1.2. 18. Jahrhundert
Die für das 17. Jahrhundert erarbeitete unterschiedliche Kontextualisierung des Begriffs Politische Religion innerhalb interkonfessioneller Auseinandersetzungen christlicher Glaubensgruppen und die zum Teil stark polemisierende Begriffsverwendung kann auch in Schriften des 18. Jahrhunderts belegt werden. Eine exklusive Nutzung durch eine bestimmte Konfessionsgemeinschaft oder bezogen auf eine spezifische religiöse Gruppierung kann auch dort nicht
festgestellt werden. Allerdings ist auffallend, dass sowohl im 17. Jahrhundert wie auch in den darauffolgenden Jahrhunderten besonders in theologischen Publikationen eine negative Konnotation innerhalb der angewandten Semantiken des Begriffs Politische Religion erhalten blieb.
Eine Polemik gegen den römisch-katholischen Papst wird beispielsweise in einer 1705 veröffentlichen Ausgabe der im protestantischen Raum verlegten Zeitschrift Die europäische Fama, welche den gegenwärtigen Zustand der vornehmsten Höfe entdecket in dem Artikel Von Italien offenbar. Der Herausgeber Philipp Balthasar Sinold genannt von Schütz (1657-1742) thematisierte in dieser Ausgabe die mit dem Tod des spanischen Königs Karl II. (1661-1700), der keine männlichen Nachkommen hinterließ, im Raum stehende Frage der Nachfolge für den spanischen Thron. Aufgrund der bereits wenige Jahre vor dem Tod des Königs einsetzenden Verschlechterung seines Gesundheitszustandes drängte sich die Frage der spanischen Herrschaftsnachfolge schon zu seinen Lebzeiten in die europäische Diplomatie und wurde Gegenstand der Begehrlichkeit verschiedener Herrscherhäuser, die sich mittels testamentarischer Verfügungen des noch lebenden spanischen Königs einen Anspruch zu sichern versuchten. Karl II., aufgrund seiner körperlichen und geistigen Schwächen lediglich eine Marionette im politischen Machtkampf, unterschrieb (ohne sein Wissen) sich widersprechende Testamente mit unterschiedlichen Begünstigten in der Thronfolgerfrage, womit der Spanische Erbfolgekrieg (17011714) - neben den bourbonischen und habsburgischen Ansprüchen auf den Spanischen Thron - zusätzlich begünstigt wurde.
Der vier Jahre nach Ausbruch der Erbfolgestreitigkeiten publizierte Beitrag Von Italien beschäftigt sich mit der Frage nach dem tatsächlich von Karl II. bzw. dessen Beratern für die spanische Thronfolge testamentarisch bestimmten Anwärter und zitiert in deutscher Übersetzung wohl einen Beichtbrief des Grafen von Melgar, Juan Tomas Enriquez de Cabrera (16461705), an den Papst, in welchem der Graf seine anfängliche Mitwirkung an einer Intrige gesteht, den Bourbonen Philipp V. von Anjou (1683-1746) mittels eines „untergeschobenen falschen Testament"[1] auf den spanischen Thron zu verhelfen. In Wahrheit sei stattdessen in „der ersten Clausul des unverfälschten ungeänderten Exemplars"[2] der zweite Sohn des römischdeutschen Kaisers Leopold I., Erzherzog Karl VI. (1685-1740), als Nachfolger Karls II. begünstigt gewesen. Seine Favorisierung der österreichischen Partei bezahlte der Graf von Melgar ab 1702 mit einem bis zu seinem Tod währenden Exil am portugiesischen Hof. Dennoch wich er zu Lebzeiten nicht von seinem Kampf zu Gunsten des Österreichers ab. Sinold genannt von Schütz gibt sich selbst als Befürworter einer Besteigung des spanischen Throns durch den österreichischen Erzherzog zu erkennen, kritisiert jedoch diesen an den Papst gerichteten schriftlichen Versuch einer Einflussnahme hinsichtlich der spanischen Erbfolgepolitik, da
„in Rom zwischen der Oesterreichischen und Frantzösischen Partie gleichsam ein Schisma entstanden / und der Bourbonismus (eine gantz neue Art von Politischen Religionen) auff dem vornehmsten Altar der Engelsburg angebetet wird."[3]
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[1] [Anon.]: Von Italien, in: Die Europäische Fama, Welche den gegenwärtigen Zustand der vornehmsten Höfe entdecket. Der XXIX Theil. Hrsg. v. Philipp Balthasar Sinold genannt von Schütz. [o. O.; Leipzig] 1705, S. 297-314, Zitat S. 300.
