6.1.2. Politische Religion in negativer Konnotation
Die Recherchen zu dieser Arbeit brachten nur vereinzelte Quellenbelege für eine positiv konnotierte Verwendung des Begriffs Politische Religion im Zusammenhang mit der Französischen Revolution zum Vorschein. Wie die Quantität der folgenden Quellenfunde unterstreichen wird, überwog die negative oder pejorative Lesart des Begriffs Politische Religion in zeitgenössischen Veröffentlichungen, wobei in einigen Quellenbeispielen eine Abwertung nicht sofort ins Auge sticht. Diese konnotativ recht ambivalente Verwendung des Begriffs Politische Religion bzw. religion politique ist nicht nur in diversen Veröffentlichungen aus dem französischen Sprachraum zu beobachten, sondern setzt sich translingual außerhalb französischsprachiger Beiträge fort.
Der Politiker und Vordenker des Laizismus in Frankreich, Jean Antoine Nicolas de Cari- tat Marquis de Condorcet (1743-1794), wandte den Begriff in seinem bildungswissenschaftlichen Beitrag Cinq memoires sur l'instructionpublique (1791) an, den er als Diskussionsgrundlage der Commission des affaires culturelles et de l'education innerhalb der Nationalversammlung vorlegte. Condorcet, welcher im Februar 1792 zum Präsidenten der Gesetzgebenden Nationalversammlung ernannt wurde, war zum Zeitpunkt der Veröffentlichung ein Vertreter der Französischen Revolution. In seinem politischen Wirken besonders an bildungs- und erziehungswissenschaftlichen Fragen und Reformansätzen interessiert propagierte Condorcet in seinen Schriften zur Bildung und Erziehung der Bürgerinnen und Bürger eine im öffentlichen Raum vorherrschende Geltungsmachung der Vernunft als konstitutives Element einer aufgeklärten Bürgergesellschaft. Condorcet zielte auf die Etablierung einer ausschließlich durch die Fähigkeit zur ratio bestimmten politischen Gemeinschaft und der freiwilligen Unterwerfung des Individuums unter den öffentlichen, einheitlichen Gemeinschaftswillen.
In seinem Beitrag Cinq memoires thematisiert Condorcet auch die Gefahren und Grenzen in der Erziehung der Menschen und warnt vor ihrer Heranbildung auf einer die Vernunft einschränkenden Ebene blinden Gehorsams. Diesen Anspruch erläutert Condorcet anhand der Frage, ob die Lehre über die Verfassung Teil des nationalen Unterrichts werden solle. Obgleich er für eine Einführung dieses Unterrichtsthemas plädiert, warnt er vor einer sich der Verfassung des Staates unterwerfenden Erziehung der Bevölkerung. Die Verfassung selbst sei nicht als eine Konstante zu begreifen, sondern als eine Lehre in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der universellen Vernunft zu vermitteln, die korrigiert und weiterentwickelt werden könne:
„si on leur dit: Voila ce que vous devez adorer et croire, alors c'est une espece de religion politique que l'on veut creer; c'est une chaine que l'on prepare aux esprits, et on viole la liberte dans ses droits les plus sacres, sous pretexte d'apprendre a la cherir."[1]
Mit der Forderung nach einer unkritischen, blinden Unterwerfung oder gar Erhebung der Verfassung zu einer gottgleichen, unveränderlichen Lehre werde eine Art religion politique geschaffen, eine Fessel für den Geist und die Freiheit. In der Erziehung des Menschen gehe es nicht um eine Unterwerfung jeder Generation unter den Willen und die Meinungen vorhergehender Generationen, sondern um die Ausbildung der individuellen Mündigkeit und des Gebrauchs der eigenen Vernunft. Trotz seines leidenschaftlichen Einsatzes für die Französische Revolution spricht er gleichgesinnten Personen seiner Epoche eine politische Unfehlbarkeit ab und erkennt die neue Verfassung Frankreichs nicht als vollkommenes Werk an, das für alle Zeiten und Orte seine Geltung entfalten könne und damit keiner Justierungen oder Weiterentwicklungen mehr bedürfe. In seiner Warnung zieht Condorcet England als politikpädagogisches Negativbeispiel der Entwicklung zu einer Art religion politique heran, deren Kausalität in einem „respect superstitieux pour la constitution" oder der Anbetung bestimmter Gesetze liege, die dem nationalen Wohl und Interesse dienen sollen.[2] Der blinde Gehorsam und die Unterwerfung gegenüber einer Verfassung oder anderen nationalen Gesetzen führe zu einer Divinisierung diesseitiger, staatspolitischer Wirklichkeiten, einer religion politique, und münde letztendlich in einer Unterjochung menschlicher und freiheitlicher Grundwerte unter diesem Konstrukt. Entsprechend warnt er vor einer Erhöhung gesetzlicher oder verfassungsrechtlicher Grundsätze
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[1] Nikolas de Condorcet: Cinq memoires sur l'instruction publique [1791], in: A. Condorcet o'Connor: Oeuvres
de Condorcet, Bd. 7, Paris 1847, S. 212: „Mais si on entend qu'il faut l'enseigner comme une doctrine con- forme aux principes de la raison universelle, ou exciter en sa faveur un aveugle enthousiasme qui rende les citoyens incapables de la juger; si on leur dit: Voila ce que vous devez adorer et croire, alors c'est une espece de religion politique que l'on veut creer; c'est une chaine que l'on prepare aux esprits, et on viole la liberte dans ses droits les plus sacres, sous pretexte d'apprendre a la cherir. Le but de l'instruction n'est pas de faire admirer aux hommes une legislation toute faite, mais de les rendre capables de l'apprecier et de la corriger." Vgl. hierzu Burrin: Political Religion, S. 321f.; zur Erziehung bei Condorcet siehe bspw. Karl-Heinz Dram- mer: Condorcet. Über einen Klassiker der Pädagogik und die Gründe für seine Unvergänglichkeit, in: Pädagogische Korrespondenz 17 (1996), S. 36-51.
[2] Condorcet: Cinq memoires, S. 214: „Que l'exemple de l'Angleterre devienne done une lecon pour les autres peuples: un respect superstitieux pour la constitution ou pour certaines lois auxquelles on s'est avise d'at- tribuer la prosperite nationale, un culte servile pour quelques maximes consacrees par l'interet des classes riches et puissantes y font partie de l'education, y sont maintenus pour tous ceux qui aspirent a la fortune ou au pouvoir, y sont devenus une sorte de religion politique qui rend presque impossible tout proges vers le perfectionnement de la constitution et des lois."
zu einem unveränderlichen, nicht zu kritisierenden Diktum, einer absoluten, gottgleichen Lehre. Condorcet nutzt den Begriff religion politique in einer dem so bezeichneten Objekt gegenüber abwertenden Manier.
