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Methodische Überlegungen zur Geschichte eines Begriffs

Den Ausgangspunkt der vorliegenden Untersuchungen bildet die Frage, warum der Begriff Politische Religion in der gegenwärtigen Publikations- und Medienlandschaft in verschiedenen Kontexten und mit divergierenden, sich zum Teil sogar widersprechenden Semantiken genutzt wird. Liegen die Wurzeln dieser unterschiedlichen Bedeutungs- und Funktionsnuancen in der Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte des Begriffs begründet oder sind sie ein Merkmal einer gegenwärtigen Verwendung bzw. eines neuzeitlichen Verständnisses der Politischen Religion? Daran schließt die Frage an, ob für den Begriff Politische Religion Schwellen- oder Umbruchszeiten, also für das neuzeitliche Verständnis eminente Phasen des Bedeutungswandels ermittelt werden können, in der „alte" Semantiken von „neuen" Begriffsverständnissen abgelöst wurden oder parallel zueinander existierten. Schon in den bislang wenigen, wissenschaftlich untersuchten oder zumindest der Forschung bekannten Quellenbeispielen ist eine gewisse Flexibilität oder auch Fluktuation im semantischen Spektrum zu beobachten. Ein grober Blick auf das für die Studie ermittelte Untersuchungsmaterial lässt erkennen, dass sich diese ersten Beobachtungen eines größeren semantischen Spektrums auch anhand neuer Quellen bestätigen und erweitern lassen. Entsprechend soll nach Ursachen bzw. kausalen Kontexten Ausschau gehalten werden, die für Änderungen im Verständnisspektrum und damit für die flexiblen und fluktuierenden Semantiken der Politischen Religion in der Vergangenheit ausschlaggebend waren.

Für die Annäherung an eine Entwicklungsgeschichte des Begriffs Politische Religion und die Untersuchung der divergierenden Begriffsverständnisse in den verschiedenen Epochen ist es unerlässlich, den eigenen Forschungsgeist möglichst von semantischen Befangenheiten aktueller Verständnis- und Bedeutungsformen zu befreien, um in der Auseinandersetzung mit frühen Verwendungsbeispielen die ursprünglichen Bedeutungsnuancen respektive -spektren ungefärbt aufdecken zu können. Die von den jeweiligen Autorinnen und Autoren in der Vergangenheit liegende, intendierte Bedeutung kann zum Teil nur mit großen Schwierigkeiten und in gewissen Grenzen rekonstruiert werden, wenn etwa der Begriff als selbsterklärend erachtet oder selbstverständlich ohne semantische Erläuterungen und nur an einer einzigen Stelle der Publikation verwendet wurde.

Die Studie bedient sich einer Verflechtung methodischer Ansätze aus dem Feld der historischen Semantik und im Besonderen der Begriffsgeschichte, deren Theorien eng mit Namen wie Reinhart Koselleck, Rolf Reichardt oder Quentin Skinner verbunden sind. Ihr gemeinsames Ziel ist nicht nur die Auseinandersetzung mit der Historizität von Begriffen, sondern auch eine Untersuchung des Bedeutungsgehalts und -wandels von linguistischen wie auch nicht-linguistischen Zeichen, der dahinterstehenden Ursachen sowie ihrer Auswirkungen und Einflüsse auf historische, aber auch gegenwärtige Erfahrungs- und Vorstellungswelten, Theorien und Diskurse. Diese Zielsetzung wird unter Zuhilfenahme verschiedener Schwerpunktsetzungen und Herangehensweisen zur Erforschung der Entstehung, Entwicklung und steten Veränderung der Semantiken von Begriffen verfolgt.[1] Die Autorinnen und Autoren der Geschichtlichen Grundbegriffe, zu deren Herausgebern unter anderem Reinhart Koselleck zählt, setzt den Schwerpunkt ihrer lexikographischen Arbeit - wie bereits anhand des Titels ersichtlich ist - auf so genannte Grundbegriffe, die im Rahmen einer „diachronischen Tiefengliederung"[2] untersucht werden. Auf den Philosophen Rolf-Peter Horstmann zurückgreifend erklärt Koselleck zwar, dass eine rein linguistisch betrachtete Grenzziehung zwischen den Entitäten Grundbegriff und Begriff nicht möglich sei. Er fügt jedoch hinzu, dass man in einem historischen Kontext von Grundbegriffen - in Abgrenzung zum Terminus Begriff - dann sprechen könne, wenn „alle konfligierenden Schichten und Parteien gemeinsam auf ihn angewiesen bleiben, um ihre unterschiedlichen Erfahrungen, ihre schichtenspezifischen Interessen, ihre parteipolitischen Programme miteinander zu vermitteln." Somit sind Grundbegriffe für die Wahrnehmung, Interpretation und interpersonelle Kommunikation von Realitäten essentiell, weil „sie jene minimalen Gemeinsamkeiten erfassen, ohne die überhaupt keine Erfahrungen zustande kämen, ohne die weder gestritten werden könnte noch Konsens zu finden wäre."[3]

