1.2. 18. Jahrhundert
Auch in Publikationen des 18. Jahrhunderts konnte dieses Begriffsverständnis der Politischen Religion innerhalb des Verwendungsfeldes religio externa ermittelt werden, so etwa im 1750 veröffentlichten fünften Teil der Volständigen Erläuterungen und Anmerkungen über das
Natur- und Völkerrecht des aus Norwegen stammenden evangelischen Theologen und Wissenschaftlers Johan Ernst Gunnerus (1718-1773). Die Vollkommenheit des Menschen könne, so Gunnerus, nur erreicht werden, wenn die innere Religion und der äußere Gottesdienst im Einklang zueinanderständen. Als opus operatum seien Handlungen eines äußeren Gottesdienstes zu definieren, von denen angenommen werde, „daß sie Got, [sic] ohne den innern Gottesdienst" gleichfalls gefallen würden.
„Ist der äusere Gottesdienst eine blose Verstellung, so pflegt man ihn die politische Religion (re- ligionem politicam s. exteriorem) zu nennen."[1]
Den Begriff Politische Religion definiert er als einen bewusst „verstelte[n] äußere[n] Gottesdienst", welcher nicht mit der inneren Religion korrespondiere und damit zur Disharmonie zwischen beiden Glaubensebenen führe. Hierbei seien zwei Motive ausschlaggebend für eine Indienstnahme von Religion durch Verstellung des äußeren Gottesdienstes, woraus sich zwei Formen einer Politischen Religion ableiten ließen: Heuchelei und Prahlerei.[2] Nimmt man am äußeren Gottesdienst aus der Motivation heraus teil, „um seinen eigenen Scheinnutzen zu erhalten" und handle damit aus rein opportunistischen Beweggründen, liege „Heuchelei (hypocri- sis)" vor.[3] Eine Heuchelei sei zwar
„eine politische Religion, aber man kan nicht beständig umgekehrt sagen, daß eine jede politische Religion eine Heuchelei sei."[4]
Neben der Heuchelei nennt Gunnerus eine weitere Form der Politischen Religion: Ein „verstel- ter Gottesdienst", welcher der praktizierenden Person dazu dienlich sein solle, „um wegen seiner Gottesfurcht geehrt zu werden", müsse „Pharisäismus oder Pralerei der Gottesfurcht (os- tentatio petatis)"[5] genannt werden. Daraus ergebe sich,
„a) daß alle Pharisäer eine politische Religion haben. b) Daß sie würckliche Heuchler seind. Aber nicht alle Heuchler sind Pharisäer, und viel weniger kan man sagen, daß alle Leute, die eine politische Religion haben, Pharisäer oder Grosprahler der Gottesfurcht wären."[6]
Heuchlerei und Prahlerei seien stets Ausdruckformen von Politischer Religion, doch müsse die Politische Religion im Umkehrschluss nicht notwendig mit Heuchlerei oder Prahlerei einhergehen. Zum Abschluss dieser kurzen Ausführungen schließt Gunnerus den Rahmen und kehrt zurück zur Vollkommenheit des Glaubens in der Einheit von innerem und äußerem Gottesdienst, die es zu erreichen und bewahren gelte und appelliert,
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[1] Johan Ernst Gunnerus: Volständige Erläuterungen und Anmerkungen über das Natur- und Völkerrecht des Herrn Hofrath Darjes. Fünftes Stük. Frankfurt, Leipzig 1750, S. 142.
[2] Gunnerus erwähnt in seiner Schrift nicht, ob es sich bei diesen zwei Formen um einen abschließenden Katalog von Ausdrucksformen Politischer Religion handle oder weitere Formen existieren, die er allerdings nicht als erwähnenswert erachtete.
[3] Gunnerus: Volständige Erläuterungen, S. 142: „Ein verstelter äuserer Gottesdienst, so man deswegen beschlossen hat, um seinen eigenen Scheinnutzen zu erhalten, heist die Heuchelei (hypocrisis)."
[4] Ebd.
[5] Ebd.: „Ein verstelter Gottesdienst, so man deswegen beschlossen hat, um wegen seiner Gottesfurcht geehret zu werden, heist der Pharisäismus oder Pralerei der Gottesfurcht (ostentatio pietatis)."
[6] Ebd. Der Begriff Pharisäer erfuhr bereits im Neuen Testament eine negative Deutung, obwohl die Lehre Jesu auf vielen grundlegenden Glaubenssätzen der Pharisäer beruht. In der Forschung wird vermutet, dass diese Negativdeutung mit einer Verschiebung des Missionierungsfokusses von Juden auf Nicht-Juden einherging. Erst im 18. Jahrhundert entwickelte der Begriff die Bedeutung Heuchler, hochmütig, selbstgerecht (siehe hierzu den Art. Pharisäer, in: DWDS - Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Online: https://www.dwds.de/wb/Pha- ris%C3%A4er#etymwb-1 [letzter Zugriff: 10.01.2023]).
„a) daß man aus dem äusern Gottesdienste kein opus operatum machen darf (§285. n2. Erl.), und b) aus eben dem vorigen Grunde mus man die politische Religion, und alle Heuchelei in der Religion vermeiden (§286 n3. Erl.)."[1]
Im Gegensatz zu den vorgestellten Schriften des 17. Jahrhunderts, die den Begriff Politische Religion in Verbindung mit religiösen Vorstellungen und Institutionen setzten, diente der Begriff bei Gunnerus zur Beschreibung einer Diskrepanz innerhalb der Religiosität des einzelnen Subjektes, womit der Begriff auf eine individuelle Ebene verschoben wurde. Die unter anderem für die zwischen der äußeren und der inneren Religion entstehende Disharmonie ursächliche Heuchelei als Ausdruckform der Politischen Religion weist Ähnlichkeiten zu einem etwa aus reinem Opportunismus gelebten religiösen Indifferentismus auf, die sich mit einem Religionsbegriff zu vermengen scheint, welcher zwischen einer inneren und einer äußeren Religionsebene unterscheidet. Allerdings wurde der religiöse Indifferentismus an sich mit dem Begriff Politische Religion umschrieben, während die Heuchelei bei Gunnerus nur eine von mehreren möglichen Ausdrucksformen der Politischen Religion widerspiegelt. Diese Ähnlichkeit tritt auch in anderen Quellenfunden zum Vorschein. Wie im Einleitungstext bereits angemerkt, ist eine Abgrenzung dieser semantischen Nuancen der Politischen Religion oftmals schwierig, weswegen die thematischen Abschnitte nicht als voneinander unabhängig und in sich geschlossen betrachtet werden dürfen.
In ähnlicher Weise wird der Begriff Politische Religion in der Schrift De Religione Externa von 1750 beschrieben, einer theologischen Auseinandersetzung auf der Grundlage der Unterscheidung zwischen innerer und äußerer Religion. Eine deutsche Übersetzung veröffentlichte der evangelische Pfarrer und Superintendent Johann Michael Uhlich (1713-1774) vier Jahre nach Erscheinen des in Latein verfassten Originals, die im Folgenden zur Grundlage der Untersuchung herangezogen werden soll.[1] Als Verfasser der Originalschrift gibt Uhlich den Mathematiker Gottfried Profe (1712-1770) an. Tatsächlich handelt es sich aber um die Dissertationsschrift eines gewissen Johann Georg Magnus aus Buxtehude (Lebensdaten unbekannt), die dieser 1750 am königlichen Christianeum in Altona bei Profe verteidigte.