Auch in deutschsprachigen Publikationen kann die Verwendung einer polemischen Lesart des Begriffs Politische Religion beobachten werden: Ab dem 17. August 1792 wurde in der von dem deutschen Publizisten Johann Gottfried Groß (1703-1768) gegründeten Erlanger Real-Zeitung in mehreren Teilen ein Manifest gegen die Französische Revolution abge- druckt,[1] als dessen Urheber der Herausgeber den französischen Grafen und ehemaligen Intendanten des Herzogs von Orleans, Jerome-Joseph Geoffroy de Limon (1746-1799), vermu- tete.[2] Limon floh 1791 vor den Wirren der Französischen Revolution und lieferte aus seinem Exil den Entwurf für das Manifeste de Brunswick,[3] ein am 25. Juli 1792 an das französische Volk gerichteter Aufruf des Herzogs zu Braunschweig und Lüneburg, Karl Wilhelm Ferdinand von Braunschweig-Wolfsbüttel (1735-1806), die Unruhen zu beenden und sich wieder dem französischen König Ludwig XVI. zu unterwerfen.
Das Manifest gegen die Französische Revolution erschien im gleichen Zeitraum wie das Manifeste de Brunswick, ist aber mit diesem nicht identisch und von diesem im Umfang sowie der Intention zu unterscheiden. Während das Manifeste de Brunswick ein öffentlicher Aufruf ist, mit einer Gewaltandrohung abschließend für den Fall der Nichtbefolgung der Aufforderung an die französische bzw. im Speziellen die Pariser Bevölkerung, die Waffen niederzulegen und die königliche Familie aus der Gefangenschaft zu befreien, um die Wiederherstellung des status quo ante zu ermöglichen, stellt das Manifest gegen die Französische Revolution (im Folgenden kurz Manifest) eine Hommage an die französische Monarchie in Person Ludwigs XVI. dar sowie eine Rechtfertigung für die befürwortende Haltung hinsichtlich einer Rückkehr zum vorrevolutionären Zustand des französischen Staatswesens. Bezugnehmend auf den römisch-deutschen Kaiser Leopold II. und den preußischen König Friedrich Wilhelm II. wolle der Verfasser des Manifests „der gegenwärtigen Generation und der Nachwelt Ihre Beweggründe, Ihre Gesinnungen und die Uneigennützigkeit Ihrer persönlichen Absichten"[4] darlegen und mit Argumenten überzeugen, statt mit Waffengewalt die Pariser Bevölkerung zur Aufgabe zu bewegen.
Im Manifest beklagt der Verfasser, dass mit der Erklärung der Menschen- und Bürger- rechte[5] durch die 1789 etablierte Nationalversammlung neben dem gesamten monarchischen
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[1] [Anon.]: Manifest gegen die Französische Revolution, in: Erlanger Real-Zeitung, Nr. 64, 17.8.1792, S. 589f. Die deutsche Übersetzung des Manifests gegen die Französische Revolution wurde nicht in Gänze abgedruckt; der am 18.9.1792 veröffentlichte vierte Teil der Serie verweist zwar auf eine folgende Fortsetzung, doch konnte eine solche in den darauffolgenden Ausgaben nicht ermittelt werden.
[2] [Anon.]: Fortsetzung des Manifestes gegen die Französische Revolution, in: Erlanger Real-Zeitung, Nr. 73, 18.9.1792, S. 685-687, hier S. 685. Das Historisch-Politischen Magazin, in dem das Manifest in der Septemberausgabe des Jahres 1792 abgedruckt wurde, verweist ebenfalls auf Limon als Verfasser ([anon.]: Manifest gegen die französische Revolution, in: historisch-politisches Magazin 6.12 [1792], S. 269-306, hier S. 269). Eine 1792 in Wien bei Anton Gaßler gedruckte deutsche Übersetzung des Manifests gibt als Verfasser lediglich „einen ausgewanderten Franzosen" an. Diese Übersetzungsausgabe ist allerdings nicht identisch mit dem Abdruck in der Erlanger Real-Zeitung.
[3] Eine deutsche Übersetzung des Manifeste de Brunswick wurde unter dem Titel Erklärung des Berliner Hofes über seine Theilnahme an dem Krieg gegen Frankreich abgedruckt (Erlanger Real-Zeitung, Nr. 59, 31.7.1792, unpag.).
[4] [Anon.]: Manifest, S. 589.
[5] Eine Übersicht zur Geschichte der Menschenrechte mit einer ausführlichen Darstellung verschiedentlicher Rezeptionen siehe Eike Wolgast: Die Geschichte der Menschen- und Bürgerrechte, Stuttgart 2009.
Staatswesen und „politischen Korps [...] auch [bald] die Religion"[1] im Schein einer postulierten Religionsfreiheit den revolutionären Mächten unterlegen habe.
„So machte eine gottlose Sekte, indem sie mit dem Himmel selbst stritt, alle Religionen, unter dem Vorwand, sie zu dulden, verächtlich; sie erlaubte alle Gottesverehrungen, indem sie dieselbe zu stören, und alle zu beleidigen erlaubte. Sie sezte an ihre Stelle eine politische Religion, ohne Trost für die Unglücklichen, ohne Moral für die, die es nicht sind, und ohne Zaum für das Las- ter."[2]
Anstelle der tradierten Religion werde ein trost- und gottloses Konstrukt als vermeintlicher Ersatz geschaffen, der den Menschen nicht die moralische Sicherheit und Kraft gebe, wie eine als genuin erachtete Religion. Der im französischen Original vom Verfasser des Manifests verwendete Begriff „irreligion politique"[3], der sich in der Erlanger Real-Zeitung als „politische Religion" wiederfindet, wurde in den einzelnen deutschen Fassungen unterschiedlich übersetzt.[4] Während die negative Konnotation im französischen Ausdruck irreligionpolitique semantisch bereits durch das Präfix ir- verankert ist, wird in der deutschen Übersetzung die negative Lesart des Begriffs Politische Religion erst durch dessen Kontextualisierung deutlich. Zwar handelt es sich in dieser Übersetzung mit dem Begriff Politische Religion um eine leicht abgewandelte Version des Originals, dennoch bleibt der mit dem Begriff verknüpfte Verwendungskontext und die zu vermittelnde Verwendungsintention in ihrer negativen Konnotation von der Abweichung unberührt.
Vom Verfasser des Manifests wird nicht die Idee einer Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte und der eingeführten Grundsätze von Freiheit und Gleichheit an sich verurteilt, sondern ihre Umsetzung durch die Mitglieder der „konstituirende[n] Nationalversammlung"[5], die jene postulierten Grundsätze als „die gröbsten Blendwerke" zur Verführung der französischen Bevölkerung nutzen würden, um die „Herrschsucht der usurpirenden Versammlung"[6] zu bedienen. Der Ausdruck irreligionpolitique oder - wie in der hier zitierten deutschen Übersetzungsfassung verwendet - Politische Religion markiert und kritisiert die mit der am 26. August 1789 durch die Nationalversammlung eingeführten Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte postulierte Religionsfreiheit, womit die Abschaffung des Katholizismus als Staatsreligion und ein Prozess der Entchristianisierung eingeleitet worden sei.[7] Denn die auch für den
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[1] [Anon.]: Fortsetzung des Manifestes, S. 686: „Die Parlamente, die souverainen Höfe, die Stände der Provinzen, alle politischen Korps, welche beinahe eben so alt, als die Monarchie waren, welche sie wechselweise unterstüzten und mässigten, und dem Monarchen die Treue des Volks verbürgten, wurden unter den Trümmern des Throns vergraben. Bald unterlag auch die Religion."