[2] Ebd., S. 299.
[3] Ebd., S. 303f.: „Wisset ihr nicht / daß in Rom zwischen der Oesterreichischen und Frantzösischen Partie gleichsam ein Schisma entstanden / und der Bourbonismus (eine gantz neue Art von Politischen Religionen) auff dem vornehmsten Altar der Engelsburg angebetet wird? Meinet ihr / bey demjenigen Hohen-Priester Absolution zu erlangen / der es vor gut ansiehet / daß das alte Oestereichische Stamm-Hauß vor die Ambition des XIV. den Ludwigs unterdrücket / oder die Deutschen Adler von dem Geruch der Frantzösischen Linien entkräfftet werden soll?"
Die Kritik ist gegen die Intervention des Papstes im Spanischen Erbfolgekrieg und seine Parteinahme für Philipp V. von Anjou gerichtet, die von dem Verfasser als beinahe fanatische Anbetung des „Bourbonismus"[1] aus Frankreich gedeutet wird, einer „gantz neue[n] Art von Politischen Religionen", die derzeit den römisch-katholischen Stuhl beherrsche; entsprechend blind und taub sei der Papst hinsichtlich kritischer Worte oder Argumente gegen Philipp V. von Anjou als neuen König Spaniens. Bemerkenswert ist an dieser Stelle der Zusatz, es handle sich um eine „gantz neue Art", eine neue Form von Politischer Religion, womit der Verfasser darauf hindeutet, dass weitere Ausdrucksformen von Politischer Religion zuvor existent waren oder neben dem Bourbonismus existent sind, jedoch ohne diese zu benennen oder näher zu umschreiben. Die verwendete Pluralform des Begriffs Politische Religion könnte einerseits zur Unterstreichung dieses Hinweises gedient haben, andererseits zu einer in der Zeit nicht unüblichen sprachlichen Verstärkung des Begriffs herangezogen worden sein. Insgesamt wird deutlich, dass der Verfasser unter dem Begriff eine zu enge Verflechtung des päpstlichen Stuhls mit dem weltpolitischen Geschehen subsumiert, die immer wieder in der Geschichte der römischkatholischen Kirche und des Papsttums vorzufinden sei.
