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1.2.3. 19. Jahrhundert

Auch im 19. Jahrhundert knüpften einige Autoren an die Charakterisierung des Islams als Politische Religion an, wenn auch eher mittelbar, wie eine deutsche Übersetzung einiger Kapitel aus den Schilderungen Turkey, Russia, the Black Sea, and Circassia des englischen Reiseschriftstellers und Kapitäns Edmund Spencer (Lebensdaten unbekannt) zeigt. In der englischsprachigen Originalpublikation berichtet Spencer von einer muslimischen Glaubensgemeinschaft um den religiös-politischen Führer Imam Schamil (1797-1871), welcher eine Form der Lehre der Naqschbandiya, einem Sufi-Orden aus dem 14. Jahrhundert, in Dagestan und

Tschetschenien verbreitete. Diese Lehre des Imams Schamil, eine Art von reformierte Islam,
„may be considered political in its tendencies".[1]

In einer deutschen Übersetzung, die der Botaniker Karl Heinrich Koch (1809-1879) 1855 in seiner Sammlung von Reiseberichten Die kaukasischen Länder und Armenien veröffentlichte, ist die oben zitierte Stelle mit etwas anderen Worten wiedergegeben, die den Sinn der Aussage Spencers verstellen:

„Wie der Islam überhaupt, so kann auch diese Secte, in ihren Hauptgrundsätzen als eine politische Religion angesehen werden, indem sie Freiheit und Unabhängigkeit verlangt und den erniedrigenden Materialismus verwirft, welcher gegenwärtig die Religion Mohamed's entwürdigt."[2]

In Kochs Übersetzung wird die Glaubensgemeinschaft Schamils - wie auch der Islam insgesamt - als Politische Religion definiert, weil sie für liberale Grundforderungen wie Freiheit und Unabhängigkeit einstehe und eine individuelle wie gesellschaftliche Fokussierung auf materielle Werte ablehne. Während Spencer die religiöse Lehre Schamils in ihren Tendenzen als politisch bewertet, verwandelt sich diese Beurteilung in der deutschen Übersetzung zu einer Politischen Religion, ohne dass Spencer selbst diesen Begriff an dieser oder einer anderen Stelle seiner Publikation verwendet hat. Hätte Spencer entsprechend der deutschen Übersetzungen den Begriffpolitical religion tatsächlich verwendet, so fiele der Begriff vermutlich nicht in eine notwendig negativ zu deutende Lesart: Vielmehr würde der Begriff eben jene politischen Tendenzen des Islams beschreiben, der sich weltlichen und politischen Fragen stellt, um der Religion unterstützend zur Seite zu stehen. Daraus folgend würde die Bewegung um Imam Schamil mit dem Stempel political religion versehen werden, weil sie - neben dem Glauben an Gott - um diesseitige, liberale Werte kämpfe und negative weltliche Wirklichkeiten, die sich mit einem negativen Einfluss in die Religionspraxis eingeschlichen haben, bekämpfe, um schließlich die religiöse Ebene zu stärken und den Glauben wieder auf das göttliche Wesen zu fokussieren.

Noch deutlicher fällt Paulus Stephanus Cassel (1821-1892) sein Urteil zum Islam in seiner Reisebeschreibung Vom Nil zum Ganges. Innerhalb seiner Ausführungen zum Libanon kommt der deutsche Schriftsteller und evangelische Theologe auf die muslimische Religion zu sprechen, mit der Feststellung:

„Der Islam ist eine politische Religion. Geistliche und politische Gewalt sind darin eng verbun- den."[3]