[2] Ebd., S. 686.
[3] [Anon.]: Manifeste contre la revolution francoise, [o. O.] 1792, S. 6: „Elle leur substitua une irreligion poli
tique sans consolation pour les infortunes, sans morale pour ceux qui ne sont pas, et sans frein pour le crime."
[4] Eine dem Originalwortlaut irreligion politique exaktere Übersetzung mit „politische Irreligion" weist der Text im zwölften Band des historisch-politischen Magazins aus dem Jahrgang 1792 auf ([Anon.]: Manifest gegen die französische Revolution, S. 277); wohingegen in einer anderen deutschen Übersetzung die Wendung „politische Freygeisterey" verwendet wurde ([Anon.]: Manifest aller Völker gegen die Französische Revolution von einem ausgewanderten Franzosen, Wien 1792, S. 26). Eine englische Übersetzung mit dem Ausdruck „political irreligion" findet sich im Annual Register für das Jahr 1792, in dem als Tag der Veröffentlichung des Manifests der 4. August 1792 angegeben ist ([Anon.]: Manifesto issued by their Majesties the Emperor of Germany and the King of Prussia, against the French Revolution, in: Annual Register, or a View of the History, Politics, and Literature for the Year 1792, London 1799, S. 236-253, hier S. 239.
[5] [Anon.]: Fortsetzung des Manifestes, S. 685.
[6] Ebd., S. 686.
[7] Zur Kirche während der Französischen Revolution siehe Hans Maier: Revolution und Kirche. Zur Frühgeschichte der christlichen Demokratie. Freiburg im Breisgau 51988; Nigel Aston: Religion and Revolution in France, 1780-1804. Washington 2000.
religiösen Bereich gültigen Grundsätze von Freiheit und Gleichheit im Verständnis der Nationalversammlung seien ins Gegenteil verkehrt: Statt den Glauben zu befreien, wurde dieser in die von der Nationalversammlung vorgegebenen Bahnen gelenkt, bestehende administrative und herrschaftliche Strukturen zerstört und mit der Etablierung einer Nationalkirche sowie eines Kults des l'Etre supreme[1] begonnen. Die im Manifest beschriebenen Angriffe auf die katholische Religion in Frankreich betrafen vorrangig deren Institutionen sowie ihre geistlichen Würdenträger und lösten die kirchlichen Standesprivilegien sowie das Bündnis zwischen Kirche und Staat bzw. dem französischen König weitgehend auf. Bis zur Veröffentlichung des Manifests im Sommer 1792 verlor die Kirche durch die revolutionären Reformbestrebungen und die Beseitigung der kirchlichen Standesprivilegien einen Großteil ihrer materiellen und politischen Machtpositionen sowie ihr weltanschauliches Monopol: Zum Beispiel wurden Einkünfte wie etwa der Kirchenzehnt abgeschafft, Kirchengüter verstaatlicht und Geistliche gezwungen, einen Eid auf die Nation zu schwören. Eidverweigerer wurden per Dekret vor die Wahl gestellt, Frankreich zu verlassen oder in Gefangenschaft genommen zu werden.[2] Mit den Schreiben des Papstes vom 10. und 13. April 1791, in denen er die Französische Revolution verurteilt und die vereidigten Priester zum Widerruf ihres geleisteten Eides auffordert, da er sie andernfalls mit dem Kirchenbann belegen werde, reagierte Pius VI. auf den voranschreitenden Aufbau einer vom Heiligen Stuhl getrennten eigenen Nationalkirche in Frankreich. Seinen Höhepunkt erreichte dieser Entchristianisierungsprozess erst nach Veröffentlichung des Manifests während der jakobinischen Phase der Revolutionsjahre. Dieser Akt der „Laizisierung" des Religiösen wird in Teilen der heutigen Forschung zur Französischen Revolution als ausschlaggebend für „eine gewisse Sakralisierung der Politik"[3] bewertet, in dem die politischen Kräfte Frankreichs mit dem Wieder- und Neuaufbau der Gesellschaft betraut wurden. Diese negativ konnotierte Verwendung des Begriffs Politische Religion als Kritik gegen eine die katholische
Staatsreligion ablösende politische Staatsideologie mit Grundsätzen wie Freiheit und Gleichheit findet sich in zahlreichen weiteren Veröffentlichungen Ende des 18. Jahrhunderts.
Das in Forschungsbeiträgen zu frühen Verwendungen des Begriffs Politische Religion wohl bekannteste Quellenbeispiel innerhalb dieses Begriffsbestimmungsfeldes im 18. Jahrhundert lieferte der aus einer evangelischen Pfarrersfamilie stammende Schriftsteller und Publizist Christoph Martin Wieland (1733-1813),[4] der den Terminus im Kontext der Französischen
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[1] Dieser Kult des Höchsten Wesens wurde in der Präambel zur Declaration des Droits de l'Homme et du Ci- toyen von 1789 verankert, in der die Nationalversammlung im abschließenden Satz die darauffolgenden Menschen- und Bürgerrechte „en presence et sous les auspices de l'Etre supreme" anerkennt und erklärt: „En consequence, l'Assemblee nationale reconnait et declare, en presence et sous les auspices de l'Etre supreme, les droits suivants de l'homme et du citoyen."
[2] Siehe hierzu [Anon.]: Decret der National-Versammlung über die unbeeydigten Priester, in: historisch-politisches Magazin 12.3 (1792), S. 306-308.
[3] Vgl. etwa Jean-Paul Willaime: Frankreich. Laizität und Privatisierung der Religion - gesellschaftliche Befriedung oder agnostische Gegenkultur?, in: Gerhard Besier, Hermann Lübbe (Hg.): Politische Religion und Religionspolitik. Zwischen Totalitarismus und Bürgerfreiheit. Göttingen 2005, S. 343-358, hier S. 346.
