1.2.2. 18. Jahrhundert
Eine erste lexikale Erwähnung des Begriffs Politische Religion zur Umschreibung des Islams konnte in Veröffentlichungen des 18. Jahrhunderts recherchiert werden. 1687 veröffentlichte der Rechtsgelehrte Johann Christoph Nehring (verst. 1682?) sein Manuale Juridico-Po- liticum, Diversorum Terminorum, Vocabulorum Oder Hand-Buch, welches nach seinem Tod in mehreren Ausgaben unter dem Titel Historisch-Politisch- und Juristisches Wörter-Buch oder Lexicon neuaufgelegt und mitunter um zusätzliche, im Original nicht vorhandene Artikel erweitert wurde. Die 1756 herausgegebene zehnte Neuauflage stammt aus der Feder des Rechtswissenschaftlers Christian Gottlieb Riccius (1697-1784), der Nehrings Erstausgabe unter anderem mit einen Eintrag zum islamischen Propheten und Religionsstifter Mohammed ergänzte. Mohammed wird hier umschrieben als
„der Stifter einer neuen politischen Religion, die sich nach der Heydnischen fast am weitesten auf der Erde ausgebreitet hat."[1]
Die Wortwahl innerhalb der Erörterung zu Mohammed macht deutlich, dass auch Riccius den Begriff Politische Religion nicht exklusiv zur Beschreibung eines bestimmten Glaubenskonzeptes verwendet, wie etwa an dieser Stelle der islamischen Religion, sondern zum Beispiel auch heidnische Religionsformen als Politische Religion interpretiert. In der Erwähnung des Heidentums und des Islams als Politische Religion könnte der Hinweis liegen, dass sich der Begriff im Wesentlichen auf eine Kritik an einer fehlenden Trennung von Religion und Politik bezieht. Im weiteren Verlauf des Lexikoneintrages beschreibt der Verfasser die islamische Religion als einen Synkretismus aus christlichen und jüdischen Versatzstücken, vermengt mit den eigenen Ideen des Religionsstifters Mohammed, dessen Theologie und Glaubensschrift kein Resultat einer Offenbarung Gottes, sondern ein rein menschliches Machwerk sei. Die Erschaffung des Islams sei nach Riccius eine rein gesellschaftspolitische und gemeinschaftsstiftende Entscheidung Mohammeds gewesen, um dem voranschreitenden Glaubensverlust und dem damit einhergehenden gesellschaftlichen Verfall entgegen zu wirken.[2]
Es kann vermutet werden, dass sich die Verwendung des Begriffs Politische Religion in
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[1] [Anon.]: Art. „Mahomed", in: Johann Christoph Nehrings Historisch-, Politisch- und Juristisches WörterBuch oder Lexicon. Zehnte vermehrte Auflage, hrsg. v. Christian Gottlieb Riccius. Gotha 1756, S. 323. Dieser Eintrag zum Stifter der islamischen Religion findet sich erst in der hier vorgestellten zehnten, erweiterten Auflage von Nehrings Lexikon in dieser Form.
[2] „Zu seiner Zeit war sein Vaterland in der gröbsten Abgötterey, das Judenthum in Abgang, und das Christen- thum durch den übertriebenen Bilder-Dienst in höchsten Verfall gerathen. Dieses veranlassete ihn, als er sich durch die Heyrath einer reichen und listigen Wittwer in gute Umstände etwas wichtiges zu unternehmen gesetzt sahe, eine neue Religions- und Glaubens-Verfassung, theils aus den Jüdischen, und Christlichen LehrSätzen, theils aus seinen eignen Einfällen zu verfertigen, die bey Unverständigen den Vortheil und Vorzug hatte, daß sie dem Verstande eben nicht schwehr den sinnlichen Begierden aber desto angenehmer fiel." (ebd., S. 323).
diesem Beispiel sowohl auf polytheistische als auch monotheistische Glaubenskonzepte beziehen kann. In Riccius zehnter Auflage findet sich kein Eintrag zum Heidentum, weswegen nicht gegengeprüft werden kann, ob der Begriff tatsächlich zur Umschreibung des Heidentums verwendet worden wäre. Eine Charakterisierung des Begriffs Politische Religion oder weitere Verwendungsbeispiele fehlen sowohl in dem vorgestellten Eintrag als auch in der gesamten restlichen zehnten Neuauflage und konnten auch in anderen Neuauflagen nicht ermittelt werden. Dennoch kann festgestellt werden, dass Nehring - ähnlich dem oben vorgestellten Eintrag „Ceremonien (antiquarisch.)" in der Deutschen Encyclopädie - dem als Politische Religion bezeichneten Glaubenskonzept eine Schwerpunktsetzung auf sinnstiftende Elemente abspricht.
Bis ins 20. Jahrhundert hinein finden sich Einträge in Nachschlagewerken zu Mohammed oder der islamischen Lehre, in denen auf den Begriff Politische Religion zurückgegriffen wird. Diese Fundstellen beschränken sich nicht nur auf den deutschsprachigen Raum: Der deutsche Orientalist Theodor Nöldeke (1836-1930) widmet sich im 1878 veröffentlichten sechzehnten Band der neunten Auflage der Encyclopedia Britannica mit einem Eintrag dem Mohammedanism, in welchem er über die von Mohammed gestiftete Religion urteilt:
„Mohammed's hostility to the Jews found expression, in the first instance, theoretically more than practically, and especially in the care with which he now differentiated certain important religious usages which he had taken over from Judaism, so that they became distinguishing marks between Islam and Mosaism. Thus, for example, he altered the direction of prayer (Kibla), which formerly used to be towards Jerusalem, so that now was towards Mecca; and for the fast on the 10th of Tisri ('Ashura) he substituted that of the month of Ramadan. [...] Of these alterations the greatest in positive importance is the transference of the Kibla to Mecca. It symbolizes the completion of the Arabizing process which went on step by step with the change which Islam underwent from being an individual to being a political religion."[1]
Nöldeke gesteht dem Islam zu, nicht von Beginn an eine political religion gewesen zu sein; entsprechende Wesenszüge einer political religion hätten sich erst im Kampf gegen das Judentum herauskristallisiert und weiterentwickelt. Eine Umschreibung dieser Wesenszüge fehlt genauso wie ein Hinweis auf die Frage, ob nur der Islam als political religion charakterisiert werden könne oder andere Religionssysteme gleichfalls unter dieses Stigma fallen.
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[1] Th. N. [Theodor Nöldeke]: Art. Mohammedanism, in: The Ecyclopxdia Britannica. A Dictionary of Arts, Sciences, and General Literature. Ninth Edition. Volume XVI, Edinburgh 1878, S. 545-607, Zitat S. 553. Eine etwas gekürzte Fassung des Eintrags erschien 25 Jahre später in der #ew Americanized Ecycloptedia Britannica: [Theodor Nöldeke]: Art. Mohammedanism, in: New Americanized Ecyclopxdia Britannica. Volume 7, Chicago 1903, S. 4265-4275, hier S. 4268.
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