Cassels Begriffsverständnis des Begriffs Politische Religion kann aus dem nachfolgenden Satz zur Begründung dieser Charakterisierung des Islams entnommen werden, in dem die enge Verwobenheit politischer und religiöser Machtsphären innerhalb des mohammedanischen Religionssystems kritisiert wird. Zur Untermauerung seiner Beurteilung des Islams als Politische Religion zieht Cassel religionshistorische Beispiele heran, wie etwa die Spaltung der islamischen Glaubensgemeinschaft in Sunniten und Schiiten mit der Schlacht von Kerbala 680 n. Chr., die
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[1] Edmund Spencer: Turkey, Russia, the Black Sea, and Circassia. London 1854, S. 355: „In fact, the religion of Schamyl is not altogether new in the East; it originated many years ago in Arabia; was first preached in the Caucasus by Elijah Mansour, and may be considered political in its tendencies, encouraging freedom and independence, and condemning the debasing materialism, which in the present day degrades the religion of Mahomet."
[2] O. Spencer: Reise längs der Küste von Tscherkessien, Abchasien und Mingrelien, in: Karl Koch (Hg.): Die kaukasischen Länder und Armenien in Reiseschilderungen von Curzon, K. Koch, Macintosh, Spencer und Wilbraham. Leipzig 1855, S. 1-64, Zitat S. 57. Karl Koch hat die Initiale des Vornamens von Edmund Spencer falsch angegeben; durch einen Abgleich mit dem oben zitierten Original konnte die Autorschaft Edmund Spencers verifiziert werden.
[3] Paulus Stephanus Cassel: Vom Nil zum Ganges. Wanderungen in die orientalische Welt. Berlin 1880, S. 120.

sich im Grunde nicht an theologischen Fragen, sondern „an den politischen Gegensatz von Perser[n] und Araber[n]"[1] anlehne. Wie dieses und weitere Beispiele zeigen sollen, liege der Grund für die Religionskonflikte des Islams in ethnischen oder (staats-)politischen Konflikten, nicht in Auseinandersetzungen um theologische Fragen. Eine weitere Erwähnung oder eingehendere Auseinandersetzung mit dem Begriff Politische Religion sucht man in Cassels Reisebericht vergeblich.

Eine etwas intensivere Auseinandersetzung mit dem Begriff Politische Religion lieferte der evangelische Theologe und politische Publizist Martin Rade (1857-1940) in seinen im Freien Deutschen Hochstift in Frankfurt am Main gehaltenen Vorträgen über Die Religion im modernen Geistesleben, die er 1898 als Monographie veröffentlichte.[2] In einem Kapitel widmet sich Rade der Beziehung zwischen Religion und Politik: Die Frage nach einer voranschreitenden Säkularisierung[3] innerhalb menschlicher Gesellschaften aufgreifend unterstreicht er die auch seinerzeit essenzielle Rolle von Religion als „unübersehbarer Machtfaktor" innerhalb der politischen Welt und verneint die zeitgenössisch verbreitete These, dass die „politische Bedeutung der Religion gegen früher in steter Abnahme wäre"[4]. Vielmehr beobachte Rade das Gegenteil, so dass man „geradezu von politischen Religionen reden"[5] könne, die man in der
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[1] Ebd.: „Die größte Spaltung des Islam [sic] in Sunniten und Schiiten lehnte sich an den politischen Gegensatz von Perser und Araber an."
[2] Teile seiner Ausführungen veröffentlichte Rade im gleichen Jahr in der von ihm herausgegebenen Christlichen Welt sowie in den Heften zur Christlichen Welt. Zu den Heften sowie zu Martin Rade siehe auch Michael Hüttenhoff: Die Christliche Welt, in: ders., Lucia Scherzberg (Hg.): Auseinandersetzungen mit dem Nationalsozialismus im deutsch- und französischsprachigen Europa (1919-1949). Bd. 5.1: Protestanten und Katholiken aus dem deutschsprachigen Europa. Bruxelles 2021, S. 59-74.
[3] Seit etwa Mitte des 20. Jahrhunderts kann eine dialektische Verbindung zwischen der Auseinandersetzung um den Begriff Politische Religion und der zunehmenden Debatte um eine voranschreitende Säkularisierung der christlichen Gesellschaften festgestellt werden: Die Ursprünge der Säkularisierungsdebatte des 20. Jahrhunderts werden in der Forschung einerseits im Reichsdeputationshauptschluss von 1803 lokalisiert, in dem die Überführung geistlicher Güter in weltliche Verfügungsgewalten beschlossen wurde, was letztendlich zum Ende des Heiligen Römischen Reiches und der mittelalterlichen Reichskirche führte. Andererseits wurden schon in den Kulturkämpfen des 19. Jahrhunderts jene Schlagwörter formuliert, die in klassischen Theorieansätzen zentrale Kategorien zur Ursachenbeschreibung bildeten (Individualisierung, Pluralisierung, Rationalisierung). Die Debatte schließt an den innerchristlichen Streit um die Legitimation der Säkularisation kirchlicher Güter und geistlicher Herrschaft an, wurde allerdings zunächst unter dem Leitbegriff Verweltlichung geführt und in den Kontext einer universalgeschichtlichen Teleologie gebettet. Säkularisation oder auch Säkularisierung wurde bis ins 20. Jahrhundert überwiegend als kirchenrechtlicher bzw. staatskirchenrechtlicher Begriff verwendet. Zum Ursprung und zur Entwicklung des Begriffs siehe Richard Schröder: Säkularisierung - Ursprung und Entwicklung eines umstrittenen Begriffs, in: Christina von Braun et al. (Hg.): Säkularisierung. Bilanz und Perspektiven einer umstrittenen These. Berlin 2007, S. 61-83; Manuel Borutta: Genealogie der Säkularisierungstheorie. Zur Historisierung einer großen Erzählung der Moderne, in: Geschichte und Gesellschaft 36.3 (2010), S. 347-376. In den letzten Jahrzehnten ist die Fürsprache für die Säkularisierungstheorie interdisziplinär rapide geschrumpft; selbst Religionswissenschaftler distanzieren sich zunehmend von der Annahme, dass in Gesellschaften mit zunehmender Industrialisierung und technischer wie wirtschaftlicher Rationalisierung ein Rückgang religiöser Bedürfnisse und damit von Religion per se unausweichlich sei; siehe hierzu Olaf Blaschke: Abschied von der Säkularisierungslegende, in: zeitenblicke 5.1 (2006). Online: http://www.zeitenblicke.de/2006/1/Blaschke [letzter Zugriff 10.01.2023]; Friedrich Wilhelm Graf, Klaus Große Kracht (Hg.): Religion und Gesellschaft. Europa im 20. Jahrhundert. Köln 2007.
[4] Martin Rade: Die Religion im modernen Geistesleben. Freiburg i. B. 1898, S. 71 [Hervorhebungen im Ori
ginal]: „In der politischen Welt, d.i. in der Welt der Macht, ist die Religion auch heute noch ein unübersehbarer Machtfaktor. Und zwar gilt das ebenso von der inneren wie von der äußeren Politik. Es gilt ferner nicht etwa so, daß diese politische Bedeutung der Religion gegen früher in steter Abnahme wäre; vielmehr ist sie jetzt größer, als sie in gewissen Zeiten der Vergangenheit gewesen ist."
[5] „Man kann geradezu von politischen Religionen reden. Ihr klassischer Ort ist der Orient. Die orientalische Frage ist eine Religionsfrage" (ebd., S. 71 [Hervorhebungen im Original]).