[4] Die betreffenden Schriften wurden in den wenigen Studien zu frühen Verwendungen des Begriffs Politische Religion bereits zitiert. Siehe hierzu Burrin: Political Religion, S. 322; Seitschek: Frühe Verwendungen, S. 116-120; Burleigh: Irdische Mächte, S. 42f., 128; Ustorf: Robinson Crusoe, S. 147f. Wielands Schriften fanden samt Erwähnung des Begriffs Politische Religion nicht erst in der aktuellen Forschungsliteratur Beachtung, sondern wurden bereits in Texten des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts im Zusammenhang mit Fragestellungen zur Französischen Revolution zitiert, vgl. hierzu bspw. Julian Schmidt: Geschichte der deutschen Literatur seit Lessing's Tod. Erster Band: Das classische Zeitalter 1781-1797. Fünfte, durchweg umgearbeitete und vermehrte Auflage. Leipzig 1866, S. 377; Paul Gerber: Die Revolution und unsere Klassiker. Ein blaues Trutz- und Trostbüchlein in roter Zeit. Berlin 1920, S. 26; Alexander Gurwitsch: Das Revolutionsproblem in der deutschen staatswissenschaftlichen Literatur, insbesondere des 19. Jahrhunderts. Berlin 1935, S. 25.
Revolution im Januar 1793[1] in seinen Betrachtungen über die gegenwärtige Lage des Vaterlandes einbaute. Hatte der Aufklärer Wieland die Erhebung des französischen Volkes als Schritt zu einem aufgeklärten Staatswesen zunächst begrüßt, schlug seine anfängliche Begeisterung mit der voranschreitenden Etablierung der jakobinischen Terrorherrschaft in eine ablehnende Haltung gegenüber den Jakobinern und den Revolutionsheeren um, die „eine Art von neuer politischer Religion"[2] verkünden und „keine anderen Gottheiten als Freiheit und Gleichheit" anerkennen würden:
"Wer nicht mit ihnen ist, ist wider sie. Wer ihren Begriff von Freiheit und Gleichheit nicht für den einzigen wahren erkennt, ist ein Feind des menschlichen Geschlechts, oder ein verächtlicher Knecht, der von den engbrüstigen Vorurtheilen der alten politischen Abgötterei zusammengedrückt, seine Kniee vor selbstgemachten Götzen beugt, und freiwillig Fesseln trägt, die er, sobald er nur wollte, wie versengte Zwirnfäden von sich schütteln könnte. [...] Sie sind ausgezogen, alle Thronen, die sie in ihrem Wege finden, umzustürzen, und sich (wie sie sagen) das unendliche Verdienst um das menschliche Geschlecht zu machen, es von seinen Unterdrückern zu befreien. Denn außer der neuen Französischen Demokratie gibt es, ihrer Vorstellungsart nach, nichts als Tyrannen und Sklaven."[3]
Seine ablehnende Beurteilung der Politischen Religion der französischen Revolutionierenden und des „antimonarchischen und independentischen Jakobinerglaubens"[4] untermauert Wieland in seiner Antwort auf eine Zuschrift aus dem Kreis seiner Leserschaft des Teutschen Merkurs mit dem Gelöbnis für einen lebenslangen Kampf gegen eine „Realisirung der neuen politischen Religion der Westfränkischen Demagogen."[5] Als Verfechter einer liberalen, aufgeklärten und laizistischen Staatsform fordert er die Freiheit der Religion, da er den eigenen Glauben als eine reine Privatangelegenheit betrachtet und die Entscheidungsmacht über religiöse Belange allein dem einzelnen Individuum zuerkennt, folglich ein staatliches Eingreifen in den privaten Glauben und damit eine Verbindung von Religion und Politik ausnahmslos ablehnt.
Wieland beschreibt mit dem Begriff Politische Religion - ähnlich wie Condorcet und der Verfasser des Manifests - den Vorgang einer Sakralisierung und Divinisierung diesseitiger Werte und ihre Erhebung zum Bestimmungsgrund von Religion, also einer durch Verabsolutierung weltlicher (Teil-)Inhalte zur Religion erklärten politischen Idee oder Weltanschauung, deren Absolutheitsanspruch in einem Freund-Feind-Denken gipfelt: Wer nicht für uns ist, ist gegen uns. Die Kritik zielt gleichfalls auf die politische Ästhetik der jakobinischen Herrschaft, die sich
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[1] Aus dem Kontext kann erschlossen werden, dass Wieland den Text noch vor der Hinrichtung Ludwigs XVI. am 21. Januar 1793 verfasste.
[2] Christoph Martin Wieland: Betrachtungen über die gegenwärtige Lage des Vaterlandes. Geschrieben im Januar 1793, in: C. M. Wielands sämmtliche Werke. Bd. 31. Leipzig 1857, S. 208-244, Zitat S. 232.
[3] Ebd., S. 233.
[4] Ebd., S. 235.
[5] Christoph Martin Wieland: Schreiben an den Herausgeber des T.M. nebst der Antwort, in: Der neue Teutsche
Merkur (1793), Nr. 1, S. 85-99, hier S. 89: „Ich werde (so lange meine mit sechzig Jahren nicht mehr zunehmenden Kräfte noch reichen) nur mit dem Daseyn aufhören, meinen seit mehr als fünfunddreißig Jahren öffentlich dargelegten Grundsätzen und Gesinnungen getreu, als Schriftsteller zu Beförderung alles dessen mitzuwirken, was ich für das allgemeine Beste der Menschheit halte; und eben darum werde ich, so lange es nöthig seyn wird, allen unächten, verworrnen und schwindlichten Begriffen von Freiheit und Gleichheit, allen auf Anarchie, Aufruhr, gewaltsamen Umsturz der bürgerlichen Ordnung, und Realisirung der neuen politischen Religion der Westfränkischen Demagogen, abzweckenden, oder auch (vielleicht wider die Absicht wohlmeinender sogenannter Demokraten) dazu führenden Maximen, Raisonnements, Declamationen und Associationen, aus allen Kräften entgegen arbeiten; nicht zweifelnd, daß ich hierin jeden ächten deutschen Patrioten, Volksfreund und Weltbürger auf meiner Seite habe und behalten werde."
liturgischer Versatzstücke zur Formung neuer Traditionen bediente. Die Außenwirkung dieser religiösen Komponente der neuen, sakralisierten politischen Idee Frankreichs, ihre politische Ästhetik, drückte sich beispielsweise in der Etablierung des Französischen Revolutionskalenders am 22. September 1792 aus, womit der Bruch und die Entthronung der bislang vorherrschenden Staatsreligion, dem französischen Katholizismus, aus dem politischen Wirkungskreis im alltäglichen Raum offengelegt wurde.
Wielands Umschreibung des Begriffs Politische Religion als säkulares und anderen Religionen gegenüber intolerantes gesellschaftliches Glaubens- und Wertesystem, als religiöse Komponente einer neuen politischen Idee kommt dem heutigen Begriffsverständnis im Verwendungskontext von totalitären Herrschaftssystemen des 20. Jahrhunderts sehr nahe.[1] Im Abschluss der Betrachtungen soll die Freundschaft Wielands zu dem im vorhergehenden Hauptabschnitt erwähnten Johann Gottfried Herder nicht unerwähnt bleiben. Unter der Annahme eines mit ihrer Freundschaft einhergehenden intellektuellen Austausches ist das Ergebnis interessant, dass beide Freunde den Begriff Politische Religion im gleichen Zeitraum in voneinander zu unterscheidenden Kontexten und Bedeutungsfeldern verwendeten.
