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1. Politische Religion als Polemik im Konflikt der verschiedenen christlichen Konfessionen

17. Jahrhundert

Der früheste bzw. erste deutschsprachige Quellenbeleg für eine frühneuzeitliche Verwendung des Begriffs Politische Religion konnte in der 1602 veröffentlichten deutschen Übersetzung der im gleichen Jahr erschienenen Schrift Le franc et veritable discours du Roi sur le retablissement qui lui est demande des Jesuites des französischen Rechtsgelehrten Antoine Arnauld (1560-1619) ermittelt werden. Arnauld wandte sich mit diesem Memorandum an den französischen König, um ihn vor einer Rückkehr der 1595 aus Frankreich ausgewiesenen Mitglieder und Anhänger der Societas Jesu und ihrer vermeintlichen Scheinpolitik der Friedlichkeit zu warnen.[1]

Dem Begriff Politische Religion begegnen die Lesenden allerdings nicht im Übersetzungstext von Arnaulds antijesuitischer Schrift, sondern in der Vorrede aus der Feder des Protestanten und Rechtsgelehrten Petrus Denaisius[2] (1560-1610), die der deutschen Übersetzung vorangestellt wurde und in der französischen Originalausgabe[3] nicht enthalten ist. In diesem Vorwort resümiert Denaisius die Ursachen, die zur Verbannung der Jesuiten aus Frankreich führten und kommt unter anderem zu dem Ergebnis, dass sie mit ihrer eigenen Strategie geschlagen worden seien, unliebsame Widersacher mittels Verleumdungen zur Strecke zu bringen.
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[1] Im Dezember 1594 hatte der Student Jean Chatel (1575-1594) versucht, den französischen König Heinrich IV. zu erdolchen. Das misslungene Attentat wurde als religiös motiviert und von Jesuiten initiiert eingestuft, woraufhin der Attentäter sowie sein vermeintlicher Anstifter, der Jesuitenpater Guignard (gest. 1595), hingerichtet und die Jesuiten aus Frankreich verbannt wurden. Der zum Katholizismus konvertierte Antoine Arnauld, ein Mitglied des Pariser Parlaments und zu den Kreisen um das Zisterzienser Frauenkloster Port Royal des Champs gehörend, spielte schon in dem Straf- und Ausweisungsverfahren als Gegner des Jesuitenordens eine herausragende Rolle. Dieser konfrontative und diffamierende Kurs sowohl gegen die Societas Jesu und ihre Anhänger als aber auch gegen Mitglieder der evangelischen Kirchen, hier im Speziellen gegen die Hugenotten, wurde von seinem Sohn, dem französischen Philosophen Antoine Arnauld (1612-1694), fortgesetzt. Einige Kinder von Antoine Arnauld wandten sich dem Jansenismus, einer besonders in Frankreich verbreiteten Bewegung in der katholischen Kirche, zu und waren wichtige Wegbereiter der religiösen Bewegung mit Zentrum um das Kloster Port Royal. Der Sohn Antoine wurde 1643 Führer der jansenistischen Bewegung, während seine Schwestern Angelique und Agnes als Äbtissinnen in dem Kloster tätig waren. Der Jansenismus spielt im Text von Leonard de Marande noch einmal eine Rolle.
[2] Denaisius entstammt einer lothringischen Hugenottenfamilie, die im Elsass Zuflucht fanden. Ab 1590 als Assessor am Reichskammergericht in Speyer tätig, widmete sich Denaisius nicht nur der Rechtswissenschaft, sondern auch dem literarischen Schaffen und der Übersetzung. Von seinem Jugendfreund Georg Michael Lingelsheim (1556-1636) wurde er zur Übersetzung der antijesuitischen Kampfschrift Arnaulds motiviert. Siehe hierzu: Klaus Garber: Wege in die Moderne. Historiographische, literarische und philosophische Studien aus dem Umkreis der alteuropäischen Arkadien-Utopie. Berlin 2012, S. 119ff.
[3] Der im gleichen Jahr veröffentlichten englischsprachigen Ausgabe Le franc discours, übersetzt von William Watson (1559-1603), wurde ebenfalls ein Vorwort vorangestellt. Politische Religion respektive political religio oder ähnliche englische Entsprechungen sind in diesem Vorwort nicht enthalten (Antoine Arnauld: Le franc discours. A discourse, presented of late to the French King, in answer of sundry requests made vnto him, for the restoring of the Iesuits into Fraunce, as well by theyr friends abroad, & at home, as by themselues in diuers Petitionarie Bookes. Übers. von William Watson. London 1602).

So hätten die Jesuiten sowohl Nicht-Mitglieder als auch Gegner der Societas Jesu und der jesuitischen Lehren als „Ketzer" oder „einer Politischen Religion anhengig" diskreditiert:

„Und zwar sie / die Jesuiter selbsten / haben inen wol gewiß diesen schein zu nütz zu machen / und vor langem den brauch gehabt / alle die jenigen / so ihnen zu weit in die charten sehen / andre vor ihrem spiel warnen / unn sich ihrem vornehmen entweders widersetzen oder auch nicht thei- lhafftig machen wollen / für Ketzer / oder ja für solche Leuth / die mit den Ketzern leichen / und einer Politischen Religion anhengig weren / auß zuschreien und offentlich zu beschüldigen."[1]

Der Begriff Politische Religion wird an dieser Stelle als ein negativ konnotierter Ausdruck mit der Intention verwendet, (vermeintlich) religiöse bzw. konfessionelle Gegner oder Außenstehende einer falschen Religionslehre zu diffamieren und im Resultat aus dem Kreis der Anhängerschaft einer vermeintlich wahren Religion zu exkludieren. Der Ausdruck dient somit einer Charakterisierung des Anderen, Konfessionsfremden und nicht zur eigenen Konfession Zugehörigen. Als Pejorativum ist die Charakterisierung als Politische Religion keiner bestimmten religiösen bzw. konfessionellen Religionsgruppe zugeordnet, sondern findet unabhängig religiöser oder konfessioneller Zugehörigkeiten der Adressierten (und vermutlich auch der Adressaten) Verwendung. Denn nach Denaisius würden Jesuiten alle Personen verdächtigen, einer „Politischen Religion anhengig" zu sein, die sich nicht zur jesuitischen Lehre bekennen. Bei genauer Betrachtung ist allerdings nicht ganz eindeutig, mit welcher Semantik der Begriff Politische Religion in diesem Quellenbeispiel belegt wird: Ist Politische Religion im Sinne eines allseits anwendbaren, polemischen Oberbegriffs zu deuten, der einzig die Funktion der Abgrenzung von der eigenen, vorgeblich wahren Religion mit sich führt, ohne dabei den Bedeutungshorizont und den möglichen Anwendungsbereich per se einzugrenzen - vergleichbar mit Begriffen wie etwa Ketzerei? Oder richtet sich die Kritik an eine Nähe bzw. zu enge Verbindung der geistlichen Ebene mit dem politischen Bereich eines Gemeinschaftsgefüges oder an eine (zunehmende) Verweltlichung des Klerus?

