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6.3. Politische Religion und die Julirevolution von 1830

Im Juli 1830 entflammte in Frankreich ein revolutionäres Aufbegehren gegen die staatspolitischen Verhältnisse und die Herrschaft der Bourbonen, das dem Begriff Politische Religion einen neuerlichen Popularitätsschub verlieh. Der Begriff wurde nun im Licht des oben betrachteten Deutungsfeldes im Sinne einer politischen Idee in einen neuen Kontext eingebettet. Bereits im Sommer 1829 heizte sich die Stimmung aufgrund einer politischen Herabsetzung der Abgeordnetenkammer durch den ultraroyalistischen Minister Jules de Polignac (1780-1847) und aufgrund sozialer Probleme im Zuge der einsetzenden Industrialisierung in Frankreich innerhalb des liberalen Bürgertums und der (proletarischen) Unterschicht erneut gefährlich auf. Mit den Ordonnances de Juillet, die vom französischen König Karl X. am 25. Juli 1830 unterzeichnet wurden und verfassungsmäßig gewährte Rechte beschneiden sollten, entfesselte Po- lignac die angestaute Wut innerhalb der liberalen Kräfte, die sich zwischen dem 27. bis zum 29. Juli gegen den König und seine ultraroyalistischen Anhänger entlud und zur Abdankung Karls X. führte. Schlussendlich mündete die reaktionäre Politik des französischen Königs in der Herrschaftsübernahme durch König Louis-Philippe I. (1773-1850) sowie der Etablierung einer liberalen Monarchie. Aufgrund der nur dreitägigen Dauer der Julirevolution von 1830, die daher auch Les Trois Glorieuses genannt wird, fällt die Quellenlage aus dem unmittelbaren

Zeitraum der Revolutionstage im Vergleich zur Französischen Revolution weitaus geringer aus. Umso weniger verwundert die Feststellung, dass die hier vorzustellenden Fundstellen ausschließlich aus Quellen stammen, die erst nach der Julirevolution entstanden sind.

Der Julirevolution von 1830 zeitlich am nächsten kommt eine Monographie des Schweizer Historikers Ernst Münch (1798-1841). Den ersten Band seiner sechsbändigen Allgemeinen Geschichte aus dem Jahr 1833 leitet Münch mit einem kurzen Überblick über den zu behandelnden Zeitraum seiner Darstellung der Geschichte Europas ein, der vom Wiener Kongress 1814 bis zur Gegenwart reicht, bevor er die einzelnen Stationen der historischen Ereignisse Europas den Lesenden ausführlich darlegt. In diesem kurzen Überblick erwähnt Münch unter anderem die revolutionären Tage im Juli 1830 gegen die revisionistische Politik ultraroyalistischer Kräfte in Frankreich, deren Geist sich über die französischen Landesgrenzen hinaus in anderen europäischen Staaten ausbreitete, dort die liberale Bevölkerung im Sturm ergriff und dazu anregte, es Frankreich gleichzutun und gegen die herrschenden Umstände im eigenen Land aufzubegehren. So sei die Julirevolution über die Grenzen Frankreichs hinaus:

„als politische Religion mit schwärmerischem Eifer verkündigt und gelehrt [worden]; aber ihre besten Kräfte verschlingt der belgische Aufruhr, nachdem ihre tüchtigsten Helden in Polen und Litthauen Rußlands rächerischem Arme erlegen."[1]

Die revolutionäre Bewegung in Frankreich strahlte unter anderem auf das bereits krisengeschüttelte Vereinigte Königreich der Niederlande aus, dessen überwiegend katholische Bevölkerung im Süden gegen die Vorherrschaft des protestantisch geprägten Nordens aufbegehrte und nach wenigen Wochen die Unabhängigkeit der belgischen Provinzen von der niederländischen Krone proklamierte. Das Motiv der Julirevolution als Politische Religion Münchs erinnert an Formen des Begriffsverständnisses im Kontext der Französischen Revolution, da Münch den Begriff im Sinne einer politischen Idee, in diesem Fall konkret im Sinne des politischen Glaubens an Grundwerte wie Freiheit, Gleichheit und Unabhängigkeit nutzt.