Ebenfalls im Jahr 1793 erschien die von dem Schriftsteller und Politiker Friedrich von Gentz (1764-1832) erarbeitete deutsche Übersetzung und Kommentierung der im November 1790 veröffentlichten Kritikschrift Reflections on the Revolution in France des irisch-britischen Staatsphilosophen und Aufklärers Edmund Burke (1729-1797), der die revolutionären Ereignisse und Zustände in Frankreich nach 1789 scharf angriff und die neue Herrschaft der Nationalversammlung als Ochlokratie, als Pöbelherrschaft diffamierte. Allerdings befindet sich die Fundstelle zum Begriff Politische Religion nicht im Text von Burke, sondern im Beitrag Ueber die Deklaration der Rechte aus der Feder des Übersetzers selbst, den von Gentz im Abschnitt Politische Abhandlungen mit weiteren eigenen schriftstellerischen Erzeugnissen seinem
Übersetzungswerk beifügte.[2] Ähnlich wie Wieland war von Gentz zunächst Befürworter der Französischen Revolution und der von der Nationalversammlung eingeführten Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte als Grundpfeiler der französischen Verfassung,[3] erlebte jedoch mit der voranschreitenden Radikalisierung der Jakobiner eine Entzauberung der Revolution und nahm in diesem Aufsatz sowie seinen nachfolgenden Auseinandersetzungen eine ablehnende Haltung zu den Entwicklungen der revolutionären Ereignisse in Frankreich ein.
In den einleitenden Passagen findet von Gentz zunächst wohlwollende Worte zur Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte und bezeichnet sie als „eins der wichtigsten Dokumente für die Geschichte dieses Jahrhunderts", das als ein „neue Evangelium der Zeit eine neue politische Religion [...] hervorgebracht"[4] habe. Doch bereits zu Beginn seiner eingehenden
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[1] Keiner der bekannten Autoren, die den Begriff in den 1930er Jahren zur Beschreibung der kommunistischen, faschistischen oder nationalsozialistischen Herrschaft verwendeten, hat auf diese Schriften Wielands oder auf andere frühe Verwendungen des Begriffs aufmerksam gemacht.
[2] Friedrich von Gentz: Ueber die Deklaration der Rechte, in: Edmund Burke: Betrachtungen über die französische Revolution nach dem Englischen des Herrn Burke, neu-bearbeitet mit einer Einleitung, Anmerkungen, politischen Abhandlungen und einem critischen Verzeichniß der in England über diese Revolution erschienenen Schriften von Friedrich Gentz. Bd. 2. Berlin 1793, S. 175-225.
[3] Vgl. hierzu seine 1791 veröffentliche Auseinandersetzung Ueber den Ursprung und die obersten Prinzipien des Rechts, in welcher er für die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte argumentierte (Friedrich von Gentz: Ueber den Ursprung und die obersten Prinzipien des Rechts, in: Berlinische Monatsschrift, April 1791, S. 370-396.
[4] Gentz: Ueber die Deklaration der Rechte, S. 175: „Die Deklaration der Rechte, welche den Grundstein der neuen französischen Constitution ausmacht, ist eins der wichtigsten Dokumente für die Geschichte dieses Jahrhunderts. Sie würde es schon in wissenschaftlicher Rücksicht seyn, weil sie das Resultat der Meditationen und Berathschlagungen der denkenden Köpfe in einem der aufgeklärtsten Länder der Welt, über einen für die Menschheit unendlich interessanten Gegenstand darstellt: sie muß es noch mehr in politischer Rücksicht seyn, da die Verfassung eines großen Staats darauf angeblich gebaut ist, da eine neue Ordnung der Dinge mit ihr, und großentheils aus ihr entsprang, da dieses neue Evangelium der Zeit eine neue politische Religion, und eine fast allgemeine Revolution in den Köpfen an den entferntesten Enden von Europa hervorgebracht hat."
Untersuchung der einzelnen Artikel im weiteren Verlauf des Aufsatzes kritisiert der Autor die französische Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte, indem er anhand logischer Überlegungen verdeutlicht, dass ein „Staat, der Deklarationen der Rechte, als [sic] Regierungswerkzeuge gebraucht, [.] jeden seiner Unterthanen gegen sich selbst [bewaffnet]."[1] Die Gefahr bestehe besonders in der abstrakten Formulierung der Grundrechte und dem „Chaos roher und regelloser Begriffe"[2] sowie der Frage, wem die Auslegung und der Schutz dieser Grundrechte und Begriffe übertragen werden solle: einem Regenten, einer eigens dafür geschaffenen Kommission oder jedem einzelnen Bürger selbst.[3]
Der Ausdruck Politische Religion wird in dem Aufsatz von Gentz lediglich an dieser einen Stelle verwendet, daher ist das Augenmerk auf die Kombination der Begriffsverwendung mit dem theologischen Ausdruck „neues Evangelium" zu legen, welcher in diesem Fall für die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte steht und dessen Semantik durchaus eine Art Skepsis, ja fast etwas negativ Schicksalstrunkenes anhaftet. Diese negative Lesart überträgt und verbindet sich automatisch mit der von Gentz verwendeten Wortwahl einer „neue[n] politische[n] Religion", die aus dem „neuen Evangelium" hervorgebracht worden sei. Möglicherweise bestehende Zweifel an einer mitschwingenden Negativität werden im weiteren Verlauf des Textes durch die Kritik an der Deklaration ausgeräumt. Wie schon zuvor bei Wieland festzuhalten war, gebraucht auch von Gentz den Ausdruck einer neuen Politischen Religion, womit von den Verfassern indiziert wird, dass bereits zuvor Politische Religionen anderer Couleur existierten.
Auch der Geheimrat und sächsische Bundestagsgesandte Franz Josias von Hendrich (1752-1819) verwendete dieses zusätzliche Attribut in seiner 1794 anonym veröffentlichten Schrift Freymüthige Gedanken über die allerwichtigste Angelegenheit Deutschlands, worin die Französische Revolution als „neue[] politische[] Religion, die wie manches andere Gift über den Rhein [...] gekommen ist"[4], charakterisiert wird. Auch von Hendrichs versäumt es, Beispiele für die verschiedenen Formen Politischer Religion zu geben. Im Vergleich zu von Gentz sticht der pejorative Charakter des Begriffs Politische Religion in dieser Schrift aus dem unmittelbaren Textumfeld hervor. Allerdings wird an diesem Quellenbeispiel deutlich, dass der Begriff Politische Religion für sich stehend nicht notwendig als a priori negativ konnotiert eingestuft werden kann, sondern seine wertende Färbung erst im Anwendungskontext erhält.
Ab der Mitte der 1790er Jahre eröffnete sich im Kontext der Französischen Revolution ein neues Verwendungsfeld für den Begriff Politische Religion: In seinem Aufsatz Sur la veritable conjuration richtet Pierre-Antoine Antonelle (1747-1817), Jakobiner und ab 1796 Mitglied der Societe des Egaux, dessen Identität hier hinter den Worten l'hermite des environs de Paris
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[1] Ebd., S. 183.