Die oben zitierte Passage ist die einzige Fundstelle in der gesamten deutschen Ausgabe zum Begriff Politische Religion, d. h. der Terminus wurde weder von Arnauld selbst in seinem französischen Originaltext verwendet, noch wurde von Denaisius ein von Arnauld verwendeter französischer Ausdruck mit dem Begriff Politische Religion übersetzt. Im Einleitungstext De- naisius' fehlen zudem Anhaltspunkte zur Klärung der Frage, ob es sich hierbei um einen von den Jesuiten selbst genutzten Ausdruck zur Diffamierung ihrer geistlichen wie weltlichen Konkurrenz handelt oder ob der Begriff allein dem Sprachgebrauch von Denaisius entsprungen ist. Einen Hinweis zu dieser Frage liefert der Übersetzungstext womöglich selbst: Hierin stoßen die Lesenden auf den lateinischen Terminus Politicos, der laut Arnauld polemisierend von Jesuiten gegen französische Staatsbedienstete und treue Anhänger der französischen Krone verwendet worden sei:

„In wehrendem ihren [der Jesuiten; Anm. Verf.in] ungewitter hiessen sie uns politicos. Jtzt dörf- fen sie das wort nicht mehr brauchen / es ist gar zu gemein worden / so erfinden sie ein newes / das ist irer gewönlichen list eine."[2]


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[1] Antoine Arnauld: Bedencken an die Königliche May. in Franckreich. Uber der Jesuiter bey deroselben gesuchten außsöhnung / und widereinkommung in ihrer May. Landen. Heidelberg 1602, unpag. [S. 2f. der Vorrede].
[2] Ebd., S. 97f. [Hervorhebung im Original]. In der französischen Originalfassung: „Pedant leurs tempestes ils nous appelloient politiques, ils n'osent plus user de ce mot, il est trop descrie, ils en forgent un nouveau, c'est leur ruse ordinaire" (Antoine Arnauld: Le franc et veritable discours du Roi sur le retablissement qui lui est demande des Jesuites. [o. O.] 1602, S. 102).

Wie an späterer Stelle der Arbeit anhand von anderen Publikationen des 17. Jahrhunderts gezeigt wird, findet man die Begriffe Politische Religion und Politicos des Öfteren in einer textlichen Nähe oder sogar in einer semantischen Beziehung zueinanderstehend. In dieser Kombination verweist der Begriff Politische Religion auf eine religiös oder konfessionell indifferente Haltung oder auf Mehrfachkonvertiten, die sich offenbar mit keiner bestimmten Konfession verbunden fühlen und ihre konfessionelle Zugehörigkeit nach politischen oder weltlichen Motiven zu wählen scheinen. Ob auch Denaisius dieser Semantik Arnaulds folgte, kann aus dem Textzusammenhang nicht zweifelsfrei ermittelt werden. Dass der Ausdruck Politische Religion von Denaisius ohne einen erläuternden Zusatz in den Raum gestellt wurde, lässt den Verdacht aufkeimen, dass es sich um einen zu dieser Zeit bereits mehr oder weniger bekannten respektive gebräuchlichen Ausdruck handelte, der keiner weiteren Umschreibung zum besseren Verständnis bedurfte. Daher kann nicht ausgeschlossen werden, dass sich der Begriff religio politica und entsprechende sprachregionale Lehnbegriffe bereits im 16. Jahrhundert aufgrund von innerkonfessionellen Streitigkeiten und im Zuge der Reformation entfesselter interkonfessioneller Konflikte in Europa als Negativbegriffe etablierten. Handelt es sich also bei der begrifflichen Komposition Politische Religion bereits im beginnenden 17. Jahrhundert um einen feststehenden Begriff, der zum Verständnis keiner Umschreibung mehr bedurfte?

In einer ähnlich unbestimmten Manier findet sich der Begriff im Bericht eines anonymen Verfassers, der 1694 in der Juni-Ausgabe der Monatsschrift Monatliche Unterredungen Einiger Guten Freunde Von Allerhand Büchern und andern annemlichen Geschichten erschien, die zwischen 1689 und 1698 von dem Protestanten Wilhelm Ernst Tentzel (1659-1707) herausgegeben wurde.[1] Der Verfasser setzt sich hierin mit der kurz zuvor veröffentlichten Publikation Gründlicher Bericht und Beweiß Vom Ursprung und Anfang Der Thüringer[2] des Schriftstellers und Chronisten Johann Just Winckelmann (1620-1699) auseinander, welcher sich, wie auf seinem Titelblatt explizit ausgewiesen, mit seiner Schrift „Denen Monatlichen Unter-Redungen entgegen gesetzt" wissen wollte. Denn Winckelmann hatte sich zuvor mit den Herausgebern der Monatliche[n] Unterredungen überworfen, nachdem seine etymologischen und geschichtswissenschaftlichen Untersuchungen zum Ursprung des Territorialnamens Thüringen und zur Abstammung des Thüringer Volkes in der Monatsschrift kritisiert bzw. später nicht mehr veröffentlicht wurden.[3]

