6.3. Der Fortbestand der Innerlichkeit
Das in der Blüte der Aufklärung und im später vermehrt in Texten zur Französischen Revolution subjektbezogene Interpretationsfeld des Begriffs Politische Religion im Sinne eines (diesseitsbezogenen) Glaubensbekenntnisses fand auch in nachfolgenden Epochen Anhänger, die den Begriff teils innerhalb bekannten Kontextualisierungen und teils in neuen Themenfeldern verwendeten. Die Popularität dieser Voranstellung besitzanzeigender Fürwörter hat sich im ermittelten Quellenmaterial des 19. Jahrhunderts nicht nur bewahrt, es kann sogar eine Zunahme der Verwendung nicht nur im deutschen Sprachraum beobachtet werden. Die im Einleitungskapitel erwähnte Neuorientierung des Religionsbegriff durch Friedrich Schleiermacher auf die individuelle Glaubensebene und eine Emotionalisierung von Religion in Form des religiösen Gefühls hatten vermutlich einen nicht zu vernachlässigenden Einfluss auf die steigende bzw. anhaltende Popularisierung dieses auf die innere Ebene des Individuums gelenkten Begriffsverständnisses besonders im 19. Jahrhundert.
Anfang der 1830er Jahre erfuhr diese Verwendungsform einen Aufschwung innerhalb der Publikationslandschaft verschiedener Sprachräume. Eine reiche Quelle für Fundstellen einer Verwendung des französischen Begriffs religion politique in dieser semantischen Einbettung durch verschiedene Autoren liefert die von dem Pariser Verleger Pierre-Francois Ladvocat (1791-1854) initiierte Textsammlung Paris ou le Livre des Cent-et-un, die zwischen 1831 bis 1834 in fünfzehn Bänden erschien.[1] Vier dieser Beiträge werden im Folgenden näher untersucht: Le Bourgeois de Paris von Anais de Raucou, Une Maison de la Rue de l 'Ecole de Mede- cine von Gustave Drouineau, Une Fete au Palais-Royal, Juin 1830 von Narcisse-Achille de Salvandy und L'Apprenti Journaliste von Alexandre Duval.
In seiner Beschreibung Le Bourgeois de Paris versucht der französische Historiker und Schriftsteller Anais de Raucou (auch: Anais Bazin; 1797-1850) ein Bild des ursprünglichen Pariser Bürgers herauszuarbeiten, losgelöst von den äußeren Einflüssen, die mit den Strömen von Menschen auf der Suche nach ihrem materiellen Glück in die Stadt gekommen seien. Dabei gelangt er unter anderem zu folgender Aussage:
„Le bourgeois de Paris est jure; c'est encore la un acte sa religion politique."[2]
Bazin bezieht sich in diesem Abschnitt mit einem kritischen Blick auf das Amt der Geschworenen innerhalb der französischen Schwurgerichtsbarkeit, das mit der Französischen Revolution im September 1791 eingeführt wurde und laut Bazin von dem erwählten Pariser Bürger
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[1] Als zentrale Persönlichkeit des Verlagswesens in Paris stand Ladvocat kurz vor dem Bankrott, woraufhin er schriftstellerisch Schaffende der damaligen Zeit verschiedenen Bekanntheitsgrades und Genres für den Beitrag mindestens zweier Texte über Paris gewinnen konnte, die er in dieser Anthologie zusammengefasst hat. Eine Auflistung aller beitragenden Personen (auch Schriftstellerinnen sind vertreten) befindet sich am Ende des Vorworts im ersten Band, siehe Pierre-Francois Ladvocat (Hg.): Paris, ou le Livre des Cent-et-un. Tome Premier. Paris 1831, S. XI-XV.
Eine deutsche Übersetzung des deutschen Schriftstellers Karl Gottfried Theodor Winkler (1775-1856) erschien unter dem Pseudonym Theodor Hell zeitnah zur Originalschrift in den Jahren 1832-1835 unter dem Titel Paris, oder das Buch der Hundert und Ein im Potsdamer Verlag von Ferdinand Riegel.
[2] A. Bazin: Le Bourgeois de Paris, in: Pierre-Francois Ladvocat (Hg.): Paris, ou le Livre des Cent-et-un. Tome Premier. Paris 1831, S. 39-57, hier S. 51. In Winklers Übersetzung heißt es an der betreffenden Stelle: „Der Bürger von Paris ist Geschworner; auch dieß ist noch ein Werk seiner politischen Religion" (Hell: Paris, Bd. 1, S. 44).
widerwillig, aber mit dem größten Pflichtbewusstsein ausgeübt werde. Es wird auch anhand des darauffolgenden Textes nicht ersichtlich, ob Bazin den Begriff religion politique auf die Ideen des Liberalismus oder die revolutionären Bewegungen in Frankreich - allen voran die Französische Revolution - bezieht. Obwohl in dem Beitrag von dem Pariser Bürger im Singular die Rede ist, bezieht Bazin den Begriff religion politique - im Gegensatz zu den vorhergehenden Autoren - nicht auf das politische Bekenntnis eines Individuums bzw. einer bestimmten Person, sondern einer genau definierten Gemeinschaft. Diese Subjektbezogenheit des Begriffs Politische Religion auf mehrere Personen respektive eine Gemeinschaft ist auch in anderen Quellen belegbar.