Wie der Titel seiner Dissertationsschrift bereits verrät, unterscheidet Magnus zwischen innerer und äußerer Religion.[2] Der Text thematisiert vorwiegend die äußere Religion im Sinne „gottesdienstliche[r] Handlungen nach der Vorschrift göttlicher Vollkommenheit"[3], deren Erkenntnisgrund entweder in der Vernunft oder der Offenbarung liege; wobei beide Formen der Erkenntnis sich miteinander zu einer „vermischte[n] Religion"[4] vermengen. Diese äußere Religion werde aufgrund der „Feyerlichkeit des Orts, der Zeit und der Gebräuche"[5] auch als öffentliche Religion bezeichnet. Nur im Einklang zwischen innerer und äußerer Religion könne
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[1] Godofr. Profe [Johann Georg Magnus]: De Religione externa, in: Johann Michael Uhlich (Hg.): Einleitung in die Lehre der Christen von der Religion, aus denen dogmatischen und historischen Abhandlungen berühmter Gottesgelehrten. Leipzig 1754, S. 214-227. In diesem Fall wird für die Untersuchung auf die deutsche Übersetzung von Uhlich zurückgegriffen, da der Originaltext für diese Forschungsarbeit nicht greifbar war. Folglich ist eine Ermittlung der lateinischen Begriffe, die Uhlich mit Politische Religion übersetzt hat, nicht möglich.
[2] Profe [Magnus]: De Religione externa, S. 218, § 22 [Hervorhebungen im Original]: „Der Mensch bestehet aus Leib und Seele, folglich sind es theils Handlungen der Seele, theils Handlungen des Leibes, mit welchen wir Gott dienen. Jene machen die innerliche, diese aber die äußerliche Religion aus."
[3] Ebd., S. 217, § 11.
[4] Ebd., S. 218, § 17.
[5] Ebd., S. 219, § 22.
man Gott dienen, wohingegen ein äußerlicher Gottesdienst allein keine wahre Religion begründe. Magnus unterscheidet in seinen Ausführungen zwischen drei verschiedenen Formen von äußerlichen Handlungen, die keine wahre Religion begründen: Ein „bloßes Gewohnheitswerk" liege vor, wenn trotz der äußerlichen Handlungen „keine innerliche Bewegung der Seele Gott verehret".[1] „Heuchler" würden jene genannt werden, die sich vermeintlich in den äußerlichen Gottesdienst stellen, jedoch ihre übrigen Handlungen nicht „mit der Ehre des göttlichen Namens"[2] in Einklang bringen.
„Mit dem Leibe, Gesichte und denen Händen bekennen sich manche zur Religion, weil sie der Obrigkeit, die solches befiehlet, nicht wollen ungehorsam, auch nicht für gottlos und verabscheuungswürdig angesehen seyn, und dieser ihre Betrügerey heißt die politische Religion."[3]
Der Verfasser bezieht sich auf die körperliche, folglich nach außen gerichtete Religionsausübung, die manche Menschen als Blendwerk für „ihre Betrügerey" nutzen, um der weltlichen Obrigkeit gefällig zu sein und möglicher Strafen zu entgehen oder Vorteile zu erhalten. Im Vergleich zu Gunnerus lassen sich leichte Verschiebungen in den Nuancen ausmachen, denn während Gunnerus die Politische Religion im Sinne eines Oberbegriffs verwendete, worunter er Ausdrucksformen wie Heuchelei und Prahlerei subsumierte, werden Politische Religion und Heuchelei bei Magnus linguistisch auf einer Ebene stehend dargeboten, so dass Heuchelei und Politische Religion unabhängig voneinander, gleichberechtigt nebeneinanderstehen. In dieser und anderen Umschreibungen der Politischen Religion als religio externa liegt oft unbestreitbar auch ein Hauch von religiösem Indifferentismus, doch unterstreichen die Autoren, die diesem Teilabschnitt zugeordnet wurden, das Moment der äußeren Religion bzw. die Zugehörigkeit der Politischen Religion zum Kanon der unterschiedlichen Ausdrucksformen der äußeren Religion.
Der deutsche Theologe Franz Ignatius Rothfischer (1720/21-1755), welcher bis zu seinem 30. Lebensjahr Mitglied des Benediktinerordens war, 1750 aber zum evangelischen Glauben konvertierte, nutzte den Begriff Politische Religion in seiner dreibändigen Schrift Ablaß und Jubeljahr. Während der erste Teil noch unter Verwendung seines Benediktinernamens Gregorius als Verteidigungsschrift für das von Papst Benedikt XIV. (1675-1758) ausgerufene Heilige Jahr 1750 formuliert war, das unter anderem von dem evangelischen Theologen Ernst August Bertling (1721-1769) in verschiedenen Veröffentlichungen stark kritisiert wurde,[4] verwendete
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[1] Ebd., S. 220, § 24 [Hervorhebungen im Original]: „Wer nur in äußerlichen Handlungen den Schein der Religion annimmt, und durch keine innerliche Bewegung der Seele Gott verehret, der übet keine Religion, sondern ein bloßes Gewohnheitswerk."
[2] Ebd., S. 220, § 25 [Hervorhebungen im Original]: „Wer sich stellet, als diene er Gott in äußerlichen Handlungen, versäumet aber die wahre Erkenntniß Gottes, die innerliche Besserung und die Zusammenstimmung seiner übrigen Handlungen mit der Ehre des göttlichen Namens, der wird ein Heuchler genennet."
[3] Ebd., S. 220, § 26 [Hervorhebungen im Original].
[4] Als Jubeljahr (lat. annus iubilaeus) oder Heiliges Jahr (annus sanctus) wird in der römisch-katholischen Kirche ein besonderes Jahr bezeichnet, in dem den Gläubigen bei Erfüllung bestimmter religiöser Pflichten ein vollständiger Sündenerlass bzw. Ablass durch den Papst gewährt wird. Auf Anordnung von Papst Paul II. (1417-1471) wird das Heilige Jahr seit 1475 alle 25 Jahre gefeiert. Gemäß dieser Tradition erklärte Papst Benedikt XIV. am 5. Mai 1749 das Jahr 1750 zum Heiligen Jahr beginnend am Heiligen Abend 1749; zum Abschluss des Heiligen Jahres 1750 beauftragte der Papst den Franziskaner Leonardo von Porto Maurizio (gest. 1751) mit der Errichtung eines Kreuzwegs am Kolosseum.
Rothfischer prangert in seiner Vorrede Bertlings Erstveröffentlichung zum Heiligen Jahr als Motivation für „viele seiner Glaubensbrüder" an, selbst „ins polemische Feld" gegen die Jubelschrift des Papstes zu ziehen (P. Gregorius Rothfischer: Ablaß und Jubeljahr. Nach mathematischer Lehrart entgegen gesetzt den gegenseitigen Schriften, die bey Gelegenheit des letzteren römischen Jubeljahres sind an das Licht getreten. Erster Abschnitt, oder Historischer Theil. Regensburg, Wien 1751, Vorrede [S. 3]). Die Veröffentlichungen Bertlings: D. Ernst August Bertling: Unterricht vom Päpstlichen Jubel Jahr und vom Ablas, zu mehrerer Einsicht und Beurtheilung des von Benedict dem XIV. auf das Jahr 1750 ausgeschriebenen Jubel Jahrs. Helmstedt 1749; ders.: Versuch einiger Anmerkungen über die Päpstliche Jubel Bulle Benedict des XIV. Helmstedt 1750; ders.: Fortsetzung der Anmerkungen über die Päpstliche Jubel Bulle Benedict des XIV. Helmstedt 1751.
der Konvertit die beiden unter seinem ursprünglichen Taufnamen Franz Rothfischer publizierten Nachfolgebände zur Darlegung der „Bewegungsgründe seines Uebergangs zur Evangelischen Kirche"[1] und schlug dementsprechend gegenüber der römisch-katholischen
Kirche einen zum ersten Teil entgegengesetzten Ton an, deren Lehre und Institution nun als „System des Aberglaubens und des Gewissenszwanges"[2] diffamiert werden, das durch Martin Luther und die Reformation durchbrochen worden sei.