Ziemlich am Ende der in den Monatliche[n] Unterredungen veröffentlichten Auseinandersetzung mit Winckelmann werden dessen Ausführungen zu Seneca thematisiert und kritisiert. Der Verfasser widerspricht Winckelmanns Einschätzung über Seneca als „heimlichen / nicht offenbahren Christen"[4] und führt unter anderem zur Argumentation und Entkräftung dieser
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[1] Wilhelm Ernst Tentzel (Hg.): Monatliche Unterredungen Einiger Guten Freunde Von Allerhand Büchern und andern annemlichen Geschichten. Allen Liebhabern Der Curiositäten Zur Ergetzligkeit und Nachsinnen heraus gegeben. Junius 1694, S. 409-510.
[2] Johann Just Winckelmann: Gründlicher Bericht und Beweiß Vom Ursprung und Anfang Der Thüringer / Daß selbige ihren Namen weder von dem Gothischen Götzen Thoro, noch anders woher / sondern von den Doriis oder Dorienstern aus Asia herführen / welche Völker in den Niederlanden das Königreich Thüringen aufgerichtet / letzlich über den Rhein durch der Chatten-Land in das itzige Thüringen sich begeben / und ihnen den alten wohlerbrachten Namen mitgetheilet haben. Bremen 1694.
[3] Siehe hierzu die unterschiedlichen Darstellungen der einzelnen Streitparteien: Einerseits die Sicht von Winckelmann (ebd., S. 5ff.) und andererseits die Gegendarstellung des Verfassers der Antwort in den Mo- natliche[n] Unterredungen von Juni 1694 (Tentzel: Monatliche Unterredungen, S. 409ff.).
[4] Ebd., S. 507: „Woraus die vertrauliche Correspondenz, welche S. Paulus mit dem Seneca, als einem fürtreff- lichen Philosopho, wolfliessenden Redner / und herrlichen Staats-Mann / von Gott und der Natur erleuchtet / in mit einem heimlichen / nicht offenbahren Christen geführet / klar zuersehen."

Einschätzung das Werk De Civitate Dei von Augustinus an. Demnach könne Seneca eben nicht dem Christentum zugehörig gerechnet werden,

„Weil die allegata aus seinem Buche adversus superstitiones, so Augustinus Lib. VI. de Civ. Dei cap. X. macht / klärlich zeigen / daß er ein Scepticus, kein Christianus gewesen / und eine Politische Religion nur zum Schein begehret / wenn er / zum Exempel einem weisen Mann räth / ut omnia (in Deorum cultu) feruet tanquam legibus iussa, non tanquam Diis grata."[1]

An der im Zitat angegebenen Textstelle in Augustinus' De Civitate Dei heißt es:

„Unde in his sacris civilis theologiae has partes potius elegit Seneca sapienti, ut eas in animi religione non habeat, sed in actibus fingat. Ait enim: quae omnia sapiens servabit tamquam legibus iussa, non tamquam diis grata."[2]

Was der Verfasser mit seinen eigenen Worten als Politische Religion wiedergibt, wurde von Augustinus als „civilis theologiae" bezeichnet und sollte eher mit dem Begriff Ziviltheologie oder Staatstheologie übersetzt werden. Der Begriff Politische Religion wird somit streng genommen vom Verfasser nicht selbst verwendet, womit sich das Verständnis und die negative Konnotation des Begriffs Politische Religion in diesem Fall aus der Schrift von Augustinus ergibt und keiner eigenen Definition des Verfassers der Monatliche[n] Unterredungen folgt. Dennoch sollte festgehalten werden, dass sich der Autor bei der Wiedergabe der betreffenden Stelle der De Civitate Dei entgegen einer üblichen Übersetzung von theologia civilis für eine Benutzung des Begriffs Politische Religion entschied. In diesem Falle scheint der Verfasser die Begriffe als Synonyme oder in einem anderweitigen semantischen Verhältnis zueinanderste- hend zu begreifen. Eine nähere Untersuchung des Begriffsverständnisses von Politische Religion ist auch hier - wie auch in vielen nachfolgenden Quellen - nicht möglich, da sich eine Verwendung des Begriffs nur an dieser einen Stelle des vorliegenden Textes und den Ausgaben von 1694 insgesamt findet.

Mit einer gezielt gegen die römisch-katholische Kirche gerichteten Polemik verwendete der Bürgermeister von Bautzen (damals: Budissin) und evangelische Rechtsgelehrte Matthäus Göbel (1630-1698) den Terminus Politische Religion in seiner 1684 unter dem Pseudonym Theodosius Gibellinius veröffentlichten Schrift Caesareo - Papia Romana.[3] Hierin geht er
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[1] Ebd., S. 508.
[2] Augustinus: De Civitate Dei, Lib. VI, Cap. X. Deutsche Übersetzung von Alfred Schröder: „Deshalb hat nach Seneca der Weise seine Rolle gegenüber diesen Einrichtungen der Staatstheologie sich nicht innerlich eigen zu machen, sondern nur äußerlich zu spielen. Er sagt nämlich: ,All das wird der Weise beobachten, weil es geboten ist durch die Gesetze, nicht weil es den Göttern annehmlich wäre.'" (Des heiligen Kirchenvaters Aurelius Augustinus zweiundzwanzig Bücher über den Gottesstaat. Aus dem Lateinischen übers. von Alfred Schröder [= Des heiligen Kirchenvaters Aurelius Augustinus ausgewählte Schriften 1, Bibliothek der Kirchenväter, 1. Reihe, Bd. 1]. Kempten, München 1911).
[3] Der Titel ist an den Begriff Cäsaropapismus angelehnt, womit eine gesellschaftliche Form beschrieben wird, in der weltliche und religiöse Herrschaft im Staatsoberhaupt vereint werden und die geistliche Macht zumindest der weltlichen Herrschaft untergeordnet ist. Theodosius Gibellinus [Matthäus Göbel]: Caesareo - Papia Romana, Darinnen Die Begebnisse / Gelegenheiten und Beheimnisse des Bäbstl. Stuhls zu Rom / durch welche sich der Pabst zum Herrn der Christenheit gemachet / auch sich annoch in seiner Hoheit erhält / Wie auch Die Päbstische Römische Staats-Religion der Christl. Welt politisch vorgestellet werden. Franckfurt und Leipzig 1684. Im weiteren Verlauf mit folgendem Kurzverweis zitiert: Gibellinus: Caesareo.
1691 veröffentlichte der Verleger Moritz Georg Weidmann eine unbearbeitete Neuauflage der Schrift, die lediglich kleine inhaltlich unwesentliche Abweichungen aufweist. Eine dritte Auflage der Caesareo von 1694 wird im Vorwort der vierten Auflage erwähnt (Matthäus Göbel: Caesareo - Papia Romana. Worinnen Die politischen Geheimnisse Des Päbstlichen Stuhles Durch welche Derselbe eine Ober-Herrschafft über die Christenheit einzuführen getrachtet / und sich bißhero in seiner Hoheit erhalten hat, vorgestellt werden. Dritte [vierte] Auflage. Bey welcher die noch niemahls gedruckten Erläuterungen des seel. Autoris eingerücket worden. Leipzig, Budißin 1720, Vorwort, unpag. [S. 24]), konnte aber nicht ermittelt werden. Die vierte Auflage mit bis dato unveröffentlichten, zusätzlich beigefügten Erläuterungen Göbels wurde 1720 von David Richter verlegt. Die vierte, erweiterte Auflage wird im Folgenden mit dem Kurzverweis zitiert: Göbel: Cae- sareo.