Während die Wirkkraft der französischen Julirevolution bzw. deren Politischer Religion für die südlichen niederländischen Provinzen von Erfolg geprägt war, mussten andere Länder wie Polen und Litauen, deren Bevölkerungen sich von der neuerlichen bürgerlich-liberalen Revolution in Frankreich zu eigenen Aufständen inspirieren ließen, herbe Niederlagen kassieren.

„Die Juliusrevolution geht in ihren moralischen Rückwirkungen auf andere Völker bei Rußland spurlos vorüber und der Bürgerkönig erleidet die Demüthigung, nur eine zögernde, zweifelhafte, bedingte Anerkennung der Quasilegitimität bei dem Bruder des Stifters der Allianz zu erhalten. Sofort strebt Rußland an der Spitze des Gegensatzes wider die neue politische Religion und bekämpft mit sichtbarem, stolzem Ungestüm die herausfordernde Propaganda."[2]

Wie schon viele Verfassende vor ihm konkretisiert auch Münch seinen Begriff von Politische Religion nicht, sondern gibt lediglich durch das inhaltliche Umfeld seines Textes eine Ahnung der von ihm intendierten Semantik. Ob Münch sich mit der Wendung „neue politische Religion" explizit auf den Liberalismus bzw. die proklamierte Unabhängigkeit bezieht oder lediglich seinen Lesenden verdeutlichen möchte, dass bereits vor der Julirevolution in Frankreich Ausdrucksformen von Politischen Religionen existierten, ohne diese explizit zu benennen, kann anhand des Textes nicht zweifelsfrei geklärt werden.

Im fünften Band seiner Allgemeinen Geschichte der neuesten Zeit von 1834 kehrt Münch ein weiteres Mal zum Begriff Politische Religion zurück, verwendet ihn diesmal allerdings im Zusammenhang mit einer Untersuchung der Beziehung zwischen Russland und Kongresspolen
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[1] Ernst Münch: Allgemeine Geschichte der neuesten Zeit von dem Ende des großen Kampfes der europäischen
Mächte wider Napoleon Bonaparte, bis auf unsere Tage. Erster Band. Leipzig, Stuttgart 1833, S. 31.​

[2] Ebd., S. 73f.

im Zeitraum des Veroneser Kongresses von 1822, also zeitlich vor der Julirevolution von 1830. Münch beschreibt in diesem Abschnitt die Politik und Maßnahmen Russlands gegen revolutionäre Bewegungen im Land, die daraus bestanden habe, „diejenigen Grundbegriffe noch deutlicher dem Volke bekannt" zu machen, aus denen die Legitimation der Monarchie und die Pflichten der Untertanen abgeleitet worden seien:

„Das göttliche Recht und die Urkunde des heiligen Bundes wurden als die beiden Hauptquellen und als die Symbolik der in Rußland zu duldenden politischen Religion hingestellt."[1]

Im Gegensatz zum Begriff Politische Religion im Kontext der Julirevolution wird der Begriff in diesem Abschnitt als Kritik gegen das herrschaftliche Selbstverständnis Russlands, aber auch gegen die von der russisch-orthodoxen Kirche unterstützte absolutistische Politik der russischen Monarchie angewandt. Diese Passage belegt, dass Münchs Begriff von Politische Religion sich folglich nicht auf eine bestimmte politische Idee bezieht, sondern als Oberbegriff für eine bestimmte Form politischer Ideen bzw. Haltungen an sich steht. Somit transportiert der Begriff Politische Religion nicht per se eine konnotative Richtung, sondern wird im Zuge einer Pole- misierung genutzt.