Rothfischer begreift Religion im Dienst gegenüber Gott als „Zeugniß unserer Ueberzeu- gung von Gottes Vollkommenheit" und „daß wir Gott von Herzen und über alles fürchten und ehren."[3] Darauf basierend unterscheidet er zwischen Religion als „innerliche Bewegung des Geistes" und Gottesdienst als äußerliche, „körperliche Verrichtung" und Ausdruck des inneren Glaubens. Wie schon Gunnerus und Magnus geht auch Rothfischer davon aus, dass der äußerliche Gottesdienst notwendig mit der innerlichen Religion eine harmonierende Einheit bilden müsse, sonst handle es sich lediglich um „heuchlerische und falsche Zeichen, mithin keineswegs [um] gottesdienstliche Handlungen".[4] Mit der Weiterentwicklung des Christentums hätten sich sukzessive falsche Glaubenslehren und Liturgien in den wahren Glauben an Gott eingeschlichen und die unabdingbare Einheit zwischen innerer Religion und äußerem Gottesdienst zerstört. Dieser Prozess sei durch jene Gottlosen zusätzlich angefeuert worden, die „den Frommen ihre Ceremonien nachmachen" und an Pracht und Umfang übertrumpfen wollen, in der irrigen Annahme, das „innerliche Wesen der Religion [...] bestünde in dem äußerlichen Schim- mer".[5] Vorangetrieben worden sei diese Verfälschung des äußeren Gottesdienstes und damit die Distanzierung der Gläubigen von dem wahren inneren Glauben an Gott von der römischkatholischen Kirche und ihren Geistlichen selbst, die mit zunehmender Existenz- und später Machtsicherung den Umfang und die Pracht der christlichen Liturgie im Laufe der Jahrhunderte ins Unermessliche anwachsen ließen und zu göttlichen Gesetzen gekrönt hätten. Vor Luther habe es bereits „viele Zeugen der Wahrheit" gegeben, die im Kampf für eine Erlösung „vom Gewissenszwange der römischen Kirche" ihr Leben einsetzten:
„Nur mangelten die günstigen Umstände der Zeit, und die ganze Wirkung dieser Helden blieb in einer gewissen Vorbereitung stehen, durch welche die Großen dieser Welt dem römischen Hofe, und seiner politischen Religion immer abgeneigter, und nach und nach zu dessen gänzlichen Umsturze, durch eine allgemeine Reformation immer mehr und mehr aufgemuntert wurden."[6]
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[1] Franz Rothfischer: Ablaß und Jubeljahr. Zweyter Theil, vom Ursprunge der geistlichen Kirchengewalt überhaupt, und der Päbstlichen insonderheit, als eine Einleitung zu den Bewegungsgründen seines Uebergangs zur Evangelischen Kirche. Dem ersten Theile entgegen gesetzt. Wolffenbüttel 1754; ders.: Ablaß und Jubeljahr. Dritter und letzter Theil, von der Religion überhaupt, und dem Ursprunge der päbstlichen insonderheit, als den wichtigsten Bewegungsgründen seines Ueberganges zur evangelischen Kirche. Dem ersten Theile entgegen gesetzt. Wolffenbüttel 1754.
[2] Rothfischer: Ablaß und Jubeljahr, Dritter Theil, S. 787f.
[3] Ebd., S. 2. Im letzten Teil der Trilogie Ablaß und Jubeljahr bietet Rothfischer im ersten Abschnitt Von der Notwendigkeit der Gewissensfreyheit bey der wahren Religion, und vom Gewissenszwange der römischen Kirche eine ausführliche Darlegung seines Verständnisses von Religion als Grundlage für seine darauffolgend kritische Darstellung der römisch-katholischen Kirche und der Argumentation für seine Hinwendung zur evangelischen Konfession (ebd., S. 1ff.).
[4] Ebd., S. 3.
[5] Ebd., S. 14.
[6] Ebd., S. 788.
Das in dieser Quelle politisierte Narrativ hinsichtlich einer Charakterisierung der römisch-katholischen Kirche findet sich auch in anderen Passagen und zieht sich wie ein roter Faden durch die zwei Nachfolgebände von Ablaß und Jubeljahr; zum Beispiel kritisiert Rothfischer die „politische Verehrung der Märtyrer"[1] ebenso wie an späterer Stelle die „politische Verehrung der Bildnisse"[2] und dergleichen mehr. Gebettet in den Kontext einer religio externa dient der Begriff Politische Religion in der Schrift Rothfischers zur Diskreditierung der römisch-katholischen Kirche und unterstellt ihr eine Politisierung des äußeren Gottesdienstes sowie ihres gesamten Wirkens auf der Grundlage einer Vernetzung der religiösen Ebene mit dem gesellschafts- und weltpolitischen Geschehen. Folglich könnte Rothfischers Verständnis des Begriffs Politische Religion als eine Form der Fehlentwicklung des äußeren Gottesdienstes interpretiert werden. Der Begriff Heuchelei findet sich zwar im textlichen Umfeld, wird aber im Gegensatz zu den Passagen in den Schriften von Gunnerus und Magnus nicht in einem direkten Zusammenhang gestellt.
Rund dreißig Jahre später nahm der oben bereits erwähnte Theologe Johann August Eberhard diese Lesart des Begriffs Politische Religion in seiner Schrift Sittenlehre der Vernunft (1781) auf. Religion als „Ruhm Gottes und seine Verherrlichung"[3] definierend unterscheidet Eberhard ebenfalls zwischen einer „inneren Religion", welche „eine blosse Handlung der Seele ist"[4], und einem „äusseren Gottesdienst", welcher als „Inbegriff aller freywiligen äussern Handlungen, die wir aus Beweggründen der Verherrlichung Gottes vornehmen"[5] definiert wird. Auch Eberhard unterteilt diesen „äusseren Gottesdienst" in verschiedene Ausdrucksformen, die mitunter weniger bis gar nicht mit der inneren Religion und damit dem wahren Glauben an Gott korrespondieren. Er unterscheidet zwischen dem körperlichen Gottesdienst, der Politischen Religion und der Heuchelei, die in seinen Augen allesamt nicht mit der inneren Religion in Harmonie stehen und folglich kein Ausdruck eines „wahre[n] Gottesdienst[es]" sein können:
„Zum äussern Gottestdienst gehörige Handlungen, von denen man glaubt, daß sie ohne innere Religion Gott gefallen können, sind ein bloß körperlicher Gottestdienst (opus operatum). Wenn man sie blos mitmacht, die äussere politische Religion, und wenn man sie mitmacht wegen eigenen Scheinvortheils, Heuchely. Weder der äussere Gottestdient, den wir körperlich (als opus ope- ratum) vornehmen, noch die äussere Religion, noch die Heucheley sind ein wahrer Gottest- dienst."[6]
Eberhards Politische Religion beschreibt den Akt der bloßen Teilnahme an den Handlungen eines äußeren Gottesdienstes einer Religion, ohne einen tatsächlichen Einklang mit der korrespondierenden inneren Religion zu suchen. Die negative Konnotation der Politischen Religion von Gunnerus findet sich unverkennbar in Eberhards Darstellungen wieder. Von der Politischen Religion unterscheidet Eberhard „die Heucheley", welche die Merkmale eines von Opportunismus getriebenen religiösen Indifferentismus erfülle, der zumindest im Bereich der äußeren Religion praktiziert werde.
Für den Begriff „äussere politische Religion" nutzt Eberhard an anderen Stellen lediglich
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[1] Ebd., S. 347.
[2] Ebd., S. 761.
[3] Johann August Eberhard: Sittenlehre der Vernunft. Berlin 1781, S. 135.
[4] Ebd., S. 140.
[5] Ebd., S. 162.
