehmen, die eine unmittelbare Teilnahme an Feindseligkeiten darstellen (z. B.
Durchführung von Kampfhandlungen, Transport von Waffen und Munition an kämpfende Einheiten, Bedienung von Waffensystemen, Übermittlung von Zielangaben, die unmittelbar zur Bekämpfung eines militärischen Ziels führen usw.) während der Vornahme dieser Handlungen als militärisches Ziel bekämpft werden. Sie haben keinen Anspruch auf den Kriegsgefangenstatus. Sie sind in jedem Falle mit Menschlichkeit zu behandeln. Sie haben im Falle einer gerichtlichen Verfolgung Anspruch auf ein gerechtes und ordentliches Gerichtsverfahren (4 5 Abs. 1-3, 64 ff.; 5 75).
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