unter anderem der Frage nach,

„womit die Päbste ihre politische Religion / noch biß itzo befestigen / auch ihre Beypflichter beständig darbey erhalten."[1]

Diese Politische Religion der römisch-katholischen Päpste - oder auch „Päbstliche Reli- gion"[2] - wird an anderen Stellen auch als „politische Staats-Religion"[3] bezeichnet, eine „von viel hundert Jahren her / erfundene"[4] und „künstlich geschmiedete"[5] Religion, deren Schwerpunkt darauf liege, ihre „Lehre / nach dem Staat / einzurichten".[6] Folglich sei die päpstliche Kirchenlehre nicht aus der Quelle göttlicher Offenbarung entsprungen, sondern das Produkt weltlicher und politischer Machtinteressen von Oberhäuptern der römisch-katholischen Kirche und weltlichen Herrschern. Von Bedeutung für die Aufrechterhaltung der päpstlichen Machtstellung seien insbesondere die Konzile von Trient gewesen,

„darinnen Er [der Papst; Anm. Verf.in] / wider das Herkommen der Kirchen und gesunde Ver- nunfft / Selbst Part und Richter gewesen / nichts anders gesucht; als daß durch dasselbe Sein politische Religion stabiliret / deßwegen ein beständig Corpus doctrinae formiret / Seine Autho- rität höher / als die Concilia aestimiret / und mithin die Römisch-gesinnete Christenheit / daß es führohin keine Concilien mehr bedürffen werde / schändlich beredet werden möchte."[7]

Die päpstliche Macht und Herrschaftsausübung werden als eine Politische Religion diffamiert, die durch den Papst zu einer „Staats-Religion"[8] ausgebaut worden sei, mit dem Ziel, die päpstliche Autorität nicht nur auf geistlicher, sondern vor allem auf politischer Ebene zu stabilisieren und zu stärken. Der Begriff politisch steht in Göbels Caesareo nicht synonym für weltlich, sondern bezieht sich auf einen Teilbereich des Weltlichen und zwar auf das Staats- bzw. Reichswesen und dessen Lenkung. Dies wird in Textstellen deutlich, in denen das Adjektiv politisch in einer Reihe mit anderen begrifflichen Spezifizierungen für andere Teilbereiche das Weltliche betreffend verwendet wird.[9]


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[1] Gibellinus: Caesareo, S. 521.
[2] Siehe bspw. ebd., S. 381, 478, 522, 795.
[3] Siehe etwa die Titelüberschrift des dritten Kapitels im dritten Teil, „darinnen ausführlich gemachet wird / wie die Päbste ihre politische Staats-Religion / nach den Concilio Tridentino, biß auf den heutigen Tag erhalten / und ihre Glaubens-Genossen / an dieselbe / sehr künstlich und feste verknüpfen" (ebd., S. 476).
[4] Ebd., S. 402: „II. Das allervornehmste aber / damit Sie Ihre / von viel hundert Jahren her / erfundene StaatsReligion / gleich als mit einen starcken Pfeiler / unterstützet / ist das Concilium Tridentinum."
[5] Ebd., S. 620f.: „Damit aber auch dem Pabste / durch Vermengung der Religion / kein Abbruch geschehen / sondern Er / durch Seine so künstlich geschmiedete Staats-Religion / auch im Weltlichen Regiement die Ober-Hand behalten möchte; hat man nach der Reformation die Lehre / de una Religione, und daß in einem Reiche und Republiq nur einerley Religion zu dulden sey / sehr eifrig zu treiben angefangen."
[6] Ebd., S. 189.
[7] Ebd., S. 597f.
[8] Die Gleichsetzung der Politischen Religion mit einer „Staats-Religion" findet sich im weiteren Verlauf der zitierten Textpassage: „Suchet also der Pabst hierdurch / daß Er die Christenheit der Concilien überheben wolle / nicht den Nutz und Frommen der gantzen Christlichen Kirchen; sondern vielmehr die Versicherung seiner Staats-Religion / und daß dieselbe / durch ein allgemein Christlich und freies Concilium, nicht etwa auffgehoben / und zugleich das gantze Römische Pabstthum / und die erlangte Ober-Herrschafft / zu Boden gerichtet werden möchte" (ebd., S. 598).
[9] „Die hohen Eltern / lassen sich Ihre Kinder dahin zugeben / auch dadurch bewegen / daß Sie bey denen Jesuitern / nebenst der Erudition, zugleich in höflichen Sitten / allerhand Politischen / auch in Militarischen Wissenschafften unterrichtet werden" (Gibellinus: Caesareo, S. 709).

1720 erschien in Leipzig im Verlag von David Richter eine vierte[1] Auflage mit bislang unveröffentlichten Erläuterungen des Verfassers Matthäus Göbel,[2] dessen Identität dem Lesepublikum der Caesareo hier zum ersten Mal durch Erwähnung seines Klarnamens preisgegeben wurde. In einer Erläuterung zur ersten Passage des zweiten Kapitels im zweiten Teil[3] von Göbels Schrift wird die oben bereits erwähnte, sehr ähnliche semantische Nähe der verwendeten Begriffe „politische Religion" und „Staats-Religion" in diesem eingegrenzten Verwendungskontext deutlich:

„Daß die Röm. Religion nach dem Staat des Papstthums eingerichtet, und also nichts anders, als eine rechte Staats-Religion seye, hat bey dem Anno 1630 zu Augsburg gehaltenen großen ReichsTage der Päbstliche Nuncius, Vincentius Pimpinellus, deutlich genug zu verstehen gegeben, indem er die zur Evangelischen Religion sich bekennende Deutsche öffentlich vor Narren gehalten, daß sie nicht eine klügere und politischere Religion angenommen, und dahero wohl Ursache gehabt hätten, bey der alten Römischen Religion zu verbleiben."[4]

Auffallend an dieser Stelle ist die Verwendung des Komparativs innerhalb der begrifflichen Komposition Politische Religion: „politischere Religion". Diese Form impliziert, dass der Verfasser der Erläuterung nicht nur zwischen politischen und nicht-politischen Religionen, sondern auch zwischen unterschiedlichen Abstufungen innerhalb der Gruppe von Politischen Religionen unterscheidet. Im weiteren Verlauf wird diese Erläuterung mit der Feststellung untermauert, dass