Eine in der Wortwahl Münchs recht ähnliche Passage befindet sich in einem Beitrag des württembergischen Historikers Wilhelm Christian Binder (1810-1876) zu Fürst Clemens von Metternich in der Zeitschrift Europa, Chronik der gebildeten Welt. Da Binder zum Zeitpunkt der Veröffentlichung als wissenschaftlicher Mitarbeiter der österreichischen Staatskanzlei in Wien tätig war, überrascht seine sehr wohlwollende Darstellung des österreichischen Diplomaten und reaktionären Staatsmannes sowie seiner Politik als Gegner der nationalen und liberalen Bewegungen nicht. Eine entsprechend negative Stellung bezieht Binder zur Revolution im Juli 1830 und einer Ausbreitung der „verderblichen Wirkungen"[2] der neuerlichen revolutionären Ereignisse über die französischen Landesgrenzen hinaus auf Länder wie „die Niederlande, Polen, die Schweiz, einen großen Theil Deutschlands und mehrere italienische Staaten":

„Ueberall wurden die Glaubensartikel der Julirevolution als politische Religion mit Eifer verkündet und mit Strömen von Blut besiegelt. Nichts geringeres, als der Umsturz aller Rechtsverhältnisse unter dem Vorwande einer neuentdeckten Freiheit, war es, womit diese Ereignisse die ganze bürgerliche und sittliche Ordnung in Europa bedrohten: es that Noth, solchem Unwesen mit Ernst und Energie entgegen zu treten."[3]

Binders Semantik des Begriffs Politische Religion ähnelt dem von Münch verwendeten Begriffsverständnis: Beide Autoren nutzen den Begriff als Oberbegriff für politische Ideen - hier speziell die Ideen des Liberalismus -, die durch ihre Anhänger sakralisiert werden oder deren Verbreitung und Verteidigung gar religiöse Züge tragen. Dabei sind Fragen inhaltlicher Ausformungen
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[1] Ernst Münch: Allgemeine Geschichte der neuesten Zeit von dem Ende des großen Kampfes der europäischen Mächte wider Napoleon Bonaparte, bis auf unsere Tage. Fünfter Band. Leipzig, Stuttgart 1834, S. 336 [Hervorhebungen im Original].
[2] Wilhelm Binder: Fürst Clemens von Metternich, in: August Lewald (Hg.): Europa, Chronik der gebildeten Welt. Zweiter Band. Leipzig, Stuttgart 1835, S. 289-314, hier S. 305: „Als um die Mitte des Jahres 1830 die Revolution in Frankreich einen Erfolg errang, den ihre Urheber selbst vielleicht weder beabsichtigt noch erwartet hatten, mußte dieser plötzliche Sieg schon der Natur der Sache nach auf das ganze Europa mehr oder weniger seine verderblichen Wirkungen ausbreiten" [Hervorhebungen im Original].
[3] Ebd., S. 305. Diese Textpassage findet sich in seiner im darauffolgenden Jahr veröffentlichten biographischen Monographie zu Fürst von Metternich wieder: Wilhelm Binder: Fürst Clemens von Metternich und sein Zeit-Alter. Eine geschichtlich-biographische Darstellung. Ludwigsburg 1836, S. 234.

unerheblich, so dass substantiell betrachtet innerhalb dieses semantischen Begriffsfeldes jede politische Idee als Politische Religion charakterisiert werden könnte. In diesen konkreten Quellenbeispielen ist es die politische Idee der „neuentdeckten Freiheit", die Idee des Liberalismus, die sich wie ein neuer politischer Glaube über die Bevölkerung verschiedener Länder ergießt und von beiden Verfassern beispielhaft als eine mögliche Ausformung Politischer Religionen umschrieben wird.