Der Ausdruck Politische Religion kann für sich gesehen aufgrund seiner doch quantitativ und qualitativ vergleichsweise geringen Bedeutung und Gegenwart in Diskursen und Publikationen sowie seiner fehlenden Unentbehrlichkeit für die innere Wahrnehmung und den nach außen gerichteten Austausch von Wirklichkeiten und Erfahrungen wohl kaum als Grundbegriff einer politischen, sozialen oder theologischen Wahrnehmungs- und Diskurslandschaft bezeichnet werden. Allerdings setzt sich der Ausdruck Politische Religion aus zwei Komponenten zusammen, die losgelöst von diesem semantischen Geflecht unfraglich als (Grund-)Begriffe bzw. (grund-)begriffliche Entlehnungen zu kategorisieren sind. Was bedeutet das für die Kategorisierung der Politischen Religion im System sprachlicher Einheiten?

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[1] Eine ausführliche, interdisziplinäre Darstellung zu den verschiedenen Theorien bieten etwa Ernst Müller und
Falko Schmieder in ihrem Kompendium Begriffsgeschichte und historische Semantik (Ernst Müller/Falko Schmieder: Begriffsgeschichte und historische Semantik. Ein kritisches Kompendium. Berlin 2016). Einen Kurzüberblick bietet Kathrin Kollmeier: Begriffsgeschichte und Historische Semantik, Version: 2.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 29.10.2012. Online: http://docupedia.de/zg/Begriffsgeschichte_und_Histori- sche_Semantik_Version_2.0_ Kathrin_Kollmeier [letzter Zugriff: 10.01.2023]. Für einen Überblick zur Entwicklungsgeschichte der Begriffsgeschichte siehe Willibald Steinmetz: Vierzig Jahre Begriffsgeschichte. The State oft he Art, in: Heidrun Kämper, Ludwig M. Eichinger (Hg.): Sprache - Kognition - Kultur. Sprache zwischen mentaler Struktur und kultureller Prägung. Berlin 2008, S. 174-197. Für Überlegungen zu aktuellen Entwicklungsrichtungen, z. B. in Hinblick auf transnationale oder globale Studien, siehe: Neue Wege der Begriffsgeschichte, in: Geschichte und Gesellschaft 44.1 (2018).
[2] Reinhart Koselleck: Einleitung, in: Otto Brunner, Werner Konze, Reinhart Koselleck (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Bd. 1. Stuttgart 1972, S. XIII-XXVII, Zitat S. XXI.
[3] Reinhart Koselleck: Vorwort, in: Otto Brunner, Werner Konze, Reinhart Koselleck (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Bd. 7. Stuttgart 1992, S. V-VIII, Zitat S. VII. Siehe hierzu Müller, Schmieder: Begriffsgeschichte und historische Semantik, S. 298f.