„die Deutsche[n] [...] vielweniger aber aus einfältigem Unverstände eine neue und gantz nicht politische Religion annehmen solten."[5]

Die von der römisch-katholischen Papstlehre abgewandten christlichen Konfessionen sollen nicht nur nicht, sondern ganz und gar nicht politisch sein und jegliche Einmischungen in politische Bereiche unterbinden und absolut negieren, um ihre religiöse Lehre und Praxis vollkommen der göttlichen Wahrheit unterstellen zu können. Demgegenüber habe sich das römischkatholische Papsttum über die Jahrhunderte hinweg nicht nur zu einem geistlichen, sondern in erster Linie zu einem weltlichen bzw. politischen Macht- und Herrschaftszentrum entwickelt, weswegen Göbel

„die Römische Religion vor eine politische, auch zu Erhaltung des Päbstlichen Staats und geistlichen Monarchie eingerichtete"[6] und „auff politischen Grund erbauete Religion hält."[7]

In dem Werk Caesareo sowie den später hinzugefügten Erläuterungen umschreibt der Begriff Politische Religion eine auf politischen Interessen gegründete Religion, die sich nicht an der
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[1] Laut Titelblatt handelt es sich um die „Dritte Auflage" der Caesareo - Papia Romana, jedoch berichtet Christian Gottfried Hoffmann in seinem Vorwort von „vorhergehenden drey Aufflagen" sowie einer „Aufflage von Anno 1694" (Göbel: Caesareo, Vorwort, unpag. [S. 24]; vgl. Anm. 149).
[2] Laut Hoffmann wurde eine Veröffentlichung von Erläuterungen für die Caesareo bereits in der dritten Auflage von 1694 angekündigt (ebd., Vorwort, unpag. [S. 24]).
[3] Der Titel dieses Kapitels: „Darinnen remonstriret wird / wie künstlich die Päbste die Religion nach ihrem Staat eingerichtet / und darauff / als einen festen Grund / ihre geistliche Monarchie gebauet haben" (ebd., S. 188; Gibellinus: Caesareo, S. 129).
[4] Göbel: Caesareo, S. 188f.
[5] Ebd., S. 189: „Welche letztere Worte klar genug an Tag legen, daß dieser große Röm. Praelat nicht allein davor gehalten, daß es in genere in der Welt politische Staats-Religionen gäbe, sondern, daß auch in specie die Röm. Päbstliche Religion eine dergleichen seye, welche die Deutsche, wenn sie anders klug seyn wolten, nicht verlassen, vielweniger aber aus einfältigem Unverstande eine neue und gantz nicht politische Religion annehmen solten."
[6] Ebd., S. 189.
[7] Ebd., S. 191.

göttlichen Wahrheit ausrichtet, sondern sich an den eigenen Interessen im staatlichen Machtgefüge orientiert. Der Begriff dient in dieser Schrift Göbels zur Kritik an einer Hinwendung oder Konzentration der Führungspersonen der römisch-katholischen Institutionen auf weltliche Belange und politische Machtgefüge, also auf Diesseitigkeiten.

Auch im niederländischen Sprachraum war der Begriff Politische Religion in seiner sprachlichen Entsprechung Politike Religie schon im 17. Jahrhundert nicht unbekannt: Eine Fundstelle liefert eine Schrift des dänischen Religionsfanatikers Oliger Paulli (1644-1714),[1] der sich als neuer Messias und König der Juden zu proklamieren versuchte und das Ziel verfolgte, ein neues jüdisches Königreich in Jerusalem aufzubauen, obgleich Paulli aus einer christlichen Familie stammte und jüdische Wurzeln innerhalb seines Familienstammbaums nicht ermittelt werden konnten. Das Hauptbegehren Paullis war die Stiftung einer neuen Religion, die sich aus den Trümmern von Christentum und Judentum emporheben würde. Im Zuge dieser religiösen Reform- und Stiftungsbestrebungen verfasste Paulli je einen Brief an König Wilhelm von England und an den Dauphin von Frankreich, die er 1697 in seinem Werk Triumph den afgehauwen Steen sonder Handen veröffentlichte.[2] In dem Brief an den englischen König heißt es:

„SIRE, dit alles geschiet echter op dese voorvvarrde, MYN ZOON GEEFT MY U HEERTE, t vvelk te seggens is, dat Uwe Koninklijke Majestet met de Schapen U aanbetrouvvt, zondern uit- stel, met Abrahamen de Brutd Gen. 12, I, 10. Pf. 45.11 tot 16 uitga uit uvves Vaders huys van menschlijke Traditien. 1. Pet. 1, V 13. tot 19. en voorgescreven bepaalde Concilien, Synoden en menschen stellingen, als de Politique Religie, by St. Paulus genaamt een verleydende Philosophie, Col. 2, 2 tot. 8."[3]

Eine ähnliche Formulierung verwendete Paulli in seinem warnenden Brief an den Dauphin:

„maar ter contrarie maken zy zich tot welsprekende harangeurs, flateurs, en dienstknechten van den Stoel van Romen, om des zelfs Politike Religie te maintineren, vviens hootden in haar herte zeegen, daar en u geen ELOHIM, ende dat Paris het vvare Paradys is."[4]