Im Gegensatz zu Münch, der dem revolutionären Gedanken in seiner Schrift recht wohlwollend gegenübersteht, nimmt Binder eine ablehnende Haltung zur Julirevolution und ihren Auswirkungen auf andere Staaten ein, indem er das gegenrevolutionäre Streben des Fürsten mit anerkennenden Worten beschreibt. Entsprechend lobt Binder das schnelle Erkennen der sich über die Grenzen Frankreichs ausbreitenden Gefahr sowie das konsequente Ergreifen von Gegenmaßnahmen durch Fürst von Metternich und das österreichische Staatswesen. Durch die ablehnende Haltung Binders zum als Politische Religion beschriebenen Subjekt erfährt der Begriff erst im Rahmen seiner Kontextualisierung eine - ähnlich zu Münch - wertende Ausrichtung bzw. eine negative Konnotation.

Im Kontext der französischen Julirevolution von 1830 fand der Begriff Politische Religion nicht nur in geschichtswissenschaftlichen Werken Anwendung. Ignaz von Döllinger (1799-1890), ein katholischer Theologe und Mitglied der Frankfurter Nationalversammlung, baute den Begriff in seine Rede vor der Versammlung der katholischen Vereine des Rheinlands und Westfalens am 18. April 1849 ein. Aufgrund der jüngsten Ereignisse rund um die Frankfurter Reichsverfassung vom März 1849 thematisierten die Versammlungsteilnehmer hauptsächlich die an vielen Orten während der Revolution von 1848/49 gegründeten katholischen Vereine[1] und diskutierten die Frage, ob diese sich allein religiösen Belangen zuwenden oder auch politische Fragen erörtern sollten. Maßgeblich für diese Debatten war der mit der Gründung der katholischen Vereine und auf dem Weg ihrer Selbstwahrnehmung und -findung aufkeimende politische Katholizismus, dessen erste Saat schon im Vormärz gestreut wurde.

Das Vorhandensein von „Streitfragen der höheren Politik" in Frage stellend, „die nicht wenigstens mittelbar mit den religiösen und kirchlichen Interesse zusammenhinge[n]"[2], kritisiert Döllinger die Vorstellung einer abgestuften, auf unmittelbare Fragen kirchlichen bzw. religiösen Interesses limitierten Partizipation und Einflussnahme der katholischen Vereine auf politischer Ebene und thematisiert unter anderem die Gefahren einer möglichen restaurativen Politik für die katholischen Vereine sowie eines Verlustes der Freiheit und Unabhängigkeit der Kirche insgesamt. In Konsequenz seiner für die Zukunft der christlichen Kirche beinahe apokalyptisch anmutende Vorhersage argumentiert Döllinger gegen eine Einbindung „politische[r]
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[1] Eine große Bedeutung erlangten hier die in Döllingers Beitrag explizit erwähnten Piusvereine. Diese wurden von katholischen Vereinen gegründet, die sich im Zuge der zunehmenden Politisierung der katholischen Bevölkerung und unter dem Eindruck der Revolution von 1848/49 zusammenschlossen und die Freiheit der Kirchen vom Staat unter gleichzeitiger Wahrung des kirchlichen - vornehmlich katholischen - Einflusses innerhalb der Gesellschaft forderten. Sie benannten sich selbst nach Papst Pius IX., welcher zu Beginn seines Papstamtes im Jahr 1846 dem Liberalismus gegenüber aufgeschlossen war, im Laufe der Revolution jedoch zum erbitterten Gegner liberaler Ideen avancierte; siehe hierzu Hermann-Josef Scheidgen: Der deutsche Katholizismus in der Revolution von 1848/49. Episkopat - Klerus - Laien - Vereine. Köln 2008.
[2] Auszüge der Debatte vom 18. April 1849 samt Redebeitrag von Ignaz von Döllinger in: Die Katholiken: die Versammlung der katholischen Vereine des Rheinlands und Westfalens (18. April 1849), in: Deutsche Geschichte in Dokumenten und Bildern. Bd. 3: Vom Vormärz bis zur Preußischen Vorherrschaft 1815-1866, S. 9 [online: http://germanhistorydocs.ghi-dc.org/pdf/deu/4_P_O_Catholics_Verlesung_der_Protokolle.pdf; letzter Zugriff: 10.01.2023].