[6] Ebd., S. 165.
die Wendung „äussere Religion", die von seiner im Allgemeinen positiv konnotierten Semantik des „äusseren Gottesdienstes" klar zu unterscheiden ist. In Abgrenzung zur Heuchelei versuche die Politische Religion an sich keinen „eigenen Scheinvortheil" mittels des Praktizierens der Handlungen des äußeren Gottesdienstes zu verfolgen. In einer zusätzlichen Anmerkung zu seiner Darlegung unterstreicht Eberhard, dass seine „politische Religion [...] immer mangelhaft" sei, selbst wenn man sie nicht als „eine menschenfeindliche und stolze Heucheley"[1] bewerten könne. Dies erinnert an die Darlegungen von Gunnerus, dass eine Heuchelei stets eine Politische Religion sei, eine Politische Religion jedoch nicht notwendig als Heuchelei charakterisiert werden könne; eine Ähnlichkeit der Politischen Religion Eberhards mit der Semantik Gunnerus ist unverkennbar; ein tatsächlicher Einfluss der Schrift von Gunnerus auf Eberhards Interpretation der Politischen Religion lässt sich jedoch anhand dieses Quellenbeispiels nur vermuten. Demgegenüber ist eine semantische Linie zu seiner wenige Jahre zuvor erfolgten Definition im Rahmen seiner Charakterisierung des Judentums als Politische Religion in seiner oben bereits erwähnten Kritikschrift Neue Apologie des Sokrates unschwer zu erkennen.
Dieses Begriffsverständnis von Politische Religion findet sich auch in der wenige Jahre später veröffentlichten Schrift Praktische Philosophie des Professors an der Benediktineruniversität Salzburg, Augustin Schelle (1742-1805), welcher im Abschnitt zu Aeußere Gottesverehrung, Heucheley darlegt:
„Solche Handlungen und Zerimonien nur mitmachen heißt äußere politische Religion. Das nämliche thun, um andere glauben zu machen, man habe Frömmigkeit und Andacht im Herzen ist, Scheinheiligkeit, Heuchlerey in der Religion."[2]
In einer Anmerkung setzt Schelle seiner Definition - sich inhaltlich vermutlich auch hier an den Ausführungen Eberhards orientierend - hinzu, dass die „Politische Religion [...] meistens stolze Heucheley"[3] sei.
Eberhards erste Begegnungen mit dem Begriff Politische Religion könnte neben Gunne- rus Schrift auch im Zusammenhang mit Gelehrten der Universität in Halle - wie zum Beispiel dem evangelischen Theologen Siegmund Jakob Baumgarten (1706-1757) - stehen,[4] der die Politische Religion in seiner Schrift Abris einer Geschichte der Religionsparteien (1755) unter dem Begriff der „Indifferentisten" - exemplarisch im Gefolge von Atheismus und Deismus - subsumiert und als „Irrtum dieser syncretistischen Naturalisten"[5] definiert. Eine kurze Erklärung von Baumgartens Kritik wurde erst in dem posthum von Johann Salomon Semler
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[1] Ebd., S. 166: „Die politische Religion ist also immer mangelhaft, gesetzt daß sie auch nicht eine menschen
feindliche und stolze Heucheley ist."
[2] Augustin Schelle: Praktische Philosophie zum Gebrauch akademischer Vorlesungen. Erster Theil, welcher die allgemeine praktische Philosophie und Moral enthält. Salzburg 1785, S. 441. Tatsächlich wird Eberhards Sittenlehre der Vernunft ausdrücklich von Schelle erwähnt, vgl. ebd., S. 246.
[3] Ebd.: „Heucheley wird am leichtesten am übertriebenen erkannt: denn sie ist gemeiniglich mit Prahlerey, Andächteley und geistlichem Stolze verbunden. Blos körperliche Gottesvehrung [sic] setzt Mangel der Erkenntnis Gottes voraus. Politische Religion ist meistens stolze Heucheley."
[4] Eberhard studierte 1756-59 an der Universität Halle bei Baumgarten und dem im weiteren Verlauf noch zu erwähnenden Johann Salomon Semler Theologie und war folglich mit ihren Schriften und Lehren vertraut.
[5] Sigmund Jacob Baumgarten: Abris einer Geschichte der Religionsparteien, oder gottesdienstlichen Gesellschaften, und derselben Streitigkeiten so wol als Spaltungen, ausser und in der Christenheit. Halle 1755, S. 25f.: „[Darunter] werden diejenigen verstanden, welche die Grundlage der natürlichen Religion vor hinlänglich zur Bestimmung und Wohlfart der Menschen, alle Verschiedenheit und Erweiterung derselben aber durch fremde Zusätze für gleichgültig halten. [...] Der Irtum dieser syncretistischen Naturalisten, oder naturalistischen Latitudinarier wird auch der Gallionismus, ingleichen die politische, machiavellistische und eclectische, wie auch die algemeine Religion genant."
(1725-1791) herausgegebenen Buch Geschichte der Religionspartheyen[1] schriftlich festgehalten. So sei die Politische Religion abzulehnen,
„weil aus unrichtigen Grundsätzen der Staatskunst das Beste des gemeinen Wesens zum Bestimmungsgrunde der Religion und ihrer Einrichtung angenommen und gebraucht wird. Wenn also salus publica pro suprema lege auch in sacris angenommen wird, so ist dergleichen nur alsdenn rechtmäßig und gegründet, wenn von der äussern Einrichtung der Stücke des Gottesdienstes die Rede ist, und nicht von der inneren Bestimmung des Gottesdienstes selbst, die auf göttlicher Verordnung und Offenbarung beruhen muß; obgleich GOtt selbst salutem publicam, nur nicht bloß civilem, sondern auch des künftigen Zustandes nach dem Tode, zur Absicht und zum Bestimmungsgrunde hat."[2]
Der religiöse bzw. konfessionelle Indifferentismus des Individuums tritt an dieser Fundstelle in den Hintergrund für eine Politische Religion der Gemeinschaft, für eine Nutzung der religio externa zur Förderung weltlicher, hier insbesondere staatspolitischer Zwecke und Ziele. In Baumgartens Schriften nimmt innerhalb der Auseinandersetzung mit dem Wesen von Religion insbesondere die religio interna, die innere oder auch Privatreligion, als Gegenpol zur religio externa einen ungemein hohen und positiven Stellenwert ein. Die bereits bei Gunnerus angesprochene Unterscheidung zwischen äußerer und innerer Religion diente auch Baumgarten als Grundlage zur Bewertung der Frage nach Grenzen weltlich-herrschaftlichen Eingreifens in religiöse Bereiche, das auf äußere Belange beschränkt bleiben müsse und keinen Einfluss auf die inneren Religionsbereiche wie etwa der Kirchenlehre oder gar der individuellen Religiosität (zum Beispiel durch Religionszwang) ausüben dürfe. Baumgartens Kritik galt hierbei insbesondere den Vertretern einer natürlichen Religion, denen er vorwarf, aufgrund der Ablehnung christlicher Institutionen und Dogmen sowie der Befürwortung einer allein auf Vernunft basierenden Sittenlehre fremden oder falschen Glaubensauffassungen Einlass in den wahren christlichen Glauben zu gewähren.[3] Eine Nähe zu dem Begriffsverständnis der Politischen Religion im Sinne eines religiösen oder konfessionellen Indifferentismus ist offensichtlich.
Der deutsche Philosoph und Vertreter der Aufklärung in Halle, Georg Friedrich Meier (1718-1777),[4] ein Schüler und Günstling von Siegmund Jakob Baumgarten und dessen Bruder, dem Philosophen Alexander Gottlieb Baumgarten (1714-1762), verwendete den Begriff Politische Religion im zweiten Band seiner Philosophischen Sittenlehre von 1762. Wie schon Ernst Gunnerus vor ihm verortet auch Meier die Politische Religion in den Bereich „der Verstellung in der Religion"[5], dem Vortäuschen eines äußeren Dienstes gegenüber Gott, welcher den innerlich tatsächlichen Religionsmeinungen zuwiderlaufen kann.[6]
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[1] Semler, zunächst Schüler Baumgartens und später zusammen mit diesem Lehrer an der Theologischen Fakultät der Universität Halle, nahm dessen Abris als Grundlage und erweiterte diese Schrift um Vorlesungsmanuskripte und -mitschriften, siehe Baumgarten: Geschichte der Religionspartheyen. Hrsg. v. Johann Salomon Semler. Halle 1766, S. 3f. Zur Editionsgeschichte der Vorlesungen siehe Marianne Schröter: Aufklärung durch Historisierung. Johann Salomo Semlers Hermeneutik des Christentums (= Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung, 44). Berlin 2012, S. 231-233.
