1.4.3. 20. Jahrhundert
An der Wende zum 20. Jahrhundert war es der protestantische Theologe und Kirchenhistoriker Adolf von Harnack (1851-1930), welcher in mehreren Schriften auf den Begriff Politische Religion zur Charakterisierung nichtchristlicher Religionen zurückgriff. In der Vorlesungsschrift Das Wesen des Christentums (1900) rekurriert er den Begriff kritisch auf die zu vermeidende Verwobenheit von Religion und Politik, wie sie insbesondere im Kaiserkult des antiken römischen Reichs präsent gewesen sei. Dieser Kult um die „kaiserlichen Staatsgötzen"[1], den Harnack in einer anderen Schrift als „Menschenvergötterung"[2] bezeichnet, sei durch das Christentum und mit dem „Blut der Märtyrer" bekämpft worden, um eine „unverrückbare Grenze [...] zwischen der Religion und der Politik, zwischen Gott und dem Kaiser"[3] zu schaffen. Entsprechend bestehe das Verdienst der „zum Katholizismus entwickelte[n] Kirche " darin, „den Naturdienst, den Polytheismus und die politische Religion bekämpft und mächtig zurückgedrängt"[4] zu haben. Eine Annäherung an das von Harnack verwendete
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[1] Adolf von Harnack: Das Wesen des Christentums. Sechzehn Vorlesungen vor Studierenden aller Facultäten im Wintersemester 1899/1900 an der Universität Berlin gehalten. Zweite berichtigte Auflage. Leipzig 1900, S. 123; siehe hierzu Neddens: politische Religion', S. 314. Diese Schrift basiert auf der im Wintersemester 1899/1900 gehaltenen gleichnamigen Vorlesung Harnacks, in welcher er den Begriff vermutlich zum ersten Mal verwendete.
[2] Adolf von Harnack: Die Mission und die Ausbreitung des Christentums in den ersten drei Jahrhunderten. Bd. 1: Die Mission in Wort und Tat. Zweite neu durchgearbeitete Auflage. Leipzig 1906, S. 247.
[3] Harnack: Das Wesen des Christentums, S. 123: „Das Blut der Märtyrer ist geflossen, damit eine unverrückbare Grenze entstände zwischen der Religion und der Politik, zwischen Gott und dem Kaiser."
[4] Ebd., S. 121f. [Hervorhebungen im Original]: „So haben wir auch hier in Bezug auf die zum Katholizismus entwickelte Kirche allem zuvor zu fragen, worin hat ihre Arbeit bestanden, welche Aufgabe hat sie gelöst, was hat sie geleistet? Ich stelle die Antwort an die Spitze. Sie hat ein Doppeltes geleistet: erstlich, sie hat den Naturdienst, den Polytheismus und die politische Religion bekämpft und mächtig zurückgedrängt; zweitens, sie hat die dualistische Religionsphilosophie überwunden. Die Kirche am Anfang des dritten Jahrhunderts hätte auf die vorwurfsvolle Frage: ,Wie konntest du dich von deinen Anfängen so weit entfernen, was ist aus dir geworden?' antworten können: ,Ja, so bin ich geworden; vieles habe ich abwerfen müssen, vieles auf mich nehmen; ich habe kämpfen müssen, mein Leib ist voll Narben und mein Gewand ist mit Staub bedeckt; aber ich habe Siege erfochten und habe gebaut; ich habe den Polytheismus zurückgeschlagen; ich habe die politische Religion entwertet und diese Spottgeburt nahezu vernichtet; ich habe den Verlockungen einer tiefsinnigen Religionsphilosophie kein Gehör geschenkt und habe ihr den allmächtigen Schöpfergott siegreich entgegengestellt; ich habe endlich einen großen Bau gezimmert, eine Festung mit Türmen und Bollwerken; in ihr bewache ich meine Schätze und schütze die Schwachen.' So hätte sie antworten können und hätte die Wahrheit gesprochen." Tatsächlich findet sich diese Glorifizierung des Christentums als Erretter der Menschheit vor falschen Religionsformen wie etwa der Politischen Religion bereits im 1886 veröffentlichten ersten Band von Harnacks Lehrbuch der Dogmengeschichte; auf das Judentum bezogen heißt es hierin: „Wohl mögen in den Zukunftshoffnungen, wie Jesus sich dieselben für seine Predigt angeeignet hat, politische und nationale Momente noch hervorgetreten sein. Aber aus den Bedingungen, an welche die Verwirklichung der Hoffnungen für den Einzelnen geknüpft war, leuchtete bereits der hellere Strahl, der jene Momente verdunkeln sollte, und ein Wort wie Mt. 22, 21 hob die politische Religion mitsammt der religiösen Politik auf" (Adolf von Harnack: Lehrbuch der Dogmengeschichte. Erster Band: Die Entstehung des kirchlichen Dogmas. Freiburg im Breisgau 1886, S. 52f.). In der ersten Auflage der zwei anderen Bände konnten keine Fundstellen zur Politischen Religion ermittelt werden.