Bevor die Forschungsreise durch die semantische Verwendungs- und Entwicklungsgeschichte angetreten wird, sollte kurz über die Frage reflektiert werden, ob die Politische Religion überhaupt als Begriff definiert werden kann oder letztlich nur eine Kombination zweier Begriffe ist, ohne dass daraus eine begriffliche Eigenständigkeit erwächst. Entwickelte sich eine begriffliche Komposition erst im Laufe der Zeit im steten Aufgreifen dieses semantischen Geflechts (durch verschiedene Protagonisten) und in der Auseinandersetzung um seine Ver- wendungs- und Bedeutungshorizonte zu einem eigenständigen Begriff oder handelt es sich bereits im 16. Jahrhundert um eine als Begriff zu definierende Komposition zweier scheinbar ineinander verschlungener Termini?

Hierzu muss zunächst der Blick auf den Terminus Begriff selbst gerichtet werden. Die Annäherung an eine begriffsgeschichtliche Untersuchung verlangt eine - wenn auch nur oberflächlich aufflackernde - Reflexion zur Theorie der Begriffe. Was kann unter dem Terminus Begriff verstanden oder subsumiert werden und worin liegt der Unterschied zum Wort? Ist eine Grenzziehung zwischen den sprachlichen Einheiten Begriff und Wort überhaupt möglich? Der Versuch der Definition von Begriff ist eine problembehaftete Aufgabe, da eine unumstrittene Definition und Abgrenzung zur linguistischen Entität Wort im aktuellen Wissenschaftsdiskurs nicht existiert. Koselleck misst den Begriffen eine Doppelseitigkeit zu, indem er sie als „Indikator der gemeinten Sachverhalte wie Faktor der sprachlichen Ausprägung"[1] definiert. In seinem Annäherungs- und Abgrenzungsversuch der Entitäten Begriff und Wort liegt für Koselleck der Unterschied in der Art und Weise ihrer Mehrdeutigkeit:

„Ein Wort kann eindeutig werden, weil es mehrdeutig ist. Ein Begriff dagegen muß vieldeutig bleiben, um Begriff sein zu können. Der Begriff haftet zwar am Wort, ist aber zugleich mehr als das Wort."[2]

Während Wörter trotz verschiedener Bedeutungsmöglichkeiten durch Definitionen eindeutig und damit auf eine Sache zurückgeführt werden können, sei ein derartiger Versuch der Verein- deutigung bei Begriffen nicht zu erreichen und bliebe somit stets erfolglos. Auch das Heranziehen erweiterter oder anderer Ansätze einer abschließenden Charakterisierung und Definition, wie etwa die vom israelischen Philosophen Adi Ophir vorgeschlagene Erweiterung der defini- torischen Voraussetzungen auf das Vorhandensein eines Diskurses oder diskursiven Charakters als Orientierungshilfe für eine Kategorisierung eines Ausdruckes als Begriff oder die Lösungsvorschläge von anderen Forschenden, verhelfen nicht zu einer Überwindung der Mehrdeutig- keit des zu ergründenden und zu beschreibenden Gegenstandes.[3] Das zeigt, eine Erweiterung oder gar Veränderung dieses oder anderer Definitionsansätze von Begriff um weitere zu definierende Prämissen würde das Problem der Mehrdeutigkeit und Umstrittenheit nicht lösen und unter Umständen sogar unnötig vergrößern. Diese Unzulänglichkeiten, die fehlende Eindeutigkeit und unumstrittenen Definitionsgrundlage von Begriffen treffen auf den Terminus Begriff gleichermaßen zu. Das würde im Umkehrschluss auf die oben gestellten Fragen zum Untersuchungsgegenstand bedeuten: Indem der Terminus Begriff selbst im wissenschaftlichen Diskurs​
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[1] Koselleck: Vorwort, S. VI.
[2] Koselleck: Einleitung, S. XXII. Vgl. hierzu Müller, Schmieder: Begriffsgeschichte und historische Semantik,
S. 296ff.
[3] Adi Ophir vertritt die Auffassung, dass „der Begriff keine elementare mentale, semantische oder logische Einheit, sondern ein Prinzip der diskursiven Tätigkeit ist" und „durch das Begehren, ihn zu definieren (zu klären und zu erklären), überhaupt erst zu einem Begriff wird" (Adi Ophir: Begriff, in: Forum Interdisziplinäre Begriffsgeschichte 1 [2012], S. 1-24. Online: http://www.zfl-berlin.org/tl_files/zfl/downloads/publika- tionen/forum_begriffsgeschichte/ZfL_FIB_1_2012_1_Ophir_Begriff.pdf [letzter Zugriff: 10.01.2023]).