Angelegenheiten des Tages in den Kreis [der] Tätigkeit"[1] katholischer Vereine. Im Zuge seiner mit historischen und gegenwärtigen Negativbeispielen untermauerten Argumentation gegen eine Verquickung kirchlicher, speziell katholischer Vereinigungen mit jeglicher Form von Politik erinnert Döllinger an die nach- oder zwischenrevolutionäre Epoche zwischen 1814 und 1830 und die Positionierung der katholischen Kirche Frankreichs zugunsten der bestehenden monarchischen Verhältnisse, was ihrer Reputation innerhalb der französischen Bevölkerung nachhaltig geschadet habe:

„Es war ein wohlgemeinter, aber in seinen Wirkungen höchst schädlicher Irrtum, der zur Zeit Ludwigs XVIII. und Karls X. so viele französische Priester und Missionare verleitete, fast bei jeder Gelegenheit den Namen des Königs mit dem Namen Gottes zu verknüpfen und die Ergebenheit gegen die Bourbonen, als ob sie ein kirchliches Dogma wäre, von der Kanzel und vom Altar zu predigen. Es ist bekannt, wie schwer diese religiöse Politik und politische Religion nach der Juli-Revolution an den Geistlichen gerochen wurde."[2]

Diese Gegenüberstellung von „religiöse[r] Politik und politische[r] Religion" wird zum Teil noch heute von einigen Verfasserinnen und Verfassern verwendet, um die bilaterale Einmischung in die Sphäre des Anderen zu betonen, wodurch das Verhältnis zwischen Religion und Politik zum Teil einen symbiotischen Charakter erhält.[3] Entgegen dem Begriffsverständnis Münchs von Politische Religion im Sinne eines politischen Glaubens findet sich in Döllingers Begriff zweifelsfrei die Kritik an der fehlenden Trennung beider Sphären und damit eine dem Begriff innewohnende negative Konnotation wieder, die auch dem Spiegelbegriff religiöse Politik innerhalb Döllingers Semantik zu eigen ist. Die „religiöse Politik und politische Religion" müsse folglich mit einer gleichen Vehemenz bekämpfen werden. Obwohl Döllingers Redebeitrag vorwiegend die aktuelle Lage der katholischen Kirche im ereignispolitischen Kontext der Revolution von 1848/49 thematisiert, bezieht er den Begriff Politische Religion bzw. seine Begriffsspiegelung „religiöse Politik und politische Religion" explizit nur auf die französische Julirevolution von 1830.


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[1] Ebd., S. 11: „Es zeigt uns aber dieses schlagende Beispiel, auf welches schlüpfrige und gefahrvolle Gebiet die katholischen Vereine unvermeidlich geraten müssen, sobald sie die politischen Angelegenheiten des Tages in den Kreis ihrer Tätigkeit zu ziehen unternehmen."
[2] Ebd., S. 13f. Diese Stelle aus der Rede Döllingers findet sich in einer posthum herausgegebenen Volksausgabe der von Karl von Rotteck (1775-1840) veröffentlichten Allgemeinen Geschichte wieder: Karl von Rotteck's Allgemeine Geschichte vom Anfang der historischen Kenntniß bis auf unsere Zeiten. Erste Volksausgabe in elf Bänden. Dreiundzwanzigste Auflage. Zehnter Band. Braunschweig 1861, S. 72.
[3] Siehe unten im Abschnitt zum Chiasmus Politische Religion - religiöse Politik.