Begriffsverständnis im Sinne des oben erwähnten Kaiserkult folgt im weiteren Verlauf der Ausführungen:
„Und die politische Religion! Die ganze Macht des Staates stand hinter dem Kaiserkult, und es schien so leicht und ungefährlich, mit ihm zu paktieren - aber die Kirche hat keinen Schrittbreit nachgegeben; sie hat die kaiserlichen Staatsgötzen abgethan."[1]
Doch während das frühe Christentum noch als Erretter der Menschheit gegen diesen als Politische Religion bezeichneten Kaiserkult aufgetreten sei, habe die römisch-katholische Kirche sukzessive einen neuen Kult um den „römischen Papstkönig" aufgebaut, der dem irdischen Personenkult der Politischen Religion in Nichts nachstehe und in Form des politischen Katholizismus die weltliche mit der religiösen Sphäre wieder aufs engste verbunden habe:
„Einst haben die römischen Christen ihr Blut vergossen, weil sie dem Cäsar die Anbetung verweigerten und die politische Religion verschmähten; heute beten sie zwar einen irdischen Herrscher nicht geradezu an, aber sie haben ihre Seelen dem Machtgebot des römischen Papstkönigs unterworfen."[2]
Wenige Jahre später findet sich der Begriff Politische Religion in der vierten, neubearbeiteten Auflage (1905) von Harnacks bereits 1893 erstmals veröffentlichten Dogmengeschichte wieder und unterstreicht pointiert die altbekannte Lesart des Begriffs im Sinne eines Personenkults:
„Diese heidnische religiöse Gesammtmacht hatte ihre Pole am Kaiserkult einerseits (politische Religion), an der romantisch-idealistischen Philosophie andererseits, und ihre Stärke an der Geschichte, nämlich an der griechisch-römischen Kultur."[3]
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[1] Harnack: Das Wesen des Christentums, S. 123.
[2] Ebd., S. 163f.: „Das Evangelium sagt: ,Christi Reich ist nicht von dieser Welt,' [Joh. 18, 36; Anm. Verf.in]
diese Kirche aber hat ein irdisches Reich aufgerichtet; Christus verlangt, daß seine Diener nicht herrschen, sondern dienen, diese Priester aber regieren die Welt; Christus führt seine Jünger aus der politischen und der ceremoniösen Religion heraus und stellt jeden vor das Angesicht Gottes - Gott und die Seele, die Seele und ihr Gott -, hier dagegen wird der Mensch mit unzerreißbaren Ketten an ein irdisches Institut gebunden und soll gehorchen; dann erst mag er sich Gott nahen. Einst haben die römischen Christen ihr Blut vergossen, weil sie dem Cäsar die Anbetung verweigerten und die politische Religion verschmähten; heute beten sie zwar einen irdischen Herrscher nicht geradezu an, aber sie haben ihre Seelen dem Machtgebot des römischen Papstkönigs unterworfen."
[3] Adolf von Harnack: Dogmengeschichte. Vierte verbesserte und bereicherte Auflage. Tübingen 1905, S. 31.