[2] Baumgarten: Geschichte der Religionsparteien, S. 106f.
[3] Zum Religionsbegriff von Baumgarten siehe Feil: Religio Bd. IV, S. 43-50.
[4] Zu Georg Friedrich Meier siehe Feil: Religio IV, S. 88-122.
[5] Georg Friedrich Meier: Philosophische Sittenlehre. Anderer Theil, zweyte verbesserte Auflage. Halle 1762, S. 108: „Das andere, welches bey dem äusserlichen Gottesdienste ein sehr grosser Fehler, und eine sehr grosse Versündigung wider GOtt, seyn kan, besteht in der Verstellung in der Religion, wenn man sich bloß so stellt, als wenn man GOtt äusserlich diene, und dienen wolle" [Hervorhebungen im Original].
[6] „Allein wer sich verstellt, der macht sich aus der Religion, die er äusserlich vorgiebt, gar nichts, und er pflichtet ganz andern Meinungen von der Religion bey, als die sein äusserliches Verhalten an den Tag legt" (ebd., S. 109).
„Es hat Leute gegeben, und giebt noch welche von der Art, die da glauben, daß die Religion eine blosse Staatserfindung sey, um den Pöbel im Zaum zu halten. Sie geben vor, man müsse dieselbe deshalb beybehalten und befördern, und zu dem Ende müsten vernünftige Leute sich äusserlich so stellen, als wären sie der Religion zugethan, und sie müsten alles äusserlich mitmachen, was die Landes-Religion mit sich bringe. Daher benennen sie, die Verstellung in der Religion, mit vielen prächtigen Namen. Sie nennen dieselbe die politische Religion, die statistische Religion, die Religion des Hofes, die Religion der Klugen, die philosophische Religion, die ecclectische u.s.w. Allein, wenn man von derselben ein vernünftiges Urtheil fällen will, so muß man erst ihre verschiedenen Arten untersuchen, und alsdenn wird erhellen, ob sie diese rühmlichen Benennungen verdiene, oder nicht."[1]
Auch Meiers Politische Religion beschreibt das Vortäuschen einer Religions- bzw. Konfessionszugehörigkeit durch den äußeren Gottesdienst, der mit der wahren innerlichen Religion oder Religionshaltung nicht korrespondiert. Die Beweggründe spielen in Meiers Ausführungen zur Charakterisierung der Politischen Religion eine eher nebensächliche Rolle. So können zum Beispiel die äußeren Umstände eine Person zur „Verstellung in der Religion" zwingen, wenn etwa die „Landes-Religion" von der innerlichen Religion abweicht und eine Zurschaustellung dieser Religionsabweichung eine Gefahr für die eigene Sicherheit darstelle. Darüber hinaus sei die „Verstellung in der Religion" und damit auch die Politische Religion kein Hinweis dafür, dass die innerliche Religion von unwahren Elementen des Glaubens durchzogen sei. So könne ein Mensch, der „sich in der Religion verstellt, [...] in seinem Herzen entweder der wahren oder der falschen Religion zugethan"[1] sein. Im weiteren Verlauf stellt Meier fest, dass die „Verstellung in der Religion" entweder „eine Heucheley, oder keine Heucheley"[2] sei, womit er die Heuchelei in ein zu Gunnerus Darlegungen ähnliches Verhältnis zur Politischen Religion stellt.
Der bereits erwähnte Bibelwissenschaftler und Theologieprofessor Johann Salomon Semler, ein Schüler Meiers sowie Baumgartens und dessen Nachfolger im Amt des Direktors der Theologischen Fakultät an der Universität in Halle, nutzte den Begriff der Politischen Religion in einer ähnlichen Bedeutungsnuance auch in seinen eigenen Schriften.[3] Der 1773 veröffentlichte Versuch eines fruchtbaren Auszugs der Kirchengeschichte ist ein erster belegbarer Hinweis auf eine Verwendung des Begriffs Politische Religion in Semlers Schriften. In diesen Erläuterungen zur christlichen Kirchengeschichte im 13. Jahrhundert thematisiert Semler unter anderem das Problem einer „Vermehrung des Aberglaubens" auf institutioneller Ebene der christlichen Gemeinschaft. Im Zentrum seiner Kritik stehen u. a. die im 13. Jahrhundert verkündeten Entscheidungen römisch-christlicher Konzile, aber auch die Praxis der von Rom abgespaltenen griechisch-orthodoxen Kirche:
„In der griechischen Kirche ist, was gemeine Kirchenglieder betrifft, eben dieselbe abergläubische
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[1] Meier: Philosophische Sittenlehre, S. 114.
[2] Ebd., S. 110f.
[3] Als Vertreter der Aufklärungstheologie war Semler bemüht, die lutherische Theologie und Tradition mit den Gedanken der Aufklärung zu verbinden. Die Grundlage seiner Schriften bildete eine kritische Analyse von Bibeltexten auf der Basis einer historisch-kritischen Schriftforschung, aber auch eine scharfe Kritik an deistischen oder naturalistischen Ansätzen von Religion und Glaubenskonzepten. Ein Kennzeichen von Semlers Theologie ist die Unterscheidung zwischen einer nach außen gerichteten, institutionalisierten Religion etwa in Form von Kirchen und Zeremonien, die allein der Theologie dienlich sei, und einer inneren, einer Privatreligion, welche einzig dem Gewissen und der Erkenntnis des einzelnen Gläubigen unterworfen sei.
Unwissenheit fleißig erhalten worden, wie die Vornemen aus dieser politischen Religion auch nur Mittel zu ihren Absichten gemacht haben."[1]
Semler merkt an dieser Stelle kritisch an, dass bei den Mitgliedern der griechisch-orthodoxen Kirche „abergläubische Unwissenheit" vorherrsche, die von der (kirchlichen) Obrigkeit bei den Anhängern der Religion gefördert und als Mittel zur Erlangung diesseitiger Zwecke instrumentalisiert werde. Denn mittels dieser Unwissenheit bewahre die griechisch-orthodoxe Kirche ihre Machtposition gegenüber dem Kreise ihrer Gläubigen, die auf die Interpretation heiliger Texte durch Kirchengelehrte angewiesen blieben.
Wenige Jahre später griff Semler in seinem Versuch einer freiern theologischen Lehrart (1777) erneut auf den Begriff zurück. Im Abschnitt zur natürlichen Religion kritisiert er jene Anhänger einer Glaubensrichtung, die eine Offenbarung Gottes als nicht zwingend notwendig zur Erlangung von Seligkeit erachten. Semler nutzt den Begriff der natürlichen Religion zur Charakterisierung insbesondere der polytheistischen oder heidnischen Glaubensrichtungen, die er von der jüdischen und christlichen Religion unterscheidet. Auch in diesen Ausführungen beschreibt er die Politische Religion als eine nach außen getragene Glaubenshaltung, die rein „äusserlichen Absichten" bzw. lediglich weltlichen Zwecken diene und keinem tatsächlich im tiefsten Inneren des Menschen verwurzelten Glauben einer Offenbarung Gottes folge.