Zum Abschluss dieses Untersuchungsabschnitts soll noch eine weitere Quelle erwähnt werden: Es handelt sich um eine deutsche Übersetzung des französischen Romans Resignee des bereits erwähnten Schriftstellers Gustave Pierre Drouineau, die von der deutschen Schriftstellerin und Übersetzerin Fanny (eigentlich: Franziska Christiane Johanna Friederike) Tarnow (1779-1862) unter dem Titel Celeste veröffentlicht wurde. Drouineau, der sich nach dem Tod seiner Frau der Religion zuwandte und unter dem Schlagwort Neo-Christianisme eine neue Glaubensbewegung begründen wollte, verarbeitete seine religiösen und moralischen Grundsätze sowie Reformbestrebungen in belletristischer Form mit der Protagonistin Resignee [Celeste] als moralischer Galionsfigur des Romans.

Tarnow änderte nicht nur den Titel und damit den Namen der Hauptfigur aus Drouineaus Werk, sondern setzte jedem Kapitel ein oder mehrere Zitate verschiedener literarischer und philosophischer Denker voran und erweiterte den Originaltext mit eigenen schriftstellerischen Hinzufügungen innerhalb der Übersetzung. In einer Szene den Tod von George Gordon Byron (1788-1824) thematisierend fügte Tarnow dem Originaltext eine selbstverfasste, mehrseitige Hommage an Lord Byron und seiner Beteiligung am Freiheitskampf der Griechen in seinen letzten Lebensjahren hinzu, die sich im französischen Original nicht findet. Diese Einfügung schließt Tarnow mit den Worten:

„Griechenlands Befreiung wurde dadurch für alle Völker Europa's zu einem Artikel ihrer politi-schen Religion; Byrons Tod war ein Sühnopfer: er starb für die Freiheit, deren Hohepriester er Die von Tarnow verwendete Variante des Begriffs Politische Religion weist zwar Ähnlichkeiten zu bereits bekannten Semantiken wie etwa von Wieland oder Gentz im Sinne einer sakrali- sierten politischen Idee auf, doch erscheint der Begriff bei Tarnow - ähnlich zur Begriffsverwendung bei Tuvora - nicht als Polemik mit einer ihm inhärenten negativen Wertung. Die etwa von Wieland artikulierte Kritik an der Sakralisierung bestimmter politischer Ideen, wie etwa dem Liberalismus, fehlt bei Tarnow vollständig, obwohl auch sie den sakralen Wert liberaler Ideen durch die Bezeichnung Lord Byrons als Hohepriester der Freiheit bzw. der Befreiung Griechenlands von der Herrschaft des Osmanischen Reichs hervorhebt. Durch Tarnows positive Wertung des Kampfes Byrons für die Befreiung Griechenlands sowie die sprachliche Erhebung des Freiheitsbegriffs zu einem sakralen Grundwert, deren Befürworter und Kämpfer sprachlich als Hohepriester stilisiert werden, tritt die positive Konnotation des Begriffs Politische Religion deutlich hervor.

Zur Begriffsverwendung inspiriert wurde Tarnow vermutlich von Drouineau, der den Begriff an einer späteren Stelle in seiner Originalschrift im Kontext der französischen Julirevolution von 1830 selbst verwendete und den Liberalismus als politischen Glauben und Hoffnung mit dem Etikett religion politique versah:

„On esperait dans le liberalisme, on croyait en lui: c'etait un lien fort et puissant, un religion politique."[1] [2]

Semantisch und konnotativ korrespondiert Drouineaus religion politique mit der von Tarnow eingefügten Verwendung des Begriffs Politische Religion. Die Besonderheit an dieser Textstelle ist die direkte Bezeichnung des Liberalismus als religion politique bzw. Politische Religion, was
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[1] Fanny Tarnow: Celeste. Nach Drouineau. Bd. 2, Leipzig 1834, S. 229.
[2] Gustave Drouineau: Resignee. Tome Second. Bruxelles 1832, S. 207. In der deutschen Übersetzung heißt es an dieser Stelle: „Der Liberalismus war ein mächtiges, geistiges Band, eine politische Religion geworden" (Tarnow: Celeste, S. 242).