Regel im Orient anzutreffen vermöge. Diese enge Verbundenheit der religiösen und der politischen Ebene sei als Fundament gesellschaftlichen Zusammenhalts dem Islam traditionell innewohnend, worin die Gefahr der Entfachung „eines unermeßlichen religiösen Fanatismus"[1] bestehe. Rade verweist allerdings nicht nur auf den Islam, sondern auch auf „die christlichen Religionen im Orient"[2], welche er ebenfalls als politisch charakterisiert. Spezifische christliche Glaubensidentitäten - Rade verweist auf die Beispiele der armenischen und der russischorthodoxen Kirche - seien so eng mit der Nation und Nationalitäten verbunden, dass sie Nation und Kirche zugleich seien und die Existenz des betreffenden Staates nur in dieser Einheit gedacht werden könne. Entsprechend charakterisiert Rade Politische Religion als jene Religion, die ihren weltlichen Herrschaftsanspruch damit versucht durchzusetzen, indem

„sie sich so ganz an den Staat preißgiebt, daß die religiösen oder vielmehr kirchlichen Interessen schlechthin zu Staatsinteressen werden."[3]

Die dem Begriff immanente Kritik einer Vermischung von religiöser und politischer Ebene tritt an dieser Textstelle ganz deutlich hervor, indem Rade auf die Einflussnahme religiöser Institutionen auf staats- oder weltpolitische Fragen und Konflikte verweist. Auf die christlichen Kirchen in Deutschland bezogen attestiert Rade der katholischen Kirche zwar eine politische Seite - in Form der Deutschen Zentrumspartei -, aber auch eine tiefe geistige Ebene, weswegen nur von einer „,auch politische[n]' Religion"[4] gesprochen werden könne, es sich aber nicht um eine Politische Religion in ihrer Reinform handle. In dieser Textpassage signalisiert Rade, dass er innerhalb seiner Interpretation des Begriffs Politische Religion auch Graustufen, Abstufungen oder Ausprägungen von Politischer Religion zulässt, um innerhalb der Charakterisierung auch bloße Tendenzen einer Politischen Religion benennen zu können, ohne das fragliche Objekt aufgrund fehlender Differenzierungen als Reinform einer Politischen Religion stigmatisieren zu müssen. Gegenüber der katholischen Kirche seien die