„Man übertreibt die Beschreibung der Abgötterey, als wenn sie ganz allein geherrscht hätte in der übrigen Welt; man vermengt äusserliche politische Religion, zu äusserlichen Absichten, und be- sondre innere Religion eben der Menschen, welche wirklich häufig an jenem Pomp und äusserlicher Feierlichkeit selbst keinen Antheil namen."[2]
Dabei handle es sich nach Semler jedoch nicht um einen Kritikpunkt, der allein den polytheistischen oder heidnischen Religionen angelastet werden könne, sondern selbst in der christlichen Glaubenswelt anzutreffen sei. Dennoch sei der Makel einer Politischen Religion in erster Linie in nichtchristlichen Religionskonzepten, besonders dem Heidentum anzutreffen, wie er an einer späteren Stelle seiner Schrift verdeutlicht:
„Daß JEsus ein wahrer Mensch sey, beweisen einige theils aus der Absicht und Sache selbst, indem er eben für Menschen der Urheber einer wahren grössern Wohlfahrt seyn solte, welche weder aus dem jüdischen Gesetz, für Juden, noch aus der einzelen politischen Religion der Heiden, statt fand: theils aus den Erzählungen von der menschlichen Lebensgeschichte JEsu."[3]
Den zuvor zitierten Textabschnitt mitbetrachtend bezieht sich Semler mit der „politischen Religion der Heiden" auf die nach außen gerichtete Religionsausübung durch Kulthandlungen respektive einer Religionspraxis durch Zeremonien. Im Gegensatz dazu sei die Offenbarung Gottes durch Jesus Christus der wohl (einzig) wahre Weg zur Erlangung einer vollendeten Seligkeit und Erlösung durch Gott.
In den darauffolgenden Jahren erschienen weitere Schriften, in denen Semler auf den Begriff zurückgriff. In seiner Vorrede zur 1779 publizierten Schrift Beantwortung der Fragmente
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[1] Johann Salomon Semler: Versuch eines fruchtbaren Auszugs der Kirchengeschichte. Erster Band bis 1400. Halle 1773, S. 596; für eine Zusammenfassung zum Religionsbegriff Semlers siehe Feil: Religio Bd. IV, S. 427-476.
[2] Johann Salomon Semler: Versuch einer freiern theologischen Lehrart, zur Bestätigung und Erläuterung seines lateinischen Buchs. Halle im Magdeburgischen 1777, S. 89.
[3] Ebd., S. 412.
eines Ungenanten,[1] dem Versuch einer Widerlegung von posthum und anonym veröffentlichten Ausführungen des Bibelkritikers Hermann Samuel Reimarus (1694-1768),[2] schreibt
Semler von einer „einseitigen, eigennützigen politischen Religion"[3], die einzig und allein dem Moment des Eigennutzes für das persönliche Wohl diene und einer Gemeinnützigkeit im wahren (christlichen) Glauben an Gott entgegenstehe. In seinen einleitenden Worten zur Auseinandersetzung mit den bibelkritischen Ausführungen Reimarus' leitet Semler die ablehnende Haltung zur Offenbarungstheologie von dem mittelalterlichen Begriffsverständnis der Religion als Bezeichnung für Orden und Ordensmitgliedern ab.[4] Hieraus sei das gegensätzliche Verständnis zwischen Religion auf der einen Seite und Christentum oder christlichem Glauben auf der anderen Seite entstanden, das sich schließlich zu einem Gegensatz zwischen Deisten oder Naturalisten und insbesondere der orthodox lutherischen Theologie entwickelt habe.
Ähnlich verhält es sich im Vorwort des 1786 erschienen zweiten Teils eines Versuchs christlicher Jahrbücher, in dem er wiederholt den Unterschied formuliert zwischen einer äußeren, „kirchlichen oder politischen Religion" und einer wahren „lieben christlichen Religion, welche gar nicht zu politischen, äußerlichen Absichten bestimt ist."[5] Seine Kritik am Missbrauch der christlichen Lehren, des wahren Christentums für weltliche Zwecke und eine Unterdrückung von Glaubensmitgliedern durch christliche Institutionen bzw. Kirchen wird in diesem Textabschnitt besonders deutlich. Semler warnt vor einem endgültigen Verfall der christlichen Religion durch eine Konzentration auf Äußerlichkeiten und ruft zur Besinnung auf die innere Praxis der Religion, zur Belebung des christlichen Glaubens im Innern eines jeden Gläubigen auf. In gewisser Weise nutzt Semler den Begriff Politische Religion damit auch im Rahmen von inner- und interkonfessionellen Auseinandersetzungen.
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[1] Johann Salomon Semler: Beantwortung der Fragmente eines Ungenanten insbesondere vom Zweck Jesu und seiner Jünger. Halle 1779
des bibelkritischen Inhalts nicht wagte und Lessing zum Schutz der Familie die Identität des Verfassers nicht preisgeben wollte, wurde die Sammlung unter dem Titel Fragmente eines (Wolfenbüttelschen) Ungenanten bekannt. Erst vierzig Jahre später erfuhr die Öffentlichkeit den Namen des Verfassers, als dessen Sohn Albert Heinrich Reimarus eine vollständige Handschrift der Apologie der Hamburger Bibliothek vermachte. Reima- rus Schrift und die fragmentarische Veröffentlichung durch Lessing löste den so genannten Fragmentenstreit aus, eine der bedeutendsten theologischen Auseinandersetzung des 18. Jahrhunderts zwischen aufklärerischen, zumeist deistischen Überzeugungen und der orthodoxen lutherischen Theologie.
[3] Semler: Beantwortung der Fragmente, unpag. [S. 21]: „Die Religionsleute unterjochen ihn; die redlichen, die rechtschaffenen Christen-Menschen erhalten sich; streben jener einseitigen, eigennützigen politischen Religion entgegen; verachten sie, in allen ihren unwürdigen Gestalten; trösten sich zuweilen mit manchen redlichen Religiosen, die ebenfals an den wissentlichen Unordnungen und unwürdigen Misbräuchen nicht Theil namen, weil sie stets edlere reine Grundsätze aus dem Christentum zu ihrer innern Besserung sich leiten liessen, schon ehe sie in diese gleissende Geselschaften eintraten, oder eintreten musten."
[4] Ebd., unpag. [S. 20]: „Da Religio das Wort war, welches die Mönchsorden bedeutete: weil das wirkliche innere Christentum unter den so vielen Christen immer mehr unbekant, und eine blos äusserliche Gewonheit wurde, die nach Zeit und Ort sichtbar seyn muste."
[5] Johann Salomon Semler: Versuch christlicher Jahrbücher, oder ausführlicher Tabellen über die Kirchenhistorie. Zweiter Teil. Halle 1786, unpag. [S. 6]: „Wir sehen also jene falsche verdorbene Kirche jetzt wirklich für das an, was sie ist; das bloße Gerede von der christlichen Religion, in einer gebieterischen Sprache; die gebieterisch fortgesetzte, vorgeschriebene Theilmemung an den sogenanten Grundartikeln des christlichen Glaubens, welche doch von Päbsten und ihrer ganzen Hofhaltung nur zur weltlichsten, zur tirannischen Beherrschung der Christen, und gar nicht zur allgemeinen moralischen Wohlfart, angewendet worden: täuscht uns nicht mehr. Wir sehen den Abstand, den Unterschied jener kirchlichen oder politischen Religion von der uns, Gottlob, nun selbst bekanten und lieben christlichen Religion, welche gar nicht zu politischen, äußerlichen Absichten bestimt ist."