einer unüberwindbaren Mehrdeutigkeit unterliegt und sich jeder allgemeingültig eindeutigen Definition entzieht, hinterlässt jede anhand von Definitionsansätzen hergeleitete Einschätzung darüber, ob der Ausdruck Politische Religion als Begriff zu charakterisieren sei, genügend Raum für Argumente für oder gegen eine solche Kategorisierung. Dass die Politische Religion in der Arbeit als eigenständiger Begriff statt lediglich einer Kombination zweier selbständiger Begrifflichkeiten begriffen und bezeichnet wird, unterliegt rein pragmatischen Überlegungen für diese Arbeit. In erster Linie soll die Arbeit nicht in Theorien und Definitionen ertränkt werden, die letztendlich doch nicht zu einem unbestreitbaren Ergebnis führen. Eine Entscheidung für die Charakterisierung der Politischen Religion als Begriff fußt zudem auf den bereits angesprochenen Umstand, dass sich der Begriff aus einer Zusammensetzung von zwei Grundbegriffen generiert. Ferner taucht der Begriff Politische Religion bereits in Nachschlagewerken des 18. Jahrhunderts als eigenständiges Lemma auf und findet sich auch in heutigen Nachschlage- werken.[1]

Zur Erschließung des Quellenkorpus, das in translingualer Perspektive einen Zeitraum von rund 350 Jahren umfasst, wird in methodischer Anlehnung an die Forschungsansätze der historischen Semantik und speziell der Begriffsgeschichte auf die historisch-kritische Text- und Kontextanalyse zurückgegriffen und das verfügbare Material mittels ineinandergreifenden diachronen und synchronen Untersuchungsmethoden analysiert, um semantische Konstanten, Verschiebungen und Veränderungen des Begriffs Politische Religion eruieren und darauf aufbauend die Entwicklungsgeschichte historiographisch nachzeichnen zu können. Einerseits werden mikroperspektivisch auf synchroner Ebene der Begriff, seine Bedeutung sowie transportierte Intentionen und Funktionen untersucht und in den geschichtlichen Kontext mit Fokus auf das zeitgenössische Begriffsverständnis der begrifflichen Komponenten Religion und politisch eingebettet. Andererseits wird makroperspektivisch auf diachroner Ebene der Bedeutungswandel des Begriffs „durch die Zeit" und von historischen Kontextualisierungen losgelöst analysiert, um die oben genannten Konstanten, Verschiebungen und Veränderungen innerhalb der Bedeu- tungs- und Verwendungsfelder des Begriffs herausarbeiten zu können.