In beiden Briefen polemisiert Paulli gegen den Papst und die römisch-katholische Kirche als
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[1] Einen Großteil seiner Schriften veröffentlichte Paulli während seiner Aufenthalte in Frankreich und den Niederlanden in der jeweiligen Landessprache. Da die hier erwähnten Briefe während seines Aufenthalts in Amsterdam entstanden und erschienen, sind sie in niederländischer Sprache.
[2] Der lutherisch-orthodoxe Johann Friedrich Corvinus veröffentlichte 1702 unter dem Titel Anabaptisticum Et Enthusiasticum Pantheon und Geistliches Rüst-Hauß Wider die Alten Quacker / Und Neuen Frey-Geister eine Sammlung polemischer Traktate, die vornehmlich gegen Täufer und Quäker sowie andere reformatorisch-christliche Bewegungen gerichtet waren, jedoch blieben auch andere christliche Konfessionen und nicht christliche Religionskonzepte von seiner Kritik in diesem Sammelsurium von Traktaten nicht verschont. Corvinus wandte sich hierin auch gegen die religionsfanatischen Ausführungen Paullis und druckte eben jene Briefe in einer deutschen Übersetzung ab; Johann Friedrich Corvinus: Novus in Belgio Judaeorum Rex Oliger Paulli, in: ders.: Anabaptisticum Et Enthusiasticum Pantheon und Geistliches Rüst-Hauß Wider die Alten Quacker / Und Neuen Frey-Geister. [o. O.] 1702, S. 25-38.
[3] Oliger Paulli: Aan Willem de III. Köning van Groot Britannien en Stadthouder der Vereenigde Nederlanden, in: Corvinus: Novus, S. 28; dt. Übersetzung ebd.: „SIRE. Dieses alles geschiehet rechtmäßig auf diese Bedingung / Mein Sohn gieb mir dein Hertz / welches so viel zusagen / daß Euer Königl. Majestet mit Dero Anvertrauten Schaffen / ohne Verzug mit Abraham Gen. 12.1.10. und der Braut Pf. 45.11-16. aus Ihres Vaters Hause der Menschen Satzungen I. Pet 1.13-19. und vorgeschriebenen eingeschränckten Concilien. Synoden und menschlichen Beschlüssen / als Politischen Religion / welche von Paulo eine verführische Philosophie Col. 2.2-8 genennet wird / ausgeht."
[4] Oliger Paulli: Aan den Dauphin, in: Corvinus: Novus, S. 34; dt. Übersetzung ebd.: „Sondern Sie machen sich in Gegentheil zuwohl beredte Redner / Schmeichler und Dienst Knechte des Römischen Stüels / umb desselben Politische Religion zu beschützen / derer Ober Haupt in seinen Hertzen saget: Es ist kein GOtt / und Paris ist das wahre Paradieß [...]."

„Politike Religie", die ihre Anhänger durch menschengemachte und gottesferne Theologie knechten und ausbeuten wollen; folglich nutzte Paulli den Begriff zur abwertenden Umschreibung einer diesseitsgewandten, selbstzweckgebundenen Theologie und Kirche und unterwarf insbesondere die römisch-katholische Kirche der Kritik, letztendlich eine Politische Religion zu sein. Dass Göbel und Paulli den Begriff in ihren Briefen gezielt gegen die römisch- katholische Kirche bzw. den Papst anwendeten, sollte nicht als Indiz für eine Exklusivität der Anwendung auf Anhänger oder Führungspersonen der römisch-katholischen Kirche gedeutet werden. Vielmehr handelt es sich auch hier um einen universal anwendbaren Begriff, der lediglich aufgrund des kontextuellen Zusammenhangs der Schriften spezifische Verwendung findet.

Die Verwendung des Begriffs begrenzte sich schon im 17. Jahrhundert nicht nur auf protestantische - oder wie im Fall Paullis vermeintlich jüdische - Kreise verbunden mit einer antikatholischen Polemik, sondern fand auch in Schriften katholischer Gelehrter Anwendung. Im Jahr 1608 tauchte der Begriff Politische Religion in der unter dem Pseudonym M. Theophilus Philalethes herausgegebenen Sammlung Duellum Glöselianum auf, die zwei Kommentare mit einander entgegengesetzten Standpunkten zur Frage der Religionsfreistellung der reformierten ungarischen Landstände aus dem Jahr 1606[1] enthält. Der in diesem Zusammenhang interessante erste Kommentar ist eine Abschrift eines Mahnschreibens des Wiener Bischofs und Vertreters der Gegenreformation, Melchior Khlesl (1552-1630), an Erzherzog Matthias von Österreich (1557-1619), den Khlesl eindringlich und an dessen weltliche Obrigkeitspflicht gegenüber Gott erinnernd vor jeglichen Zugeständnissen zu einer freien Religionsausübung der reformierten ungarischen Fürsten warnt.[2]

Khlesl verweist in seinem Mahnschreiben auf den Umstand, dass in Österreich bis dato nur „die Augspurgische Confession" (d. h. die lutherische Lehre) geduldet worden sei, aber sich unter den ungarischen Landständen auch Calvinisten und Zwinglianer befänden. Wenn der österreichische Erzherzog eine Freiheit der Religion bzw. Konfessionen gewähre, so die Warnung Khlesls, wäre er der erste seines Hauses, „welcher ausser der wahren Catholischen Religion mehr als einer Secten zugelassen hetten."[3] Sich der Frage eines „praetendirten Politischen Frieden"[4] zuwendend unterstreicht Khlesl die Pflicht, dass alle friedenspolitischen

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[1] Der Herausgeber dieser zwei Kommentare erwähnt in seinem Vorwort, „daß diese zwo Schrifften nun ein par Jahr her durch viele Hände gegangen sind" (Philalethen, M. Theophilum: Duellum Glöselianum, Vorwort, unpag. [S. 1]). In Joseph Freiherr von Hammer-Purgstalls Biographie zu Khlesl ist das Schreiben ins Jahr 1606 datiert (Joseph Freiherr von Hammer-Purgstall: Khlesl's, des Cardinals, Directors des geheimen Cabinets Kaisers Mathias, Leben. Zweiter Band. Wien 1847. Die betreffende Stelle befindet sich im Anhang s. Urkunden-Sammlung, S. 12).
[2] Melchior Khlesl (a): Bedencken Herren Melchioris Glöselii Weyhe Bischoffs zu Wien / und Administrators des Bisthumbs Newstadt / Uber der Frage: Ob den hungarischen Ständen die Freyheit der Religion zulassen sey, in: Philalethes, Theophilus: Duellum Glöselianum. Das ist / Zwey unterschiedliche / und darzu wiederwertige Bedencken / uber der Frag / Ob den Hungarischen Landständen die Freyheit der Religion zu zulassen sey. Leipzig 1608. Hintergrund dieses Mahnschreibens waren Erwägungen über Friedensverhandlungen mit dem ungarischen reformierten Fürsten von Siebenbürgen, Stephan Bocskay (1557-1606), unter dessen Führung im Jahr 1605 eine antihabsburgische Rebellion losbrach. Motiviert wurde dieser ungarische Aufstand unter anderem durch die gegenreformatorischen Maßnahmen der Habsburgermonarchie, weswegen eine der Forderungen von ungarischer Seite die Freiheit in der Religionsausübung bildete, was den ungarischen Fürsten schließlich im Frieden von Wien am 23. Juni 1606 zugesichert wurde.
Der zweite Kommentar ist eine Antwort auf Khlesls Mahnschreiben aus der Feder des lutherischen Theologen Polycarp Leyser d. Älteren (1552-1610), der Khlesls ablehnende Argumentation und Haltung gegenüber Friedensverhandlungen mit den ungarischen Landständen kritisierte und zu widerlegen versuchte.
[3] Ebd., S. 15.
[4] Ebd., S. 13.


