V. Ausklang 6. Verloren im Chiasmus - Politische Religion und religiöse Politik
Allen in dieser Studie betrachteten Verwendungsfeldern und Verständnisnuancen des Begriffs Politische Religion ist die Frage nach dem Verhältnis zwischen Politik und Religion in einer teils stärker, teils schwächer ausgeprägten und offensichtlichen Form immanent. Besonders hervorgehoben wird diese grundlegende Debatte in dem Chiasmus Politische Religion und religiöse Politik, welcher nicht erst seit dem 20. Jahrhundert Anwendung findet.[1] Bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts lassen sich Publikationen nachweisen, in denen die Verfassenden auf dieses begriffliche Wechselspiel zurückgegriffen haben. Dieser Abschnitt soll einen kurzen Blick auf diesen Chiasmus in Quellen des 19. Jahrhunderts wagen und eine kleine Auswahl des recherchierten Quellenmaterials vorstellen, um die zum Teil voneinander abweichende Semantik im deutschen Sprachraum aufzuzeigen.
Der deutsch-jüdische Philosoph und frühe Sozialist Moses Hess (1812-1875) wandte die Gegenüberstellung von religiöser Politik und Politischer Religion in seiner 1837 anonym veröffentlichten Schrift Die heilige Geschichte der Menschheit an, einer der ersten in Deutschland publizierten Schriften mit einem Forderungskatalog im Geist der frühen Sozialisten. Nach einer religionsphilosophisch orientierten Darstellung der Menschheitsgeschichte und einer kritischen Betrachtung der zeitgenössischen (gesellschafts-)politischen Situation der europäischen Völker skizziert er im letzten Abschnitt seiner heiligen Geschichte seinen Idealstaat, ein „heilige Reich", in dem die „Politik auf heilige, ewige Prinzipien gegründet" sei und „Regierende und Regierte, Eins geworden, [...] in ungetrübter Eintracht leben" würden, ein Reich, dessen „einziger Zweck [es] seyn [werde], die Humanität zu fördern."[2] Die Freiheit bestehe für den Menschen „nicht in seiner Willkür, sondern im bewußten Gehorsam vor dem göttlichen Gesetze"[3], das in der Einheit von Naturgesetzen und dem Willen Gottes liege. Am Ende seiner Schrift fasst Hess „alles Gesagte nochmal kurz" zusammen und beschreibt das Mittelalter als
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[1] Beispielsweise wurde dieser Chiasmus titelgebend für einen von Richard Faber herausgegebenen Sammelband verwendet: Richard Faber (Hg.): Politische Religion - religiöse Politik. Würzburg 1997.
[2] [Moses Hess]: Die heilige Geschichte der Menschheit. Von einem Jünger Spinoza's. Stuttgart 1837, S. 314f. Neben einer staatlichen Wohlfahrt fordert Hess unter anderem die Einführung einer Gesundheitsfürsorge und eine klassen- und geschlechtslose Gleichberechtigung aller Menschen: „Das Weib wird eben so gut, wie der Mann, einer humanen Bildung sich erfreuen. Und der Mann und das Weib werden sich vereinigen durch das Band der freien Liebe. Und die Erziehung der Jugend wird gleich, unmittelbar unter der Ansicht des Staates seyn" (ebd., S. 317 [Hervorhebungen im Original]).
[3] Ebd., S. 221f. [Hervorhebungen im Original].