[2] Ebd., S. 209: „Alles schwimmt daher in einem Chaos roher und regelloser Begriffe."
[3] Ebd., S. 184f.
[4] „Ich bin daher auch kein Anhänger der neuen politischen Religion, die wie manches andere Gift über den Rhein zu uns gekommen ist, und bitte meine Leser, damit die beurtheilen können, ob ich Aristocrat oder Democrat, oder keines von beyden sey, auch noch ein aufrichtiges politisches Glaubensbekenntniss sich von mir ablegen zu lassen" ([Franz Josias von Hendrich]: Freymüthige Gedanken über die allerwichtigste Angelegenheit Deutschlands, Germanien 1794, S. 11f.). Eine Rezension der Schrift wurde ein Jahr nach Veröffentlichung in der Zeitschrift Neue allgemeine deutsche Bibliothek veröffentlicht; sie zieht neben den wenigen Zitaten aus dem Werk von Gentz auch die eben zitierte Stelle heran (Neue Allgemeine Deutsche Bibliothek 18.2 [1795], H. 7, S. 434-444, hier. S. 435).
verborgen bleibt, einen kritischen und ablehnenden Blick auf verschiedene Schriften und Ansichten von Royalisten und weiteren Gegnern von Freiheit und Gleichheit, denen er Verrat an der Nation und Sophismus vorwirft.[1] Ihr Kampf um eine Restauration des monarchischen Staatsgefüges in Frankreich sei die „veritable conjuration"[2], die wahre Verschwörung gegen die Republik mit dem Ziel, die sich ausbreitende Lehre der Volkssouveränität und der Errungenschaften der Französischen Revolution niederzuschlagen, das Volk wieder in eine politische Belanglosigkeit zu führen und der Nation eine „religion politique de nos profonds reacteurs et de nos sages en Israel"[3] unterzuschieben.
Die von Antonelle als „profonds reacteurs" bezeichneten Royalisten kämpften für eine Wiederbesinnung auf und Rückkehr zu einer monarchischen Staats- und Regierungsform und wollten jene althergebrachte Politische Religion der Monarchie wieder einführen, „qui se compose, ainsi qu'on le sait, des trois superstitions reunies de l'autel, des blasons parchemins et du tröne"[4] In diesem Dreiergespann von Aberglauben fasst Antonelle jene drei Grundfesten monarchischer Staatssysteme zusammen, die seines Erachtens obligatorisch für ihre Herrschaftsgründung und -sicherung sind: Religiöse Institutionen als Inhaber jenseitiger Deutungshoheit und Legitimatoren des gottgewollten und gottgegebenen Status des weltlichen Monarchen, das Wappen bzw. die Abstammung zur Sicherung eines exklusiven Machtzugangs für einen begrenzten Personenkreis und der Thron als Symbol der diesseitigen Herrschaftsausübung. Mit dieser Dreiheit eines monarchischen Aberglaubens stellt Antonelle nicht nur die in Monarchien praktizierte Ungleichheit von Bürgerinnen und Bürgern auf Basis ihrer sozialen und familiären Herkunft an den Pranger, sondern verurteilt gleichzeitig den fehlenden Laizismus innerhalb dieser Trias und die symbiotische Verbindung zwischen Religion und Politik im monarchischen Staatsgefüge scharf.
Erst durch diese weitere Ausführung zur religion politique und ihre Verflechtung bzw. Kontextualisierung mit der Ablehnung der royalistischen Bewegung kommt die Interpretation des Begriffs Politische Religion als Kritikbegriff oder Pejorativum deutlich zum Tragen. Mit der
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[1] Antonelle war Mitglied der Societe des Egaux, einem von Francois Noel Babeuf (1760-1797), einem radikalen Kritiker der Herrschaft des Direktoriums wie auch der im Oktober 1795 neu in Kraft getretenen Verfassung, gegründeten frühsozialistischen Geheimbund, dessen Hauptforderung - gleiche Rechte und Pflichten für alle - bereits in seinem Namen deutlich wird. Mit seiner Titelwahl und der Hervorhebung der veritable conjuration innerhalb des Textes spielt Antonelle auf die 1796 einsetzenden staatspolitischen und propagandistischen Maßnahmen gegen den Geheimbund und Babeuf sowie den Vorwurf der Vorbereitung zu einer Verschwörung an, in deren Folge Babeufs Geheimbund bereits in zeitgenössischen Publikationen der Name Conjuration de Egaux verliehen wurde. Diesen Vorwurf möchte Antonelle mit seinem Artikel widerlegen, indem er den Lesenden seines Beitrags die Augen für die wahre Verschwörung vonseiten der königstreuen Parteien zu öffnen versucht.
[2] [Pierre-Antoine Antonelle]: Sur la veritable conjuration, et tres - courte notice de quelques ecrits nouveaux
tres prönes - Neuvieme reprise des meditations de l'hermite, in: Journal des hommes libres de tous les pays, Nr. 304, 17. Fruktidor IV, S. 3f., hier S. 4 [Hervorhebung im Original]. Der Aufsatz wurde auf drei aufeinanderfolgende Ausgaben aufgeteilt veröffentlicht, beginnend am 3. September 1796 (Nr. 304, 17. Fruktidor IV). Eine gekürzte deutsche Übersetzung erschien 1796 in der November-/Dezember-Ausgabe der Monatsschrift Neue Klio. Eine Monatsschrift für die französische Zeitgeschichte (Ueber die wahre Verschwörung, und sehr kurze Notiz einiger neuen, sehr gepriesenen Schriften. Neunte Fortsetzung der Meditationen des Einsiedlers, in: Neue Klio. Monatsschrift für die französische Zeitgeschichte, hrsg. v. Ludwig Fried[rich] Huber, Bd. 3: Juli bis December. Leipzig 1796, S. 431-443).
[3] [Antonelle]: Sur la veritable conjuration, Nr. 306, 19. Fruktidor IV, S. 3f., hier S. 4: „C'est en parlant de ces fausses suppositions qu'l a ciu devoir faire des efforts infinis pour renverser la doctrine qu'l sime, celle de la souverainete du peuple, de la declaration des drois, et y substituer la religion politique de nos profonds reac- teurs et de nos sages en Israel, religion qui se compose, ainsi qu'on le sait, des trois superstitions reunies de l'autel, des blasons parchemins et du tröne."
[4] Ebd., S. 4.
semantischen Verknüpfung der Begriffe Religion und Politik zum Kompositum religion politique kritisiert Antonelle eine Verflechtung zwischen politischer und religiöser Ebene im Staatsgefüge und spricht sich für eine laizistische Staatsform in Frankreich aus. Handelt es sich bei der religion politique nach Antonelles Verständnis um einen exklusiv nur für klassisch monarchische Regierungssysteme ohne laizistische Grundlage zu verwendenden Begriff oder ist er durchaus auch für andere Regierungsformen anwendbar, denen eine Verflechtung von politischem und religiösem Bereich zu Grunde liegt, die jedoch keinen durch seine Herkunft legitimierten Herrscher besitzen? Derartig vertiefende Verständnisfragen sind aufgrund der singulären Verwendung innerhalb des Textes und kaum vorhandener Interpretationsstützen durch den Verfasser schwer zu ergründen.