Maßnahmen im Einklang mit den Lehren der wahren Religion - in diesem Fall der christlichkatholischen Religion - stehen müssen:

„E. Fürstl. Durchl. erforschen nur die Historien / wo man mancherley Ketzerey passirt / daß einiger Friede verblieben were / und nicht allezeit der Abfall von wahrer Religion / so von den heiligen Lehrern Rebellio contra Deum intitulirt wird / alsbald auch der Politische Friede zerstossen / und die Politische Religion an dessen statt gesetzt worden."[1]

Khlesl wendet sich in seiner Schrift gegen die Zusicherung einer freien Religionsausübung, die er als Schritt in Richtung eines „Abfall von wahrer Religion" und wahrer Konfession wertet, was schlussendlich in Häresie und Apostasie gipfle. Das Ergebnis könne - laut dieser Abschrift - nur eine Politische Religion, ergo eine Ketzerei sein, die anstelle eines katholischen Christentums gesetzt werde. Der Begriff scheint als Kampfbegriff im interkonfessionellen Konflikt gegen das reformatorische Christentum zu dienen, umfasst jedoch implizit auch alle anderen nicht römisch-katholischen und folglich als Ketzerei diffamierten Glaubenskonzepte.

Durch weitere Recherchen hat sich allerdings folgendes Problem eingestellt: In einer anderen Druckfassung dieser Sammlung aus dem gleichen Jahr und dem gleichen Verlagshaus heißt es an der gleichen Stelle: „unnd die Politische Rebellen an dessen statt gesetzt worden."[2] Statt „Religion" wurde in dieser Fassung der Begriff „Rebellen" verwendet, allerdings wäre grammatikalisch betrachtet an der hier zitierten Stelle eine Verwendung des Begriffs „Religion" statt „Rebellen" passender. In einem biographischen Beitrag zu Melchior Khlesl von Joseph Freiherr von Hammer-Purgstall (1774-1856) aus dem 19. Jahrhundert wird eine Abwandlung dieser zweiten Variante zitiert, wobei das im Anhang zur Biographie vollständig abgedruckte Schreiben an den österreichischen Erzherzog insgesamt und an der fraglichen Stelle kleine Abweichungen aufweist: „und die politische Rebellion an dessen stat gesezt worden."[3] Diese kleine sprachliche Änderung von „Politische Rebellen" zu „politische Rebellion" hebt die Diskrepanz innerhalb der Grammatik zum restlichen Satzgefüge auf, was dennoch nicht als maßgeblicher Hinweis gedeutet werden kann, dass in Khlesls Urfassung der Schrift tatsächlich von der „politische[n] Rebellion" oder den „Politische[n] Rebellen" die Rede ist.

Im Landesarchiv Thüringen konnte eine für den Reichstag zu Regensburg von 1608 gefertigte Abschrift dieses Mahnschreiben Khlesls[4] zu Tage gefördert werden, die als Entstehungsort „Wien in Osterreich" und als Entstehungsdatum 24. März 1606 angibt.[5] In diesem handgeschriebenen Dokument heißt es in der oben zitierten Textpassage: „und die politische[6]

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[1] Ebd., S. 14.
[2] Melchior Khlesl (b): Bedencken Herrn Melchioris Glöselii Weyhe Bischoffs zu Wien / und Administrators des Bisthumbs Newstadt / Uber der Frage: Ob den hungarischen Ständen die Freyheit der Religion zu zu lassen sey, in: Philalethes, Theophilus (b): Duellum Glöselianum. Das ist / Zwey unterschiedliche / und darzu wiederwertige Bedencken / uber der Frag / Ob den Hungarischen Landständen die Freyheit der Religion zu zulassen sey. Leipzig 1608, S. 15 [Hervorhebung d. Verf.in].
[3] Hammer-Purgstall: Khlesl's, Urkundensammlung, S. 19. Nach eigenen Angaben hat Hammer-Purgstall die Vorlage für seine Abschrift „Aus dem Archive zu Riedeck" (ebd., S. 23). Eine 1608 veröffentlichte Zusammenstellung des Schreiben Khlesls und der Gegenschrift von Polycarp Leyser unter dem Titel Duellium Glö- selianum wird im Textteil der Biographie erwähnt, unerwähnt bleibt die zweite, im gleichen Jahr und Verlagshaus erschienene Ausgabe mit dem für diese Forschungsarbeit interessanten Unterschied (ebd., S. 34).
[4] Khlesl, Melchior: An Erzherzog Matthias zu Osterreich. LATh-StA Meiningen, GHA Sektion II, Nr. 100, Blatt 115-128. Die Handschrift befindet sich in einer Sammlung von „Akten bezl. den Reichstag zu Regensburg 1608." Diese Akten enthalten Berichte des Reichsgesandten aus Regensburg, denen als wichtig bewertete Unterlagen in Abschrift beigelegt wurden. Um eine solche Abschrift handelt es sich bei der vorliegenden Archivale zu Khlesls Gutachten.
[5] LATh-StA Meiningen, GHA Sektion II, Nr. 100, Blatt 128.
[6] Verbessert aus politischen.


rebellio an deßen stadgesetzt worden."[1] Statt von einer Politischen Religion ist in dieser Abschrift von einer „politische[n] rebellio" die Rede. Eine kleine, durch den Skribenten dieser Abschrift vorgenommene Korrektur an der betreffenden Stelle könnte man als Indiz für eine Verwendung des Wortes „Rebellio" oder eine Abwandlung im Urtext werten: Der Skribent hat den Begriff politisch erst mit dem Flexionssuffix -en niedergeschrieben, dann jedoch das -n gestrichen, um den Begriff in eine grammatikalisch korrekte Form zum darauffolgenden Wort „rebellio" zu stellen. Diese Korrektur deutet an, dass er dieser Stelle höchstwahrscheinlich für einen kurzen Moment eine größere Aufmerksamkeit gewidmet hat, um die sprachliche Verbesserung vorzunehmen. Bei einem nochmaligen Blick auf die Vorlage wäre dem Schreiber mit hoher Wahrscheinlichkeit aufgefallen, wenn bei Khlesl „Religion" statt „Rebellio" gestanden hätte.