Neben der Schwerpunktsetzung auf eine textkritische Analyse der Fundstellen wird ein weiteres Augenmerk auf die Verfassenden der Texte gelegt, die auf der Grundlage personeller Variablen, wie beruflicher oder konfessioneller Zuordnungen, in den begriffsgeschichtlichen Analyserahmen eingebunden und untersucht werden können. Dabei geht es etwa um die Frage, ob gruppen- respektive akteurspezifische Differenzen zwischen den ermittelten Kontextualisie- rungen und Bedeutungsnuancen bzw. den semantischen Feldern des Begriffs Politische Religion bestehen. Auf der anderen Seite sind gleichfalls die Adressatinnen und Adressaten der Texte von Interesse, sofern diese ermittelt werden können. Wurde der Begriff im angesetzten Untersuchungszeitraum allein für wissenschaftliche Publikationen, also für ein gebildetes Publikum verwendet oder fand er auch Eingang in nichtwissenschaftliche Texte, die für Laien geschrieben wurden? Besonders die Frage nach den Adressatinnen und Adressaten kann gewinnbringend für weitere Überlegungen zu den Intentionen einer Verwendung des Begriffs Politische Religion durch die Verfassenden der entsprechenden Schriften sein. Auf der semasiologi- schen Untersuchungsebene wird die bereits oben angedeutete Frage in den Vordergrund gestellt, ob für den Begriff Politische Religion im Untersuchungszeitraum eine Schwellenzeit, d. h. eine Phase​
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[1] Für frühe Verwendungen siehe bspw. Kapitel 2.4.1. Für aktuellere Einträge siehe bspw. Georg Hartmann: Art. Politische Religion, in: Meyers Lexikon Religion. Gegenwart - Alltag - Medien. Bd. 3: Paganismus - Zombie. Stuttgart, Weimar 2000, S. 36-38; Friedemann Voigt: Art. Politische Religion, in: Enzyklopädie der Neuzeit. Bd. 10: Physiologie - Religiöses Epos. Stuttgart 2009, Sp. 152-154.

des Bedeutungswandels mit tiefgreifendem semantischen Strukturverschiebungen oder -veränderungen ausgemacht werden kann? Damit verbunden soll eine weitere Frage in den Blick genommen werden: Welchen Einfluss haben die Begriffsverständnisse der Begriffskomponenten Religion und Politik respektive politisch für das Verständnis des Begriffs Politische Religion in den einzelnen Zeitabschnitten? Diese Frage ist insofern für die Untersuchung der semantischen Felder und der Semasiologie des Begriffs Politische Religion von Interesse, als für diese Arbeit von der These ausgegangen wird, dass die diskursiven Definitionssuchen und -wandlungen beider Grundbegriffe einen großen Einfluss auf die Semantik des Begriffs Politische Religion haben. Aus diesem Grund sollen im weiteren Verlauf der Einleitung die begrifflichen Entwicklungen von Religion und Politik respektive politisch in einem kurzen Überblick nachgezeichnet werden, bevor mit dem Hauptteil der Forschungsarbeit und der begriffsgeschichtlichen Untersuchung des Begriffs Politische Religion begonnen wird. Weitere Einblicke in die Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte der Begriffe Religion und Politik respektive politisch werden dann an entsprechend passenden Stellen im Untersuchungsteil dieser Forschungsarbeit gegeben.