Im Gegensatz zu den zuvor betrachteten Verfassenden, die den Begriff aufgrund ihrer ablehnenden Haltung zu den revolutionären Ideen der Jakobiner oder gar der Französischen Revolution insgesamt verwendeten, handelte es sich bei Antonelle um einen bekennenden Jakobiner und Befürworter der Sicherung und Weiterentwicklung der bürger- und menschenrechtlichen Errungenschaften im revolutionären Kampf. Der besonders im Zeitraum der jakobinischen Terrorherrschaft als Pejorativum gegen die Jakobiner verwendete Begriff Politische Religion wurde in dieser Quelle von einem Jakobiner in seiner abwertenden Lesart zur Kritik an den Royalisten und ihren Bestrebungen nach der Wiedereinführung einer monarchischen Regierungsform instrumentalisiert.
Nur wenige Tage später bediente sich auch Jean-Jacques Lenoir-Laroche (1749-1825), im Gegensatz zu Antonelle ein Befürworter der Verfassung des Jahres III und der Regierung des Direktoriums, in seinem Aufsatz Sur la conspiration du 23 fructidor, et les effets qu'elle
peut produire (1796) der religion politique im Kontext seiner ablehnenden Haltung gegenüber der royalistischen Bewegung. In seiner Auseinandersetzung mit den Ereignissen um den 23. Fruktidor im Jahr IV der Republik[1] beleuchtet er die Umstände des Aufstandsversuchs und die möglichen Konsequenzen sowie ihre Rezeption innerhalb von zwei sich feindlich gegenüberstehenden royalistischen Bewegungen der Französischen Revolution: „les royalistes auxiliaires de la montagne" auf der einen Seite, deren nicht offensichtlich royalistische Haltung aus einem Opportunismus zum Zwecke der eigenen Machtentfaltung und -sicherung entspringe, und „les royalistes raisonneurs, les royalistes de salon" auf der anderen Seite, „qui se sont fait de la monarchie une religion politique, et regardent la Republique comme une chi- mere."[2]
Mit Antonelle übereinstimmend wird der Begriff religion politique auch in dieser Quelle in einem kontextuellen Zusammenhang mit einer Kritik an der Bewegung der Royalisten gestellt,
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[1] Am 23. Fruktidor im Jahr IV der Republik (9. September 1796) unternahmen Anhänger Babeufs den erfolglosen Versuch, im Lager von Grenelle einen Aufstand gegen die Regierung des Direktoriums zu provozieren. Jedoch wurden die Aufständischen bereits von den Truppen in Grenelle erwartet, auf Anordnung des Direktoriums verhaftet und von einem militärischen Rat verurteilt, obwohl es sich bei der Mehrheit der Gefangenen um Zivilisten handelte.
[2] Jean-Jacques Lenoir-Laroche: Sur la conspiration du 23 fructidor, et les effets qu'elle peut produire, in: Ga
zette National ou Le Moniteur universel, Nr. 363, 19.09.1796, S. 1f., hier S. 1: „Il est en France une espece de royalistes qui, dans leur plan, leur but et leurs principes, different totalement des terroristes et de leurs auxiliaires, bien que ceux-ci servent comme eux la royaute; ce sont les royalistes raisonneurs, les royalistes de salon, qui se sont fait de la monarchie une religion politique, et regardent la Republique comme une chi- mere." Wie zu Antonelles Beitrag erschien im gleichen Jahrgang auch zu Lenoir-Laroches Artikel eine deutsche Übersetzung in der Ausgabe September / Oktober der Zeitschrift Neue Klio unter der Rubrik Geist der Pariser Tagblätter: Jean-Jacques Lenoir-Laroche: Über die Verschwörung vom 23. Fruktidor und, ihre möglichen Wirkungen, in: Neue Klio. Monatsschrift für die französische Zeitgeschichte, hrsg. v. Ludwig Fried[rich] Huber, Bd. 3: Juli bis December, Leipzig 1796, S. 190-203.
doch anders als bei Antonelle trägt die Monarchie bei Lenoir-Laroche nicht per se den Stempel einer religion politique, sondern wird erst durch das Wirken der Royalisten zu einer religion politique geformt. Folglich dient der Begriff religion politique bei Lenoir-Laroche nicht als Kritik an einer Verschmelzung von Religion und Politik oder einer Vergöttlichung des Monarchen, die nicht nur der französischen Monarchie zu eigen war und nicht erst durch die Royalisten eingeführt wurde. Was Lenoir-Laroche allerdings unter dem Begriff religion politique genau versteht und welche Konnotation er dem Begriff zuschreibt, geht aus dieser Fundstelle und dem Inhalt des restlichen Artikels nicht eindeutig hervor. Der Begriff könnte von ihm als eine Art Pejorativum mit einer a priori negativen Konnotation zur Bezeichnung einer bestimmten, abzulehnenden Form von staatspolitischer Idee verstanden und verwendet worden sein. Doch auch mit Blick auf den weiteren Textverlauf kann dem Begriff eine sprachlich negative - oder gar positive - Wertung nicht ohne Zweifel zugeschrieben werden. Daraus könnte man auf der anderen Seite schließen, dass sich der Begriff religion politique in dieser Quelle nicht deskriptiv oder charakterisierend auf ein bestimmtes Objekt oder eine bestimmte Idee bezieht, sondern als ein substantiell kaum greifbarer Oberbegriff fungiert, der unter sich substanzreichere Begriffe zu subsumieren vermag - ähnlich zum zuvor bereits erwähnten Johann Wilhelm von Archenholz. In diesem Fall könnte religion politique als ein per se neutraler Begriff verstanden werden, der keine sprachliche Wertung in sich trägt. Eine konnotative Ausrichtung würde sich dann erst mit der Wertung der als religion politique bezeichneten politischen Haltung durch die begriffsverwendende Person, in diesem Fall Lenoir-Laroche, entwickeln.