Ein letztes Beispiel für Semlers Verwendungsspektrum der Politischen Religion ist in seinem 1792 posthum veröffentlichten Letzten Glaubensbekenntniß über natürliche und christliche Religionen enthalten.[1] Die Grundlage dieser von seinem Schüler Christian Gottfried Schütz (1747-1832) herausgegebenen Apologie bildet die von Semler stets konstatierte Unterscheidung zwischen der äußeren, öffentlichen Religion auf der einen Seite und einer inneren, privaten Religion auf der anderen Seite, welche sowohl in christlichen wie auch in nichtchristlichen Glaubenskonzepten anzutreffen sei.[2] Während die öffentliche oder äußere Religion ihrem Wesen nach von äußeren Merkmalen wie Institutionen, Dogmen oder Zeremonien durchwoben sei, beschreibt Semler die „Privat-Religion" als frei von diesen äußeren religiösen Ausdrucksformen und „keiner menschlichen Lehrform, sondern Gotte und dem Gewissen allein unterworfen."[3] Die öffentliche Religion besitze eine besondere Rolle bei der Staats- und Gesellschaftsgründung, indem sie „zum festern Bande der bürgerlichen Gesellschaft durch Gesetze" eingeführt worden sei.[4] Trotz seiner klaren Präferenz für die „Privat-Religion" wird in dieser Schrift eine von Semler erachtete Notwendigkeit der öffentlichen bzw. äußeren Religion als Bindemittel und Sicherungsmechanismus von gesellschaftlichen Gefügen deutlich.[5] Im Vergleich zum Judentum und Heidentum, welche als „öffentliche National-Religion[en]" mit lediglich politischen Absichten getränkt charakterisiert werden, sei die christliche oder auch „neue Religion" im Grunde von einer „ganz andre[n] moralische[n] Natur", könne aber vom Menschen „in eine eben so unmoralische blos politische Religion verwandelt" werden.[6] Diese Kritik und gleichzeitige Warnung Semlers gelten für das römisch-katholische Christentum und den Protestantismus gleichermaßen. So berge der Versuch oder die Intention, eine „Einheit aller öffentlichen Religionsform für alle Menschen"[7] zu schaffen, die Gefahr eines Verlustes der „Privat-Religion". Diese Bedrohung für das Christentum manifestiere sich in der immer neuen Erfindung und Entwicklung von theologischen Dogmen, religiösen Lehrsätzen und christlichen Zeremonien zur Regelung und Regulierung des christlichen Lebens durch Kirchen und Geistliche, welche von den Glaubensanhängern aufgesogen und eifrig verinnerlicht wurden, so dass „die eigene Verehrung Gottes ganz verdunkelt wurde, die sonst sehr bald diese falsche und blos politische Religion richtig beurtheilt haben würde."[8] Wie schon in seinen früheren Schriften, verbindet Semler die Politische Religion mit dem Begriff einer äußeren oder öffentlichen Religion, reserviert den Begriff allerdings nicht allein für nichtchristliche Glaubenskonzepte. So bestehe auch für das Christentum stets die Gefahr eines Abdriftens in eine äußere Religionsform,
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[1] Hierzu Feil: Religio Bd. IV, S. 466-472.
[2] Johann Salomon Semler: Letztes Glaubensbekenntniß über natürliche und christliche Religion. Königsberg 1792, S. 5: „Diese Privat-Religion so wol unter den Christen als Unchristen war zu allen Zeiten da, neben der öffentlichen oder gesellschaftlichen Religionsform, aber auch immer eben so verschieden, eben so ungleich als diese."
[3] Ebd., S. 137: „Die innere eigene Religion ist gar keiner menschlichen Lehrform, sondern Gotte und dem Gewissen allein unterworfen."
[4] Ebd., S. 5.
[5] Siehe hierzu ebd., 2, S. 109ff.
[6] Ebd., S. 10.
[7] Ebd., S. 133.
[8] Ebd., S. 237: „Durch die Festtage unterstüzte man die neuen Lehren; die Christen lernten sie nun um des historischen Christus willen hochschäzen, und sezten ihre ganze Religion in die fleißige Feier solcher Festtage, wovon sie immer mehr Historien und Fabeln hörten und ganz leicht glaubten; worüber die eigene Verehrung Gottes ganz verdunkelt wurde, die sonst sehr bald diese falsche und blos politische Religion richtig beurtheilt haben würde. Desto eifriger hielten nun Pfaffen und Mönche über dieser Kirchenreligion, wovon sie selbst immer mehr Nuzen hatten, da sie indes den äusserlichen Kirchenchristen ganz sicher, ganz schändlich und unchristlich eine ewige Seligkeit versprachen, wenn sie nur alles das glaubten, was die Kirche glaubte."
die als Politische Religion zu charakterisieren sei. Diese Begriffe werden von Semler nicht synonym, sondern zueinander abgestuft verwendet: So ist jede Politische Religion eine äußere Religion, aber nicht jede äußere Religion ist eine Politische Religion.
Zusammenfassend konnte aus den verschiedenen Schriften eine einheitliche Bedeutungsnuance in der Verwendung des Begriffs Politische Religion bei Semler extrahiert werden: Die Charakterisierung der Politischen Religion als eine nach außen und auf diesseitige Belange gerichtete Religion, eine religio externa, die einzig für weltliche Zwecken instrumentalisiert wird, unter denen der Eigennutz eine besondere Stellung in der Auseinandersetzung mit der Politischen Religion einnimmt. Die Instrumentalisierung der Religion erfolge nicht nur durch weltliche Herrscher, sondern im gleichen Maße auch durch geistliche Führer. In Semlers Unterscheidungsrahmen zwischen einer äußeren und einer inneren Religion ist der Begriff Politische Religion stets mit einer negativen Konnotation im Bereich der äußeren Religion eingebettet. Die Umschreibung der Politischen Religion als Mittel zum Erreichen weltlicher Ziele, zur Durchsetzung diesseitiger Absichten zieht sich durch alle hier betrachteten Werke Semlers. Der Begriff wurde von ihm innerhalb der einzelnen Schriften nur an vereinzelten Stellen verwendet, findet sich aber in vielen seiner Veröffentlichungen wieder. So kann an dieser Stelle wohl festgehalten werden, dass der Begriff Politische Religion bei Semler Eingang in sein begriffliches Repertoire gefunden hatte.
1790 richtete sich Semler mit einem Leserbrief an die Herausgeber der Monatsschrift Berlinisches Journal für Aufklärung,[1] in welchem er den zuvor anonym veröffentlichten Aufsatz Über Religion und Theologie[2] kritisierte. Der Herausgeber der Monatsschrift, der evangelische Theologe und Publizist Andreas Riem (1749-1814), wandte sich daraufhin mit einem Antwortschreiben An Herrn D. Semmler, über den vorstehenden Aufsatz über Religion und Theologie. Gleich zu Beginn seines Antwortschreibens bekennt Riem sich als Deist und setzt nach, dass er sich unter anderem durch das Studium der Schriften Semlers und der „Prüfung Ihrer Meinung über Privat- und Oeffentliche Religion" zum Übergang zu einem „reinen Deis- mus"[3] genötigt sehe. Riem beschreibt kurz Semlers Definition von Religion und dessen Unterscheidung zwischen „Privat- und Oeffentliche Religion":
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[1] Das Berlinisches Journal für Aufklärung wurde von Andreas Riem zusammen mit Gottlieb Nathanael Fischer (1748-1800) zwischen 1788-1790 monatlich herausgegeben; ab Juli 1790 wird nur noch Andreas Riem als Herausgeber genannt. Die letzte Ausgabe erschien im Oktober 1790. Über Fischer lässt sich erneut eine Verbindung zur Universität in Halle herstellen, an welcher er unter anderem ab 1766 Theologie studierte.
[2] [Andreas Riem]: Ueber Religion und Theologie. Von einem Zweifler der Belehrung wünscht, in: Berlinisches Journal für Aufklärung 5.3 (Dezember 1789), S. 276-288. Eine Fortsetzung des Aufsatzes folgte im Februar 1790, den Abschluss bildet das hier erwähnte, sehr ausführliche Antwortschreiben, dessen Verfasser nicht namentlich genannt wird; höchstwahrscheinlich wurde es von einem der Herausgeber verfasst.