Das Ziel der vorliegenden Arbeit ist es unter anderem, die verschiedenen Verwendungsund Bedeutungsfelder des Begriffs Politische Religion auf ihre semantischen Schwerpunkte und Historiographie zu untersuchen und der Frage nachzugehen, ob diese Felder einer Langlebigkeit, einzelnen Verschiebungen oder einem steten Wandel unterworfen waren und noch immer sind. In der Auseinandersetzung mit dem ermittelten Quellenmaterial wurde schnell deutlich, dass sich das Verständnis des Begriffs Politische Religion nicht auf eine allgemeingültige Definition oder einen exklusiven Anwendungsbereich reduzieren lässt, sondern bereits in den Texten des 17. Jahrhunderts verschiedene Bedeutungsnuancen und Kontextualisierungen aufweist. Auf dieser Feststellung aufbauend wurde von einer rein chronologischen Gliederung Abstand genommen und die Untersuchung in mehrere Hauptkapitel mit thematischen Schwerpunkten untergliedert, die sich an diesen verschiedenen Nuancen und Kontextualisierungen des Begriffs Politische Religion orientieren. Die hier gewählte Unterteilung in die verschiedenen Themenkomplexe soll jedoch nicht als fixierte bzw. unverrückbare Zuordnungen verstanden werden, sondern gestaltet sich durchaus innerhalb der einzelnen Abschnitte variierbar mit zum Teil ineinander verschwimmenden Grenzen. En suite wird innerhalb der Untersuchung deutlich, dass die von der Verfasserin gewählte Gliederung insofern nicht als abschließend für die jeweils untersuchten Quellen gedeutet werden kann oder sich zwangsläufig aus den Untersuchungsergebnissen ergibt, sondern dass auch Überschneidungen zwischen den gewählten thematischen Gliederungen bestehen. Dennoch sollen die thematischen Abschnitte der Verdeutlichung des bereits in Quellen der Frühen Neuzeit bestehenden Facettenreichtums im semantischen Spektrum des Begriffs Politische Religion dienen.

Der Untersuchungsteil ist in vier Hauptkapitel mit Unterkapiteln unterteilt. Einleitend vorangestellt wird eine Untersuchung von zwei ermittelten Fundstellen einer Verwendung des Begriffs Politische Religion bzw. fremdsprachlicher Entsprechungen im 16. Jahrhundert, die in einem eigenen Abschnitt genauer beleuchtet werden sollen. Zwar ließen sich beide Quellenfunde kontextuell mehr oder weniger gut in die Gliederungspunkte der vier Hauptkapitel einordnen, doch sollen mit dieser methodischen Entscheidung diese beiden einzigen ermittelten Verwendungsbelege aus dem 16. Jahrhundert entsprechend ihrer hervorzuhebenden Stellung als früheste Belege einer Verwendung des Begriffs Politische Religion gewürdigt werden. Daran schließt das erste Hauptkapitel mit zwei Unterkapitel an, deren Gemeinsamkeit in der pejorativ konnotierten Verwendung des Begriffs im Rekurs auf christliche Konfessionen und nichtchristliche Religionen liegt. Die Unterkapitel sind entsprechend der thematisierten Religionen (Christentum, Judentum, Islam, Zoroastrismus und antike polytheistische Religionssysteme) eingeteilt und halten innerhalb der einzelnen Gliederungspunkte eine gewisse Chronologie in der Untersuchung zur besseren Darstellung der Entwicklung des Begriffs innerhalb der verschiedenen Kontextualisierungen ein. In diesem ersten Hauptkapitel wird ein Großteil des Quellenkorpus zu Verwendungen des Begriffs Politische Religion im 17. Jahrhundert untersucht. Die betrachteten Quellen reichen bis ins 19. Jahrhundert; teilweise erscheint ein Ausblick ins 20. Jahrhundert angebracht, um weiterreichende und zum Teil noch gegenwärtig bestehende Kontinuitäten aufzuzeigen. Weitere Quellenfunde zum 17. Jahrhundert finden Eingang in das anschließende, zweite Hauptkapitel mit drei Unterabschnitten zu Verwendungsbeispielen des Begriffs Politische Religion im Kontext religionsphilosophischer Auseinandersetzungen wie religiösen Indifferentismus, im Zusammenhang mit dem Begriff der religio externa sowie im Rahmen der Ideen der Aufklärung. Zum dritten Unterabschnitt konnten besonders in religionsphilosophischen Texten zur Auseinandersetzung mit theologischen Ideen wie Vernunftreligion oder natürlicher Religion Verwendungen des Begriffs Politische Religion aufgespürt werden. Im dritten Hauptkapitel knüpft die Untersuchung an ein neues semantisches Feld des Begriffs Politische Religion an, dessen Wurzeln bis in die vorrevolutionäre Zeit zurückreichen. Der Begriff erfährt eine völlig neue, positiv konnotierte Lesart, die vereinzelt sogar noch in aktuellen Publikationen angetroffen werden kann. Das vierte und letzte Hauptkapitel widmet sich der Verwendung des Begriffs Politische Religion innerhalb von Diskursen zu weltlichen Ideen und ist in drei Unterabschnitte untergliedert, die dem Begriff im Umfeld revolutionärer Ereignisse und staatsphilosophischer Anschauungen nachgehen. Einen Abschluss findet das letzte Hauptkapitel in einem knappen Ausblick auf Verfassende im 20. Jahrhundert, die den Begriff Politische Religion bereits vor Eric Voegelin zur Charakterisierung des Nationalsozialismus verwendeten. Damit soll der eingangs geäußerten Kritik an der Fokussierung auf Eric Voegelin Nachdruck verliehen und belegt werden, dass bereits andere Personen vor ihm auf den Begriff im gleichen Verwendungs- und Bedeutungsfeld zurückgriffen. Mit diesem über den festgesetzten Untersuchungszeitraum der Arbeit hinausgehenden Blick soll mit der unzutreffenden Darstellung aufgeräumt werden, Voegelin sei der Schöpfer des Begriffs oder einer Deutung des Nationalsozialismus als Politische Religion. In einem die Untersuchung abschließenden und zusammenfassenden Kapitel wird zunächst der Blick auf den Chiasmus Politische Religion und religiöse Politik gelegt, dessen Verwendung bis ins 19. Jahrhundert zurückverfolgt werden kann.