in allen anderen ermittelten Quellen nur zwischen den Zeilen mitschwingt oder unter Verwendung anderer Begriffe der liberal-politischen Sprache wie Freiheit und Gleichheit transportiert wird. Aufgrund der direkt vorangestellten Erwähnung des verbindenden Charakters von Liberalismus kann hinsichtlich des Begriffs religion politique auf eine begriffliche Interpretation Drouineaus unter Hinzunahme eines funktionalistischen Religionsbegriffs geschlossen werden. Gemeinschaftsbildende und -sichernde Merkmale von Religion werden folglich mit dem Begriff religion politique bzw. Politische Religion auf eine politische statt geistig-transzendente Ebene gehoben. Der oben zitierte Satz beendet das Kapitel, sodass leider keine weiteren Hinweise zum Begriffsverständnis aus nachfolgenden Zeilen extrahiert werden können. Das von Drouineau transportierte Begriffsverständnis weist zwar Ähnlichkeiten mit der im sechsten Kapitel zitierten Belegstelle aus seinem Beitrag Une Maison auf, allerdings verschiebt sich in Resignee [Celeste] der begriffliche Fokus durch den Mangel des Possessivs von der Subjektbezogenheit weg und hin auf das Objekt Liberalismus.

Es konnten noch einige weitere Quellen ermittelt werden, die den Begriff Politische Religion in Bezug auf die Pariser Julirevolution 1830 enthalten, doch reihen sich diese auf semantischer oder konnotativer Ebene in die oben genannten Beispiele ein; einige von ihnen finden an anderer Stelle dieser Arbeit Erwähnung.[1] Trotzdem muss festgehalten werden, dass im Vergleich zur Französischen Revolution das Quellenmaterial zum Begriff Politische Religion bezüglich der Julirevolution - sowohl zum Zeitpunkt der Ereignisse als auch in der Retrospektive - wesentlich überschaubarer ist, was unter anderem des wesentlich kürzeren Zeitraums der unmittelbaren revolutionären Ereignisse geschuldet sein mag. Die in diesem Abschnitt untersuchten Quellen verdeutlichen erneut, dass der Begriff in einem interdisziplinären Rahmen trotz einer gleichen Kontextualisierung mit unterschiedlicher Semantik und Konnotation verwendet wurde. Die erwähnten Verfassenden unterscheiden sich voneinander sowohl in ihrer konfessionellen und fachlichen Herkunft als auch im verwendeten Begriffsverständnis von Politische Religion. Die Historiker Ernst Münch und Wilhelm Binder sind zwar unterschiedlicher Kon- fession,[2] lassen allerdings in ihren Schriften - vermutlich aufgrund des gemeinsamen geisteswissenschaftlichen Forschungsbereiches - eine sehr ähnliche Semantik für den Begriff Politische Religion erkennen. Diese Semantik findet sich auch bei Tarnow und Drouineau im Ansatz wieder, auch wenn sie sich in der Konnotation unterscheidet. Im Unterschied zu dieser Gruppe nutzt Ignaz von Döllinger den Begriff in der theologischen Tradition einer Kritik an der Vermischung oder gar Verschmelzung der politischen und religiösen Sphäre, wodurch die negative Konnotation dem Begriff immanent ist und nicht erst durch das inhaltliche Umfeld des Textes generiert wird.


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[1] Einige weitere Quellenbelege, die den Begriff Politische Religion in Bezug auf die Pariser Julirevolution 1830 enthalten, wurden beispielsweise im dritten Unterabschnitt des neunten Kapitels (siehe z. B. Bernard Sarrans) untersucht.
[2] Ernst Münch wuchs in einer streng katholischen Familie auf. Hingegen wurde Wilhelm Christian Binder als Sohn eines evangelischen Pfarrers geboren, trat allerdings 1845 - zehn Jahre nach Veröffentlichung des oben erwähnten Beitrags - zum katholischen Glauben über.