Den aufmerksam Lesenden der erwähnten Februarausgabe wird auch die Begriffsverwendung im Beitrag Versuch einer Kritik der Religion und aller religiösen Dogmatik von Johann Heinrich Tiefentrunk (17601837) nicht entgangen sein: „Wenn die Vernunft schweigt; so spricht die Sinnlichkeit, und erobert alles durch ihre Triebe, Neigungen und Leidenschaften. Sie verdrängt sogleich die allgemeine Gesetzgebung, und setzt an ihre Stelle die Selbstsucht; und wie sich die ganze moralische Religion nach dem Sittengesetze formt, so formt sich die politische Religion nach der Selbstsucht; es wird alles sinnlich, die Selbstsucht schmiedet Maximen im Namen der Religion, und die Phantasie gibt Spielwerk im Namen der Religion" ([Johann Heinrich Tiefentrunk]: Versuch einer Kritik der Religion und aller religiösen Dogmatik, mit besonderer Rücksicht auf das Christenthum. Vom Verfasser des Einzigmöglichen Zwecks Jesu, in: Berlinisches Journal für Aufklärung 6.2 [Februar 1790], S. 167-192, Zitat S. 190).
[3] [Andreas Riem]: An Herrn D. Semmler, über den vorstehenden Aufsatz über Religion und Theologie, in: Berlinisches Journal für Aufklärung 8.3 (September 1790), S. 256-312, Zitat S. 257. „Nach Ihnen giebt es eine allgemeine moralische Religion, welche sich in ihrem Werth nach Ver¬schiedenheit des Maaßes menschlicher Erkenntnisse richtet. Das jedesmalige Maas derselben be¬stimmte die Privat-Religion der Weisern. Noch giebt es nach Ihnen eine politische oder öffentli¬che Religion, wie sie Geistliche, oder Obrigkeiten vorschrieben."
Die hier verwendete Semantik des Begriffs Politische Religion als Synonym zur „Oeffentlichen Religion" ist folglich nicht die eigene Interpretation Riems, sondern das von Semler zur Kritik seines Religionsbegriffs übernommene Begriffsverständnis. Gleiches gilt für eine weitere Fundstelle im Verlauf von Riems Schreiben, an der er die Mängel der „Privat-Religion" aufzeigt, die sich unweigerlich auf die Politische Religion auswirken würden:
„Ist Privat-Religion eben den Mängeln unterworfen, daß sie nicht mit Gewißheit ihre Gottesverehrung bestimmen kann, so ist sie gleich unzuverläßig mit der politischen Religion und gutgemeinte Phantasie eines dankbaren Herzens."[1]
Drei Jahre später kehrt Riem in seiner Darlegung Ueber Religion als Gegenstand der verschiedenen Staatsverfassungen (1793) erneut für einen Augenblick zum Begriff Politische Religion zurück, um ihm einen kurzen Auftritt in seiner Schrift zu gewähren. Innerhalb der Vorrede beleuchtet Riem das Verhältnis von Religion und Politik. Für jedes Staatswesen maßgeblich sei nicht die Frage nach dem Grund und dem Wahrheitsgehalt der unterschiedlichen „ReligionsMeinungen", sondern „welche Meinungen das Glück der Staaten und Völker und die Erhaltung der Staatsverfassungen am sichersten begründen?"[2] So sei es die Sache der Politik und der Rechtsgelehrten - nicht aber der Theologen - über das Zusammenwirken zwischen den bestehenden weltlich-gesellschaftlichen Verträgen und Gesetzen auf der einen Seite und „ReligionsMeinungen" auf der anderen Seite zu urteilen und gegebenenfalls Justierungen vorzunehmen, da „nur sie vom wahren Interesse des Staats und der Gesetze unterrichtet" seien.
„So wie man in der politischen Religion gewisse Wahrheiten durchaus aufgeben muß, eben so müssen gewisse Meinungen und Irrthümer, die eben so wenig ins Ganze richtig eingreifen, aus derselben ausgemerzt werden, sobald das Gouvernement der Staaten richtig calculirt."[3]
Wie schon drei Jahre zuvor im Berlinischen Journal für Aufklärung scheint sich Riem auch in dieser Veröffentlichung Semlers Begriffsverständnis von Politische Religion im Sinne der äußeren bzw. öffentlichen Religion zu bedienen; aufgrund fehlender Erläuterungen oder weiterer Fundstellen ist eine tiefergehende Untersuchung von Riems Begriff der Politischen Religion nicht möglich.
Erstmals im 18. Jahrhundert lässt sich der Begriff Politische Religion auch in deutschsprachigen Nachschlagewerken nachweisen:[4] Eine dieser frühen vorzustellenden Fundstellen des Begriffs Politische Religion in einem deutschsprachigen Nachschlagewerk wurde von dem Schriftsteller Christian August Wichmann (1735-1807) für seine Geschichte berühmter Frauenzimmer verfasst, eine zwischen 1772-1775 in drei Bänden unvollendet erschiene Zusammenstellung kurzer Lebensgeschichten und Anekdoten von mehr und weniger berühmten Frauen aus
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[1] Ebd., S. 298.
[2] Andreas Riem: Ueber Religion als Gegenstand der verschiedenen Staatsauffassungen. Mit Rücksicht auf die gegenwärtige Lage von Politik und Religion. Berlin 1793, S. 1f.
[3] Ebd., S. 3.
[4] Schon im 17. Jahrhundert wurde der Begriff politique religion in dem französischsprachigen biographischen Nachschlagewerk Perrioniana et Thuana verwendet; siehe oben im Abschnitt zum religiösen Indifferentis- mus.
verschiedenen Teilen der Welt. Im zweiten Band aus dem Jahr 1772 widmet sich ein Artikel Königin Caroline von Großbritannien und Irland (1683-1737),[1] die von dem Verfasser als eine ihrer protestantischen Konfession gegenüber stets treue Person beschrieben wird, die „sich auf die wahren Fundamente der Religion"[2] verstehe. So habe sie zwischen „reeller und politischer Religion"[3] unterschieden, zwischen einer alles umfassenden und universell gültigen Religion Gottes, der man Leib und Seele unterordnen müsse, und einer lokal und nach den politischen Begebenheiten beschränkten Religion des Staates, die allein der „Ruhe, Ordnung und Glückseligkeit der Gesellschaft"[4] diene. Der Verfasser unterscheidet nicht zwischen verschiedenen Arten und Ausdrucksformen von Religion(en), sondern unterteilt die Religion in verschiedene Bereiche und verweist mit dem Begriff Politische Religion auf „den politischen Theil der Religion"[5], auf eine äußerliche, gemeinschaftsordnende und -sichernde Ebene, die in einem Gegensatz zur wahren göttlichen Religion stehe, in der man sich einzig und allein Gottes Willen unterordnen müsse. Ähnlich anderen lexikalen Verwendungsbeispielen handelt es sich auch hier um die einzige Fundstelle innerhalb des gesamten biographischen Nachschlagewerks. Im Gegensatz zu anderen Fundstellen der Politischen Religion in Nachschlagewerken erfährt der Begriff eine Verwendung in einem durchaus christlichen Kontext, auch wenn die Religionszugehörigkeit in diesem Fall keine allzu große Rolle in der Anwendung und im Bedeutungshorizont gespielt haben dürfte.
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[1] [Christian August Wichmann]: Art. Caroline (Wilhelmine Dorothea), Königinn von Groß-Britannien, George des Andern Gemahlinn, in: Geschichte berühmter Frauenzimmer. Nach alphabethischer Ordnung aus alten und neuen in- und ausländischen Geschicht-Sammlungen und Wörterbüchern zusammen getragen. Zweyter Theil. Leipzig 1772, S. 29-39.
[2] Ebd., S. 37.
[3] Ebd.
[4] „Sie machte auch einen Unterschied zwischen reeller und politischer Religion; für jene hatte sie jederzeit die größte Ehrerbietung, und ihr mußte, nach ihrem Willen, alles unterworfen seyn; den politischen Theil der Religion aber hielt sie bloß für local oder gelegentlich, und unterwarf sich demselben, oder richtete sich in ihrem Betragen darnach so weit, als dieses Betragen mehr oder weniger unmittelbaren Einfluß auf die Ruhe, Ordnung und Glückseligkeit der Gesellschaft hatte" (ebd.).
[5] Ebd.
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