Die Hervorhebung dieses Chiasmus soll dem allen Quellenfunden mitschwingenden Umstand Rechnung tragen, dass der Begriff stets Aushandlungen des Verhältnisses zwischen Religion und Politik ausgesetzt ist, die semantische und auch konnotative Konflikte erneut ins Gedächtnis rufen und verinnerlichen.

Nicht im Fokus stehend, aber dennoch nicht unbeachtet bleiben soll die Frage nach der Verbreitung des Begriffs Politische Religion im internationalen bzw. europäischen Sprachraum. Wie bereits im Abschnitt zum Quellenkorpus angesprochen, wird die Untersuchung weitgehend auf den deutschsprachigen Raum eingegrenzt, behält sich aber vor, diese sprachgeographische Eingrenzung an einigen Stellen aufzubrechen und einen translingualen Blick in andere Sprachräume zu wagen. Diese Verweise sollen nicht gebündelt in einem eigenen Kapitel präsentiert, sondern an entsprechender Stelle als externer Blick neben den deutschsprachigen Quellen hinzugefügt und untersucht werden, um einen translingualen Vergleich zwischen den Quellen innerhalb der einzelnen Kontextualisierungen der Politischen Religion zu ermöglichen.

Während sich die oben genannten Themenfelder nach einer ersten Untersuchung des Quellenbestands relativ unkompliziert herausarbeiten ließen, bereitet die Zuordnung des Quellenmaterials in die einzelnen Abschnitte zum Teil große Schwierigkeiten, da die Quellen oftmals nicht strikt nur einem Themen- bzw. Kontextualisierungskomplex zugeordnet werden können, sondern vielmehr Schnittstellen zwischen zwei oder mehreren Themenschwerpunkten bilden. Die Zuordnung bestimmter Quellenfunde kann durchaus willkürlich oder weniger nachvollziehbar erscheinen, passen die semantischen Erkenntnisse doch oftmals auch in andere thematische Gliederungspunkte. Daher kann und soll diese Einteilung bzw. Zuordnung der Quellen in die einzelnen Gliederungspunkte nicht als starres Gebilde oder geschlossenes Kategoriensystem betrachtet werden. Dennoch erschien eine Gliederung in mehrere Themenschwerpunkte hilfreich, um einzelne Interpretationsfelder und semantische Nuancen und den Facettenreichtum des Begriffs differenziert herausarbeiten zu können.​