Im ersten Band seiner im darauffolgenden Jahr veröffentlichten Schrift Die Mission und Ausbreitung des Christentums in den ersten drei Jahrhunderten wird der Zusammenhang zwischen Politischer Religion und der „Menschenvergötterung" bzw. Legitimierung und Sicherung der weltlichen Herrschaftsmacht durch die Erhebung des weltlichen Herrschers in einen gottgleichen oder zumindest gottgesandten Status erneut verdeutlicht:
„Trotz der inneren Entwicklung des Polytheismus zum Monotheismus bezeichnet der Gegensatz zwischen beiden das Verhältnis von Christentum und Heidentum, und zwar kommt der Polytheismus in erster Linie als politische Religion (Kaiserkult) in Betracht."[1]
Diese Divinisierung der diesseitigen Herrschergestalt kann zur Folge haben, dass eine Kritik an weltlichen Herrschern bzw. Machtverhältnissen im Umkehrschluss als Kritik an der Religion im Sinne einer Gotteslästerung gedeutet werden könne. Dementsprechend könne eine Politische Religion Harnacks Definition folgend nicht nur die weltliche Herrschaft legitimieren, sondern liefere gleichzeitig ein Allround-Argument gegen jede Form von Kritik gegen den weltlichen Machtanspruch sowie gegen die Herrschaftsausübung. Im weiteren Textverlauf findet sich auch die von Harnack in Das Wesen des Christentums verarbeitete Heroisierung des Christentums als Erretter und Erlöser der Menschheit von der Politischen Religion wieder, bei der es sich um eine bereits bekannte Darstellung aus oben erwähnten Schriften des 17. und 18. Jahrhunderts handelt. Mit textgestalterischer Hervorhebung unterstreicht Harnack seine im Vergleich etwas weniger pathetisch formulierte Feststellung: „Das Christentum hat die politische Religion entwurzelt."446
Wie schon ähnlich für andere Autoren herausgearbeitet werden konnte, war der Begriff Politische Religion ein Bestandteil des Harnackschen Begriffsrepertoires, dennoch wurde dem Begriff in seinen Schriften keine besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Harnacks Politische Religion richtet sich als Negativbegriff gegen eine Verquickung von religiösen und politischen Bereichen und gegen die Divinisierung der diesseitigen Herrschaftssphäre in Gestalt eines Personenkultes zur Legitimierung des weltlichen Machtanspruchs. In seiner Kritik zielt er unter anderem gegen den zeitgenössischen politischen Katholizismus mit der Deutschen Zentrumspartei , aber auch gegen politische Ambitionen protestantischer Gruppierungen, welche die Bildung einer protestantischen Partei als Gegengewicht zum katholischen Flügel im Parlament des deutschen Kaiserreichs anstrebten.
Das Harnacksche - wie auch das Arndsche - Begriffsverständnis der Politischen Religion wirkt wie ein Omen hinsichtlich der kommenden modernen, totalitären Herrschaftssysteme des 20. Jahrhunderts, die zur Verbreitung und Festigung ihrer kommunistischen, faschistischen bzw. nationalsozialistischen Ideen mitunter auf propagandistische Mittel des Personenkultes zurückgriffen, der eng mit der über den politischen Bereich erhobenen, jeweiligen Ideologie verknüpft wurde. In zahlreichen zeitgenössischen Schriften der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wird der Begriff Politische Religion im Sinne einer Sakralisierung diesseitiger Wirklichkeiten wie politischer Ideen oder gar politischer Führungspersonen gedeutet, wie zum Beispiel nicht zuletzt von Eric Voegelin 447
Insgesamt kann festgestellt werden, dass der Begriff Politische Religion von verschiedenen Verfassenden bezugnehmend auf polytheistische Religionssysteme, dabei im Überwiegenden auf das griechische sowie das römische Staatswesen rekurrierend, verwendet wurde. Vereinzelt konnten Quellenbelege (zum Beispiel Herder) gefunden werden, in denen auf die Existenz anderer polytheistischer Glaubenskonzepte verwiesen wird, die als Politische Religion zu
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[1] Harnack: Mission und Ausbreitung, S. 21.
[1] [2] definieren seien. Im Gegensatz zu den Kontextualisierungen des Begriffs Politische Religion auf Judentum und Islam, die bereits im 17. Jahrhundert belegbar sind, konnten erste Quellenbelege mit einer Bezugnahme auf polytheistische Religionssysteme schon in einer Schrift des 16. Jahrhunderts, aber nicht in Schriften des 17. Jahrhunderts ermittelt werden. Erst im 18. Jahrhundert tauchte der Begriff Politische Religion in diesem Kontext wieder auf. Des Weiteren wurde diese Semantik in verschiedenen Sprachräumen verwendet und fand - ähnlich zum Islam als Politische Religion - ihren Niederschlag in Nachschlagewerken. Die Charakterisierung (antiker,) polytheistischer Religionen und insbesondere der antiken griechischen und römischen Religion als Politische Religion, deren belegbare Ursprünge bis ins beginnende 18. Jahrhundert zurückreichen, wurde und wird von einigen Autoren des 20. und 21. Jahrhunderts fortge- führt.[3]
Das erste Hauptkapitel abschließend sollte festgehalten werden, dass der Begriff Politische Religion im deutschen Sprachraum bereits mit dem beginnenden 17. Jahrhundert fast ausschließlich als Negativbegriff genutzt wurde. Sonnte sich die Politische Religion im 16. Jahrhundert noch im Antlitz einer konnotativen Neutralität, entwickelte sich der Begriff bereits im 17. Jahrhundert zu einer Polemik mit entsprechend negativer Konnotation in der Begriffsverwendung, die in verschiedenen Kontextualisierungen des Begriffs Politische Religion zum Einsatz kam. Ein bereits im 17. Jahrhundert populäres Anwendungsgebiet dieses nun negativ kon- notierten Begriffs bildeten inner- und interkonfessionelle Auseinandersetzungen innerhalb der christlichen Glaubensgemeinschaften sowie interreligiöse Streitigkeiten, die in diesem Hauptkapitel untersucht wurden. Aufgrund dieses vergleichsweise plötzlich anmutenden konnotativen Wandels, der sich nachweislich im 17. Jahrhundert nicht nur in deutschsprachigen Quellen findet, liegt die bereits oben geäußerte Vermutung nahe, dass der Begriff Politische Religion bereits im 16. Jahrhundert als Negativbegriff herangezogen wurde und es eher dem Zufall zuzuschreiben ist, dass im Rahmen der Quellenrecherche zu dieser Studie zwei Fundstellen gefunden wurden, die den Begriff in einer wertfreien Lesart nutzen.