„den Uebergang vom Knaben- zum Mannesalter der Menschheit. In dieser Zeit trennte sich die Religion, das geistige, männliche Prinzip von der Politik, dem räumlichen, weiblichen Prinzip. Denn wenn das alte Leben, die alte Einheit zu einer neuen, höhern übergehen sollte, so mußte sie sich spalten. Das alte Seyn mußte verwesen; es mußte sich die Kirche vom Staate trennen. In dieser großen Uebergangsperiode war an kein göttliches Gesetz, an keine religiöse Politik, an keine politische Religion zu denken; denn das Gesetz war im Werden."[1]
Hess propagiert in seiner Schrift die Wiederherstellung der durch den Laizismus des Christentums „im Ganzen gestörte[n] Einheit"[2] von Religion und Politik, um das Reich Gottes auf Erden entstehen lassen zu können. Denn in der harmonischen Einheit des männlichen und weiblichen Prinzips liege der Ursprung des göttlichen Gesetzes, einer Politischen Religion oder einer religiösen Politik. Das Verhältnis zwischen Politischer Religion und religiöser Politik wird in dem Abschnitt nicht eindeutig und die Begriffe können sowohl in einer synonymen als auch antonymen Beziehung zueinanderstehen; weitere Fundstellen fehlen zu beiden Begriffspaaren. Hingegen unverkennbar ist die positive Lesart beider Begriffe, die im Zuge der von Hess geforderten Aufhebung laizistischer Grundsätze und Befürwortung einer Vermischung und Einheitsbildung von Religion und Politik nicht überrascht.
Während Moses Hess nach der Einheit von Religion und Politik strebte, kritisiert der Verfasser des anonym veröffentlichten Beitrags Ein Wort über die Bauern-Vereine eben diese Verschmelzung von politischen und religiösen Bereichen, die in Konstrukten wie einer „religi- öse[n] Politik oder politische[n] Religion" münden würden, wie sie etwa in den patriotischen Bauernvereinen anzutreffen seien, die ab 1869 in Bayern im Zuge der aufkeimenden Patriotenbewegung entstanden:[3]
„Vor allem ist zu beklagen, daß Religion und Politik in diesen Vereinen so eklatant verknüpft sind, wie es sich ganz besonders bei den Versammlungen zeigt. Man treibt religiöse Politik oder politische Religion. Unter dem Schutzmantel der Religion das Volk Politik treiben lassen und politisch machen, ist stets nur Unsegen für die Religion gewesen."[4]
Die Kritik der verfassenden Person gilt insbesondere der ihrer Meinung nach vorherrschenden Indienstnahme von religiösen Institutionen und Personen durch die Bauernvereine zur Verwirklichung ihrer weltlich bzw. politisch orientierten Zwecke, indem beispielsweise Priester durch die passive Anwesenheit oder gar aktive Teilnahme „als Feldprediger" an Versammlungen „mit ihrer Persönlichkeit Priesterthum und Politik verbinden"[5] und damit das Aufblühen von Politischer Religion oder religiöser Politik begünstigen oder gar fördern.
Die Beziehung der Gegenpaare dieses Chiasmus kann auch in diesem Textbeispiel nicht zweifelsfrei herausgearbeitet werden. Die Konjunktion „oder" zwischen dem Begriffspaar könnte sowohl auf semantische Unterschiede als auch auf eine bestehende Synonymie zwischen
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[1] Ebd., S. 334 [Hervorhebung im Original].
[2] Ebd., S. 338 [Hervorhebung im Original].
[3] Auf dem Fundament katholisch-konservativer Strömungen und dem gemeinsamen Kampf für eine großdeutsche Lösung entstand 1869 die Patriotische Fraktion (später: Bayerische Patriotenpartei), die sogleich einen großen Erfolg in der politischen Landschaft Bayerns verbuchen konnte. Als organisatorischer Unterbau dienten der Patriotenpartei neben christlichen Vereinigungen die christlichen Bauernverbände, die oft aus bereits lose bestehenden Verbindungen und in erster Linie zur Sammlung und Mobilisierung von Wählern gegründet wurden; siehe hierzu Oliver Braun: Art. Bauernvereine, in: Historisches Lexikon Bayerns. Online: http://www.historisches-lexikon-bayerns.de/Lexikon/Bauernvereine [letzter Zugriff: 10.01.2023].
[4] [Anon.]: Ein Wort über die Bauern-Vereine. Passau 1872, S. 8.