Gleichfalls als Polemik gegen die römisch-katholische Kirche gerichtet taucht der Begriff Politische Religion in einem Kurzbeitrag in der von Karl Christoph Reiche (1742-1794), ein seines Amts enthobener Pfarrer und später Buchhändler, herausgegebenen Allgemeinen synchronistischen Weltgeschichte auf, in dem der byzantinische Bilderstreit bzw. die Beendigung der ersten Phase im Zweiten Konzil von Nicäa im Jahr 787 kurz thematisiert wird. Der „Spruch des Conciliums"[2] von Hiereia im Jahr 754, der jeglichen Bilderdienst verurteilte, wurde 33 Jahre später in dem von der Kaiserin Irene (752-803) einberufenen Konzil dahingehend verworfen, dass die Ikonenverehrung wieder erlaubt wurde, die Anbetung von Ikonen blieb hingegen ausdrücklich verboten. In dem Kurzbeitrag wird ein nicht näher bestimmtes Zitat angeführt über die Anordnung, Ikonoklasten bzw. ikonoklastische Handlungen aus der christlichen Gemeinschaft zu verbannen, dem der Herausgeber der Weltgeschichte eine Anmerkung in Fußnotenform hinzufügte:
„So haben, zu aller Zeit, die armen Menschen glauben sollen, und glauben müssen, nicht das, was die Vernunft, und was auch Christus, uns, als Wahrheit lehren, sondern immer das, was der Fürst, und was die Priester, nach Grundsätzen ihrer Politik, aus eiteler Gewinnsucht, oder auch aus Furcht, für gut und nützlich hielten. So sind in der Folge, die Priester der Christen gezwungen, ja vereidet worden, diese politische Religionen [sic] zu lehren; und welche Religion hat derowegen Wurzelfassen können?"[3]
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[1] Gemeint ist hier eine Anhängerschaft zum königlichen Haus von Bourbon. Der Begriff Bourbonismus wurde im Sinne eines Pejorativs oft als Kritik an Ultraroyalisten oder Verbundenheit zur französischen Monarchie verwendet.
[2] „Unsere Kaiserin hat ihre Absicht, mit der Wiederherstellung des Bilderdienstes, glücklich durchgesetzt, und auf einem, in diesem Jahre, zu Nicäa angestellten allgemeinen Concilium, den Spruch des Conciliums, welches im Jahr 754, den Bilderdienst als eine wahre Abgötterey verwarf, vernichten, und dagegen festsetzen lassen: - ,daß der, der den Bilderdienst hindern, und bestreiten würde, als ein gottloser Mensch, von aller Gemeinschaft mit der christlichen Kirche aus geschlossen, und in den Bann gethan sein solle.'" ([Anon.]: Art. Nach Christi Geburt 787. Constantinopel, in: Gesellschaft deutscher Gelehrter [Hg.]: Allgemeine synchronistische Weltgeschichte, oder Zeitungen aus der alten Welt. Mit Landkarten und Register. Fünfter Theil: Von Carl dem Großen, bis auf Kaiser Conrad den Zweyten, oder vom Jahr der Welt 4751 bis 5007, oder vom Jahr Christi 768 bis 1024. Berlin, Halle 1781, S. 38f., Zitat S. 38).
[3] Ebd., S. 38f.
Der Verfasser äußert sich in dieser Fußnote abwertend und ablehnend über eine Instrumentalisierung der christlichen Religion durch weltliche und geistliche Herrschaftsgewalt zur Erfüllung ihrer weltlichen Sehnsüchte, in deren Folge Fürsten wie Priester gegenüber den Laien jene religiöse Wahrheit zugunsten ihrer weltlichen Ziele ausgestalten - wie etwa anhand des byzantinischen Bilderstreits und der Einflussnahme weltlicher Fürsten auf christliche Glaubenssätze verdeutlicht wird. Der byzantinische Kaiser und Ikonoklast Konstantin V. (718-775) habe mittels der Einberufung des Konzils von Hiereia 754 zur Unterstützung seiner bilderfeindlichen Politik analoge Glaubensgrundsätze für die breite Bevölkerung schaffen lassen, die 787 von Kaiserin Irene (752-803) entsprechend ihrer ikonodulischen Haltung im Bilderstreit im Ergebnis der Einberufung des Zweiten Konzils in Nicäa wiederum gelockert bzw. aufgehoben wurden. Die erzielten Ergebnisse in Glaubensfragen bei der Zusammenkunft religiöser Führungspersonen innerhalb von Konzilen seien demnach oftmals das Produkt der religiösen Haltung des weltlichen Herrschers gewesen, welcher das Konzil einberufen hat. Es sei dann die per Eid aufgezwungene Aufgabe „der Priester der Christen" gewesen, diese immer wieder neu ausgehandelten religiösen Wahrheiten, diese als Mittel zum Zweck geschaffene Politische Religion, unter den Anhängern als Lehre Jesu Christi zu verbreite
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