„protestantischen Religionen [...] überhaupt keine politischen Religionen. Sie sind es heute weniger denn je, weil die ihnen eigene Erkenntnis von Wesen und Wert der Religion sie zu einer solchen Interessenverbindung immer unfähiger gemacht hat."[5]


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[1] Ebd., S. 72.
[2] Ebd.
[3] Ebd., S. 73.
[4] Ebd., S. 74: „Die katholische Religion ist ,auch politische' Religion."
[5] Ebd., S. 75. Rade veröffentlichte diesen Teil seiner Ausführungen zum Katholizismus als Politische Religion bzw. seines Urteils, dass der Protestantismus nicht als Politische Religion bewertet werden könne, etwas angepasst 1898 in der dritten Ausgabe des Periodikums Christliche Welt. Dieser Aufsatz wurde im Mai des gleichen Jahres von dem evangelischen Theologen und Professor an der Martin-Luther-Universität in Halle, Willibald Beyschlag (1823-1900), als Grundlage seiner Ansprache über Die gegenwärtige deutsch-preußische Kirchenpolitik und der Evangelische Bund herangezogen und scharf kritisiert (Willibald Beyschlag: Die gegenwärtige deutsch-preußische Kirchenpolitik und der Evangelische Bund. Ansprache an die Jahresversammlung des Evangelischen Bundes in der Provinz Sachsen zu Aschersleben am 10. Mai 1898, in: DeutschEvangelische Blätter. Zeitschrift für den gesammten Bereich des deutschen Protestantismus 23 [1898], S. 371-380). Zwar kommt Beyschlag mit Rades Urteil überein, dass „der Protestantismus [...] keine politische Religion" bzw. demgegenüber „der Katholicismus [...] seinem Wesen nach eine politische Religion" (ebd., S. 372, 374, 375f.) sei, streitet jedoch unter anderem den Vorwurf Rades ab, dass „die deutsche Reichsregierung im Sinne des römischen Katholicismus katholische Politik" (ebd., S. 376) betreibe. Nach Beyschlags Urteil verhalte sich die deutsche Reichsregierung aufgrund der politischen Macht der Zentrumspartei konfessionell indifferent und vernachlässige dabei die Gefahr der Nachahmung dieser „Nachgiebigkeit der Regierung im Privatleben" (ebd., S. 378). Infolgedessen steige die Verbreitung einer indifferenten Haltung gegenüber christlichen Religionen innerhalb der deutschen Bevölkerung. Die Politische Religion wird von Beyschlag in einem kurzen Zusatz als eine Religion beschrieben, „die mit politischen Mitteln befördert und ausgebreitet zu werden begehrt" (ebd., S. 374). Mit dieser Definition wird nicht nur die Vermengung der religiösen und politischen Ebene an sich kritisiert, sondern insbesondere eine aktive Zusammenarbeit der Bereiche Politik und Religion zum Selbstzweck im Sinne einer Machtgewinnung und -steigerung anstatt mit dem Ziel dem Volke in ihren jeweiligen Zuständigkeits- und Wirkungsbereichen dienlich zu sein.

Rade bezieht sich an dieser Stelle im Besonderen auf die deutschen evangelischen Kirchen, die sich der Losung über die Trennung von Staat und Kirche am wahrhaftigsten verschrieben und in ihrer religiösen Praxis einzuhalten versucht hätten, wohingegen Reformationen auf nichtdeutschem Boden oftmals einen politischen Charakterzug entwickelt hätten - Rade führt an dieser Stelle historische Beispiele wie etwa Johannes Calvin und Thomas Cromwell (14851540) an, deren Kampf für die Reformation der christlichen Religion ins weltliche Geschehen eingegriffen habe. Aufgrund dieses laizistischen Selbstanspruches sei die Errichtung eines evangelischen Pendants zur Deutschen Zentrumspartei und somit eine unmittelbare Einflussnahme auf politischer Ebene durch reformierte Kirchen gar nicht denkbar. Dennoch gesteht Rade ein, dass eine absolute Trennung zwischen Staat und Kirche niemals vollzogen werden könne und es stets „sehr lebendige Wechselbeziehungen"[1] zwischen Religion und Politik geben werde. Aus der Annahme heraus, dass „der Staat [...] die organisierte Volksgemeinschaft" sei, folgert Rade:

„Will die Religion das Volk, so will sie auch den Staat. Eine politische Religion will das Volk durch den Staat, eine geistige, innerliche, freie Religion will den Staat durch das Volk, die Staaten durch die Völker."[2]

Somit ergebe sich ein fundamentaler Unterschied zwischen Politischer Religion als Negativfolie auf der einen Seite und der anzustrebenden, positiv konnotierten geistigen Religion auf der anderen Seite, indem sich letztere auf das Wohl des Individuums und der durch ihn gegründeten Gemeinschaft fokussiere und damit indirekt den Staat befördere, während das Handeln der Politischen Religion auf den Staat gerichtet sei, um mit Hilfe dieser weltlichen Macht, legitimiert durch religiöse Institutionen, das Volk zu kontrollieren und zu beherrschen.

Im Abschluss seiner Untersuchung der Beziehung von Religion und Politik in der Gegenwart erwähnt Rade den „Muhammedanismus [.], der die politische Religion in ihrer reinen Form" repräsentiere, als Gegenbild zu den „großen Geistesreligionen unserer Tage, Judentum, Christentum und Buddhismus", die nicht aus politischen Interessen heraus gegründet und verbreitet worden seien, sondern „autochthon, freigewachsene Gebilde"[3] darstellen. Die oben bereits angesprochene Nuancierung der Politischen Religion zwischen Reinformen und Mischformen wird an dieser Stelle noch einmal unterstrichen, indem Rade den Islam wörtlich als die Reinform der Politischen Religion bezeichnet, woraus sich im Umkehrschluss das Vorhandensein von Mischformen in Rades Begriffsverständnis erschließt.

Neben diesen deutschsprachigen Quellen konnte auch eine Fundstelle in einem französischen Periodikum des 19. Jahrhunderts recherchiert werden, worin der Begriff Politische Religion respektive religion politique zumindest in eine textliche Nähe zum Islam gestellt wird: Der in Rede stehende Artikel D'un certain article sur le discours de la couronne ist eine abwertende Reaktion auf einen kurz zuvor in der Gazette de France erschienenen Artikel, worin die
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[1] Rade: Religion im modernen Geistesleben, S. 77: „Die Formel ist gewiß diskutabel; aber so lange Staat und Kirche lebendige Größen sind, wird es immer sehr lebendige Wechselbeziehungen zwischen ihnen geben, und nicht einmal in der Theorie wird sich die Trennung so leicht feststellen lassen."
[2] Ebd., S. 81.
[3] Ebd., S. 88: „Vom Muhammedanismus abgesehen, der die politische Religion in ihrer reinen Form darstellt, sind die großen Geistesreligionen unsrer Tage, Judentum, Christentum und Buddhismus autochthon, freigewachsene Gebilde, die keine Staatskunst, kein Staatsinteresse geschaffen, gepflanzt und in die Höhe gebracht hat."

Thronrede Karls X. (1757-1836) zur Eröffnung der neuen Session der Kammern des französischen Parlaments am 27. Januar 1829 heftig diffamiert wird. Der Verfasser dieser Erwiderung bringt unter anderem die Verfechter despotischer Herrschaftsausübung zur Sprache, die „sur le tröne le bras de fer de Mahomet" sehen wollen und nur an ein Königtum der Unterdrückung glauben:

„Mais la peur qui tremble devant la foudre n'est pas de la piete, et la religion politique qui ne s'incline que devant les coups d'etat n'est pas non plus du royalisme."[1]

Mit dem Begriff religion politique zielt der Verfasser vermutlich auf die Kritik an einer Fokussierung auf diesseitige Werte in Religionsfragen bzw. der Nutzung von Religion für diesseitige, zumeist staatspolitische Zwecke. Die mit dem Begriff religion politique intendierte Semantik kann aufgrund fehlender weiterer Fundstellen nicht gründlicher beleuchtet werden.


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[1] [Anon.]: D'un certain article sur le discours de la couronne, in: Messager des Chambres, Nr. 30, 30. Janvier 1829, unpag. [S. 2].