[5] Ebd., S. 9.
Politischer Religion und religiöser Politik hinweisen. Das textliche Umfeld in die Analyse einbeziehend ist hingegen der konnotative Gegensatz zu der von Hess verwendeten positiven Deutung des Begriffs Politische Religion kaum zu übersehen.
Eine gänzlich gegenteilige Ansicht zum Komplex der Politischen Religionen und religiösen Politiken wurde 1872 im Passauer Tageblatt im anonym veröffentlichten Beitrag zum Thema Politische Agitation vertreten. In seiner Grundannahme geht der Verfasser von einer unüberwindbaren Gegensätzlichkeit von Religion und Politik aus. Mit Bezug auf Friedrich den Großen wird Politik als „die Sucht Andere zu betrügen!" definiert, wohingegen die Religion „die Verbindung des Menschen mit Gott" sei und „den Menschen zur Wahrheit und zur Liebesgemeinschaft" führe. Daraus könne gefolgert werden:
„Religion und Politik vertragen sich nicht miteinander, es gibt in Wirklichkeit keine religiöse Politik oder politische Religion. In dem Maße Politik schwindet, blüht nun empor die Religion. Ein wahrhaft religiöses Volk ist nicht politisch, dagegen aber auch ein politisches Volk nicht wirklich religiös."[1]
Auch wenn sich ein politisches Volk mit Eifer bemühe, die Liturgie und Zeremonien seiner Religion zu pflegen, sei „die Religion bei einem politischen Volke [...] längst verdunstet" und habe innerlich nicht mehr als den Hauch einer Erinnerung hinterlassen, so dass die „äußerlich umgehängten Fetzen von Religion nur religiöse Maskeraden"[2] seien. Die Existenz einer Politischen Religion oder religiösen Politik, die semantisch als eine irgendwie geartete, in sich harmonisierende Vermischung von Religion und Politik erfasst zu sein scheint, wird in diesem Beitrag vollständig negiert. Auf der Grundlage der zuvor geleisteten, sehr anspruchslosen und oberflächlichen Definition von Religion und Politik, die im Prinzip auf das Antonymenpaar Wahrheit und Lüge und damit auf zwei sich gegenseitig ausschließende Ebenen reduziert ist, versucht der Verfasser eine logische Argumentation aufzubauen, die die Möglichkeit der Entstehung und Existenz von Politischen Religionen negiert. Auch in diesem Quellenbeispiel ist die Frage, ob und inwiefern der Begriff Politische Religion mit dem Begriff religiösen Politik gleichgesetzt wird, schwer zu beantworten, weil den Begriffen kein weiterer Raum im Text gewährt wird - eine logische Konsequenz aus der Verneinung Politischer Religionen.
Auch in Texten des 20. und 21. Jahrhunderts findet sich die Gegenüberstellung von Politischer Religion und religiöser Politik, wobei es in den überwiegenden Fällen um Einzelnennungen in Buchtiteln oder Kapitelüberschriften handelt, ohne dass die Autorenschaft die wechselseitige Beziehung dieser Begriffe näher untersuchen oder für ein besseres Verständnis defi- nieren.[3] 1931 veröffentlichte der deutschreligiöse Publizist Georg Groh (Lebensdaten unbekannt) in der jugendbewegten Zeitschrift Die Kommenden den Beitrag Politische Religion - religiöse Politik, worin er sich mit der Frage der Trennung von Politik und Religion auseinandersetzt und als Vertreter deutschreligiöser Glaubenskonzepte offensiv gegen das Christentum und
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[1] [Anon.]: Politische Agitation. Teil IV, in: Passauer Tageblatt, Nr. 345, 25.12.1872, unpag. [S. 1]. Siehe hierzu auch die Anm. 708.
[2] [Anon.]: Politische Agitation, unpag. [S. 1].