Abschließend soll in Hinblick auf die Frage nach der tatsächlich von Khlesl verwendeten begrifflichen Komposition in der Urform der zur Disposition stehenden Passage festgehalten werden, dass in mehreren Abschriften an der betreffenden Stelle „politische Rebellio" oder „politische Rebellion" zu finden ist, wohingegen die Abschrift aus der Sammlung Duellum Glöselianum als einzige Belegstelle für eine Verwendung des Begriffs Politische Religion herangezogen werden kann. Somit sprechen mehrere Indizien dafür, dass es sich bei der Variante „politische Religion" um einen Druckfehler handelt, d. h. Khlesl in seiner Urfassung die begriffliche Kombination „politische Rebellio" bzw. „Rebellion" verwendete.

Doch auch in anderen Schriften katholischer Gelehrter des 17. Jahrhunderts finden sich zweifelsfreie Belegstellen für die Verwendung des Begriffs Politische Religion. Die bereits im 16. Jahrhundert belegbare Verwendung der französischen Entsprechung religion politique fand auch in den nachfolgenden Jahrhunderten eine Anhängerschaft unter den Autoren französischsprachiger Texte. Der französische Philosoph und rationalistische Theologe Leonard de Mara- nde (Lebensdaten unbekannt), ein entschiedener Gegner der sich im 17. Jahrhundert in Frankreich ausbreitenden, katholisch geprägten Bewegung des Jansenismus, veröffentlichte 1651 eine überarbeitete zweite Auflage seiner dreibändigen Schrift Le Theologien Franqois, eine kritische Abhandlung über die Generalversammlung des Klerus in Frankreich und Darlegung seiner eigenen christlichen Philosophie. In diesem Kontext thematisiert Marande protestantische Religionsgemeinschaften, denen er im Allgemeinen unterstellt, häretischen und irrtümlichen Lehren verfallen zu sein, welche dem christlichen Menschen Seelenheil versprächen, in Wirklichkeit jedoch die christliche Moral verfälschen und verderben würden:

„Cette ruse n'est pas de perite consequence, en matiere d'estat & de Religion politique, parce que l'homme n'aspire qu a la liberte tant qu'il peut; & ne trauaille iamais avec tant d'ardeur, que lors qu'il est question de pratiquer quelque accommondement entre la volupte de la vie presente, & les delices de la vie future."[2]

Der Begriff religion politique avanciert in dieser Abhandlung zur Umschreibung einer im Staat und im politischen Wesen eines Staates oder Reiches vorherrschenden Religion, einer Art Reichs- oder Staatsreligion. Im Gegensatz zum Gros der in diesem und in den folgenden Kapiteln vorgestellten Quellen- bzw. Verwendungsbeispiele des Begriffs Politische Religion respektive einem der Lehnbegriffe der verschiedenen Sprachräume im 17. Jahrhundert erfährt der von

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[1] LATh-StA Meiningen, GHA Sektion II, Nr. 100, Blatt 124f. [Hervorhebung Verf.].
[2] Leonard de Marande: Le Theologien francais. Tome Second. Paris 21651, S. 386. Die erste Auflage erschien 1641-43.


Marande verwendete Begriff religion politique eine wertfreie Lesart, wobei ein polemischer Beigeschmack durch das textliche Umfeld entstehen kann. Hierbei handelt es sich um eine der wenigen ermittelten Fundstellen in Quellen des 17. Jahrhunderts, in denen auf den Begriff in einer wertfreien Lesart zurückgegriffen wurde.

Vermutlich um 1660 fasste der französische Herausgeber Christophe du Puy die Gedanken und publizistischen Ausführungen des französischen Kardinals Jacques Davy du Perron (1556-1618) und des französischen Staatsmannes Jacques Auguste de Thou (1553-1617) mit theologischen, politischen und literarischen Fragen in Form eines Nachschlagewerkes unter dem Titel Perroniana et Thuana zusammen. Während der als Perroniana bezeichnete Teil Perrons sich primär Religionskonzepten, theologischen Begrifflichkeiten und Persönlichkeiten widmet, ist die Thuana vornehmlich als biographisches Nachschlagewerk mit Fokus auf politische und literarische Persönlichkeiten und deren Schaffen ausgerichtet. In der zweiten Ausgabe von 1669 findet sich innerhalb der Thuana unter dem Eintrag zum italienischen Philologen Jacopo Corbinelli (1535-1590) ein Charakterisierungsversuch zu dessen Religionszugehörigkeit:

„L'on ne scavoit de quelle religion etoit Corbinelli: C'etoit une religion politique a la Florentine; mais il etoit homme de bonnes mreurs."[1]

Was genau unter einer religion politique nach Art der Florentiner zu verstehen ist oder welcher Bedeutungsnuance dieses Verwendungsbeispiel zugeordnet werden kann, wird aus dem weiteren Verlauf des Eintrages oder aus einer anderen Stelle der Publikation nicht unmittelbar ersichtlich. Corbinelli stammte aus Florenz und hatte zudem enge Verbindungen zur politisch und wirtschaftlich einflussreichen Familie der Medici, aus der unter anderem die Stadtherren von Florenz und Großherzöge der Toskana hervorgingen. Die religion politique der Florentiner könnte eine Anspielung auf die Vermengung von Politik und Religion innerhalb der Medici sein, welche nicht nur weltliche, sondern auch geistliche Machtpositionen besetzten und somit ihre dynastische Macht erhalten und steigern konnten. Die Kritik könnte sich damit gegen eine Instrumentalisierung von Religion für politische Zwecke und die Vergabe entsprechender theologischer Ämter im innerfamiliären Kreis - nicht aus überzeugter Frömmigkeit, sondern zur Erreichung weltlicher Zwecke und Ziele - richten. Der Zusatz, dass Corbinelli jedoch eine Person von guter Moral gewesen sei, unterstreicht die dem Begriff religion politique innewohnende negative Konnotation. Obgleich die Semantik der religion politique nur schwer zu greifen ist, ist diese Quelle für die Untersuchung von größerem Interesse, da es sich um die älteste Fundstelle des Begriffs Politische Religion in einem Nachschlagewerk handelt, die im Rahmen dieser Studie aufgefunden werden konnte.



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[1] Jacques Davy Du Perron, Jacques Auguste de Thou (Hg.): Perroniana et Thuana. Editio Secundo. Coloniae Agrippinae [Köln] 21669, S. 335. Weder konnte das Erscheinungsjahr der ersten Auflage zweifelsfrei ermittelt noch eine Ausgabe eingesehen werden.