Des Weiteren unterlag der Begriff keiner exklusiven Verwendung zur Charakterisierung oder Polemisierung einer bestimmten Glaubensvorstellung und wies stattdessen schon im 17. Jahrhundert ein recht vielfältiges Verwendungsfeld im religiösen und konfessionellen Kontext auf, das in den darauffolgenden Jahrhunderten durch die Hinzunahme weiterer Glaubensrichtungen vergrößert wurde - sowohl Monotheismen, als auch Polytheismen oder auf Gottheiten
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[1]446 Ebd., S. 247 [Hervorhebungen im Original]: „Praktisch von noch größerer Wichtigkeit als der Kampf gegen
[2]die Götterwelt und den Götzendienst war der Kampf gegen die Menschenvergötterung. Dieser Kampf, der seine Spitze in der radikalen Verwerfung des Kaiserkultus hatte, bedeutete zugleich den entschlossenen Protest gegen die Vermischung von Religion und Patriotismus, also gegen jenen Staatskultus, in welchem der Staat (seine Repräsentation im Kaiser) selbst Gegenstand des Kultus war. Ein Hauptzweck und ein Haupterfolg der christlichen Religion ist es gewesen, eine scharfe Grenze zu ziehen zwischen der Anbetung Gottes und der Ehrfurcht gegen den Staat und seine Leiter. Das Christentum hat die politische Religion entwurzelt."
447 Ein kleiner Ausblick zu Autoren, die den Begriff Politische Religion im Kontext des Nationalsozialismus bereits vor Eric Voegelin verwendeten, wird im zwölften Kapitel dieser Arbeit bereitgestellt.
[3] Als in der Geisteswissenschaft prominentes Beispiel eines Verfechters des Begriffs Politische Religion sei an dieser Stelle verwiesen auf Hans Maier: Politische Religionen. Die totalitären Regime und das Christentum. Freiburg i. B. 1995, hier S. 104f. Im 21. Jahrhundert findet sich diese Kontextualisierung bspw. in der Dissertation von Andreas Rieß, der im Verlauf seiner Arbeit von einer Erwähnung „der antiken politischen Religion" hin zu einer Interpretation totalitärer Herrschaftssysteme des 20. Jahrhunderts - hier insbesondere der Nationalismus und der Bolschewismus - als Politische Religion wandelt (Andreas Rieß: Eine Ideengeschichte der Freiheit. Die liberale Idee im Zeichen des theologisch-politischen Problems. Diss. München 2012, Zitat S. 50).
verzichtende Religionen werden in den ermittelten Fundstellen der Kritik unterworfen, eine Politische Religion zu sein oder zu betreiben. Folglich kann bereits für das 17. Jahrhundert von einer gewissen Universalität in der Anwendbarkeit des Begriffs gesprochen werden, was - wie im folgenden Hauptkapitel gezeigt wird - auch auf weitere Themenfehler innerhalb theologischer und religionsphilosophischer Auseinandersetzungen zutrifft.
Gleichfalls ist die ermittelte Autorenschaft sehr heterogen zusammengesetzt und kommt aus verschiedenen Berufs- und Konfessionsgruppen, so dass der Begriff auch keinem exklusiven Gebrauch durch eine bestimmte Personengruppe unterlag, obgleich gewisse konfessionelle Ungleichgewichte auch für die Verwendung der Politischen Religion im Bereich nichtchricht- licher Glaubenskonzepte erarbeitet werden konnten - es sind vor allem auffällig viele protestantische Gelehrte, die sich dem Begriff in diesem Anwendungsfeld bedienten. Wie im Abschluss des ersten Kapitels bereits erwähnt, könnte dieses Ungleichgewicht insbesondere in dem von katholischen Gelehrten favorisierten Gebrauch des Lateinischen begründet liegen, das in dieser Arbeit nur am Rande erwähnt wird und auch in der Recherchephase nur marginal Beachtung fand. Daher sollte dieser protestantischen Übergewichtung im Ergebnis nur mit Vorsicht und dem Verweis auf den Fokus dieser Untersuchung auf deutschsprachige Quellen begegnet werden.
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