[3] Vgl. hierzu bspw. das Kapitel Politische Religion oder religiöse Politik in der Monographie von Jens Kegel, in dem sich der Autor in einer einseitigen Auseinandersetzung mit dem Begriff Politische Religion verliert, ohne den Begriff religiöse Politik miteinzubeziehen oder zumindest im Text zu verwenden (Jens Kegel: „Wollte ihr den totalen Krieg?" Eine semiotische und linguistische Gesamtanalyse der Rede Goebbels' im Berliner Sportpalast am 18. Februar 1943 [= Reihe Germanische Linguistik, 270]. Tübingen 2006); ein weiteres Beispiel liefert der oben bereits erwähnte Sammelband von Richard Faber mit dem Titel Politische Religion - religiöse Politik, in dem sich kein Beitrag dezidiert mit den Begriffen auseinandersetzt.
die christliche Kirche polemisiert. In einer relativ vage gehaltenen Annäherung an eine Definition umschreibt Groh den Begriff „Politische Religion oder gar politisierende Religion" als einen „Unsegen [.] von Männern hervorgerufen [.], die die Religion zum Deckmantel ihrer politischen Pläne herabwürdigten."[1] Unter dem Begriff Politische Religion begreift Groh folglich eine Instrumentalisierung von Religion für weltliche bzw. politische Zwecke. Diesem negativ konnotierten Begriffsverständnis stellt er den Ausdruck religiöse Politik in einer wertfreien oder sogar positiven Lesart gegenüber, indem er eine grundsätzliche Trennung der Bereiche Politik und Religion negiert bzw. sogar als schädlich für ein Volk bewertet. So könne der Mensch „Politik im allein echten Sinne" nur mithilfe der „Kräfte Gottes" betreiben, demzufolge „es zwar keine politische Religion, aber religiöse Politik, ja [...] keine andere Politik, als religiöse"[2] gebe. Diese Argumentation folgt einer grundlegenden Forderung der völkischreligiösen Bewegung nach einer arteigenen Religion, die als zwingende Handlungsgrundlage alle Bereiche des gesellschaftlichen und individuellen Lebens durchdringt, so auch die politische Handlungsebene.
Demgegenüber subsumiert der deutsche Soziologe Julius Kraft (1898-1960) 36 Jahre später Politische Religion und religiöse Politik unter dem Begriff „politische[r] Religionis- mus", unterscheidet aber gleichfalls beide Phänomene voneinander, indem er die religiöse Politik als „politischen Religionismus einer transzendenten Religion" und die Politische Religion als „politischen Religionismus einer Naturreligion"[3] definiert.
Ein Spannungsverhältnis tritt zwischen den Begriffspaaren nur soweit zu Tage, wie die so definierten Phänomene von der Leserschaft als gegensätzlich wahrgenommen werden. Das Wechselspiel zwischen Synonymie und Antonymie bleibt diesem Chiasmus somit auch in der neueren Literatur erhalten. Insgesamt führt diese Gegenüberstellung von Politische Religion und religiöse Politik nicht dazu, dass der Begriff Politische Religion für die Lesenden semantisch und definitorisch greifbarer wird. So entpuppt sich bereits die Frage nach dem Verhältnis beider Begriffe zueinander eher als Hindernis im Versuch einer Annäherung an das Begriffsverständnis.
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[1] Georg Groh: Politische Religion - religiöse Politik, in: Die Kommenden. Überbündische Wochenschrift der deutschen Jugend. 6. Jg., Nr. 26, 28.06.1931, S. 305f., hier S. 305.
[2] Ebd., S. 306.
[3] Julius Kraft: Philosophie als Wissenschaft und als Weltanschauung. Untersuchungen zu den Grundlagen von Philosophie und Soziologie. Hrsg. von Albert Menne. Hamburg 1977, S. 234: „So gibt es politischen Religi- onismus einer transzendenten Religion oder ,religiöse Politik' und politischen Religionismus einer Naturreligion oder ,politische' Religion."
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