Nicht nur in französischsprachigen Publikationen wurde der Begriff Politische Religion zur Kritik an der royalistischen Bewegung verwendet: Als Polemik gegen royalistische Strömungen dienend findet man den Begriff auch in dem Werk An die Völker Europens vorzüglich an Franken und Deutsche, das 1797 unter dem Pseudonym Wekhrlin der Jüngere, eine Anspielung auf den deutschen Schriftsteller Wilhelm Ludwig Wekhrlin (1739-1792), von dem deutschen Schriftsteller und Satiriker Karl Julius Weber (1767-1832)[1] veröffentlicht wurde. In seinem literarischen Werk, das mit vielerlei Ratschlägen zur Aufrechterhaltung der Errungenschaften der Revolution endet, beschreibt Weber mit einer guten Prise Satire Frankreich einerseits als politische und wirtschaftliche Großmacht und Zentrum von Wissenschaft und Kunst, das französische Volk andererseits als von den schlimmsten Despoten regiert und in der wissenschaftlichen sowie künstlerischen Freiheit repressiert:
„Ihr wurdet verstümmelt und irre geleitet durch gottlose Könige, die euch mit einer schlechten Regierung nach der andern seit einigen Jahrhunderten bestraften, durch elende hierarchisch-politische Religion, oder leeres, wesenloses Pfaffengespinnst und durch die festesten Schranken wurdet ihr beschränkt vom Throne und von der Kirche her, um euren Geist so viel als möglich im Zaum zu halten, und ihn zu beschäftigen mit sonderbaren und geheimnisvollen Dingen."[2]
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[1] Ob es sich hinter dem Pseudonym Wekhrlin der Jüngere tatsächlich Karl Julius Weber verbirgt, kann nicht zu hundert Prozent verifiziert werden. Zwar ist in der Forschung zweifelsfrei sicher, dass Weber für die Schrift Der Geist Wilhelm Ludwig Wekhrlins verantwortlich ist, die unter dem Pseudonym Wekhrlin junior erschien, allerdings erschien diese Schrift über dreißig Jahre nach An die Völker Europens und weitere Veröffentlichungen unter diesem Pseudonym sind nicht bekannt. Zudem taucht die Schrift in keiner Werkliste oder Edition von Webers gesammelten Werken auf. Darüber hinaus soll die Wahl Webers für das Pseudonym auf eine Rezension seines Werkes Die Möncherey zurückzuführen sein, das erstmals 1819/20 erschien - über zehn Jahre nach Veröffentlichung der Schrift An die Völker Europens (Max Mendheim: Art. Weber, Karl Julius, in: ADB 41. Leipzig 1896, S. 334-339, hier S. 338).
[2] Wekhrlin der Jüngere [Carl Julius Weber]: An die Völker Europens vorzüglich an Franken und Deutsche. Germanien 1797, S. 102f.
Bereits in den vorhergehenden Passagen seiner Schrift kritisiert Weber die enge Verknüpfung der französischen Monarchie mit der katholischen Kirche, die dem Monarchen die göttliche Legitimation seiner Herrschaft bestätigt und sichert. Wie schon Antonelle nutzt auch Weber den Begriff Politische Religion unverkennbar zur Kritik an dieser Verflechtung von religiöser und politischer Ebene im weltlichen Machtgefüge, das Fundament des französischen Absolutismus. Dass sich die Verwendungsfelder und Semantiken von Politische Religion in unterschiedlichen Sprachräumen ähneln bzw. gleichen, lässt sich nicht nur anhand dieser zwei Quellenfunde - Webers An die Völker und Antonelles Sur la veritable conjuration - belegen. Ähnlichkeiten innerhalb des Begriffsverständnisses im Verwendungskontext der Französischen Revolution bestehen beispielsweise auch zwischen Condorcet und Wieland, die eine fanatisierte politische Überzeugung, einen sakralisierten politischen Glauben als Politische Religion bzw. religion politique bezeichnen.
Insgesamt kann konstatiert werden, dass in der Auseinandersetzung mit den Ereignissen und umwälzenden Prozessen der Französischen Revolution und ihren Auswirkungen inner- und außerhalb von Frankreich in zeitgenössischen Beiträgen auf den Begriff Politische Religion in unterschiedlichen Verwendungs- und Verständnisnuancen zurückgegriffen wurde. Die Verfassenden waren entweder aktiv als Mitgestalter oder passiv als Beobachter und Berichterstatter im tages- oder staatspolitischen Geschehen involviert. Sowohl von Gegnern (Wieland) als auch von Befürwortern oder Vertretern (Antonelle, Lenoir-Laroche) der Französischen Revolution wurde der Begriff überwiegend zur Kritik an antagonistischen Positionen instrumentalisiert. An dieser Stelle sollte der Umstand hervorgehoben werden, dass die Quellenbelege aus zeitlich unterschiedlichen Phasen der Französischen Revolution stammen, die entsprechend ihrer Charakteristik national wie auch international unterschiedlich wahrgenommen und bewertet wurden. Besonders die 1792 einsetzende jakobinische Terrorherrschaft löste im zunächst revolutionsfreundlichen Teil der europäischen Bildungsschicht eine Schockwelle aus und sorgte für eine zunehmend ablehnende Stimmung gegenüber den Ereignissen in Frankreich, die nun abwertend als Politische Religion bezeichnet wurden. Beispielsweise schlug die zunächst befürwortende Haltung Christoph Martin Wielands in eine massive Kritik an der neu installierten politischen Ästhetik der französischen Republik unter jakobinischer Herrschaft um, als eine Sakralisierung diesseitiger Werte zu einer genuinen Religion, die tradierte Religionen bzw. deren Institutionen und Liturgien zu verdrängen oder gar ersetzen versuche und damit für ihn zu einer Politischen Religion wurde. Nach dem Tod von Maximilien de Robespierres (1758-1794) und dem Ende der jakobinischen Schreckensherrschaft wurde mit dem Direktorium eine neue Verfassung verabschiedet und der Machtgewinn der Royalisten als neue Gefahr wahrgenommen, denen nun der Begriff Politische Religion als Pejorativum angeheftet wurde.
Im Laufe der Französischen Revolution und insbesondere nach Beendigung der jakobinischen Herrschaft wandelte sich das Objekt der Abwertung: Zunächst zur Kritik an den Revolutionären und insbesondere den Jakobinern herangezogen, richtete sich der Begriff Politische Religion bald gegen Royalisten und Revisionisten des Ancien Regimes. Wie schon in zuvor betrachteten Quellenbelegen blieb das Objekt der Abwertung im Kontext episodenhafter Ereignisgeschichte wie der hier untersuchten Französischen Revolution in Abhängigkeit von der subjektiven Wertung durch die begriffsverwendende Person austauschbar. Die semantische Verortung des Begriffs verschwimmt vor diesem Hintergrund.
Ähnlich zu den zuvor betrachteten Schriften im Zusammenhang mit der Aufklärung konnten auch im Kontext der Französischen Revolution vereinzelt positiv konnotierte Verwendungen des Begriffs Politische Religion aufgefunden werden - eine Lesart des Begriffs, die ihren Höhepunkt insbesondere im 19. Jahrhundert in verschiedenen Kontextualisierungen erlebte. Im Vergleich zu negativ konnotierten Verwendungen konnten quantitativ betrachtet geringfügig weniger Quellenbelege mit einer wertfreien bis positiv konnotierten Begriffsverwendung recherchiert werden. Ein Zusammenhang zwischen der Wahl für eine konnotative Richtung und der persönlichen Haltung des Verfassers zur Französischen Revolution konnte nicht eruiert werden.
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