In ähnlicher Lesart findet sich der Begriff im Beitrag des Schriftstellers Gustave Pierre Drouineau (1798-1878) in der Sammlung Paris wieder. In Une Maison de la Rue de l'Ecole de Medecine lässt Drouineau seinen Erzähler über das Attentat auf Jean-Paul Marat (1743-1793) reflektierend in der Pariser Straße L'Ecole de Medecine den Tatort aufsuchen. Mit theologischen Begriffen umrahmt beschreibt er die Charakterzüge Marats und seinen politischen Fanatismus, den er allen anderen Begierden und Bedürfnissen seines Lebens vorangestellt habe:
„Marat etait pauvre: il y avait du desinteressement dans cette ame agitee jusqu'au delire, et enivree de l'importance que son cynisme sanguinaire lui avait donnee; il avait foi dans la guillotine; c'etait l'autel de sa religion politique. Apotre fanatique de sa hideuse liberte, il etait bien plus l'homme de la terreur que Robespierre, qu'il genait par ses saillies furibondes."[1]
In dem von Drouineau transportierten Verständnis des Begriffs religion politique wird der begriffliche Fokus durch Anwendung des entsprechenden Possessivs in Une Maison auf die innere politische Überzeugung eines einzelnen, spezifischen Subjekts, des Protagonisten Marat, gelegt. Die hier von dem Verfasser formulierte Kritik an Marats politischem Fanatismus mit der Guillotine als seinen Altar wird durch den Begriff religion politique, der in seiner wertfreien Lesart ungeachtet des textlichen Umfeldes verweilt, nicht befördert. Denn obwohl der Begriff im Kontext einer Kritik, eines ablehnenden Urteils des Verfassers zum politischen Agieren Marats verwendet wird, ist nicht der Begriff an sich Träger der Polemik in diesem Textbeispiel, sondern dient vielmehr als Oberbegriff im Sinne von Weltanschauung eines Individuums oder einer Gruppe von Menschen, unter dem verschiedene diesseitige Phänomene - wie etwa die politische Haltung Marats - subsumiert werden können.
Noch deutlicher wird diese Wertfreiheit bzw. Neutralität des Begriffs religion politique in dem Beitrag Une Fete au Palais-Royal, Juin 1830 des französischen Staatsmannes und Publizisten Narcisse-Achille de Salvandy (1795-1856). Dieser Text ist in Form eines Briefes an den Verleger Pierre-Frangois Ladvocat gehalten, in dem der Verfasser von seinem Besuch eines großes Festes im Palais-Royal Anfang Juni 1830714 berichtet, welches der Herzog von Orleans zum Empfang des Königs von Neapel ausrichtete und auf dem auch der französische König Karl X. zugegen war. Eine Unterredung mit Louis-Philippe, Herzog von Orleans, wiedergebend beginnt Salvandy mit seinem vielzitierten Zusatz zu seinem Lob über das Fest: „nous dansons
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[1] Gustave Drouineau: Une Maison de la Rue de l'Ecole de Medecine, in: Pierre-Francois Ladvocat (Hg.): Paris, ou le Livre des Cent-et-un. Tome Premier. Paris 1831, S. 67-86, hier S. 74. Auch in der deutschen Übersetzung wird der Begriff Politische Religion verwendet: „Marat war arm; es wohnte Uneigennützigkeit in dieser, bis zum Wahnsinn aufgeregten und von der Wichtigkeit, welche sein blutiger Cynismus ihm gab, berauschten Seele; er setzte seinen Glauben auf die Guillotine; sie war der Altar seiner politischen Religion. Fanatischer Apostel seiner gräßlichen Freiheit, war er weit mehr der Mann des Schreckens als Robespierre, welchen er durch seine rasenden Ausfälle belästigte" (Hell: Paris, Bd. 1, S. 65).
sur un volcan."[1] [2] Im weiteren Verlauf seines Berichts legt er dem baldigen französischen König Louis-Philippe I. folgende Worte in den Mund:
„Ma religion politique, c'est qu'avec des sentiments constitutionnels on menerait tout a bien."[3]
Im Gegensatz zu den zwei zuvor betrachteten Belegstellen, die ein Possessiv in der dritten Person Singular verwendeten, wird in Salvandys Beitrag das Possessiv „mein" zur Benennung der Zugehörigkeitsrelation des Verfassers bzw. Sprechers zum Begriff religion politique gewählt. Die den Begriff verwendende Person rekurriert mit dem Begriff religion politique bzw. Politische Religion auf das eigene innere politische Glaubensbekenntnis und bringt vermittels des Begriffs eine tiefe Ebene der inneren Verbundenheit mit der zu eigen gewählten politischen Idee zum Ausdruck, die einer religiösen Glaubenshaltung gleichkommen könnte. Der tatsächliche Inhalt der religion politique von Louis-Philippe ist für die semantische Untersuchung des Begriffs irrelevant, vielmehr nutzt der Herzog den Begriff, um seinem Kommunikationspartner die Aufrichtigkeit und Ernsthaftigkeit seiner inneren Einstellung gegenüber den von ihm befürworteten politischen Ansichten zu untermauern.
Festzuhalten ist, dass in dem ersten Band der Anthologie Ladvocats kein Beitrag enthalten ist, in dem der Begriff religion politique ohne Verwendung eines vorangestellten Possessivs Erwähnung findet, was mit hoher Wahrscheinlichkeit als Zufall gewertet werden sollte. Denn Verwendungen des Begriffs religion politique oder Politische Religion ohne vorangestellte Possessive aus dem gleichen Zeitraum sind gleichfalls anzutreffen und werden in anderen Abschnitten dieser Arbeit näher betrachtet. Dass womöglich der Herausgeber die Beiträge aufgrund dieser Gemeinsamkeit aussuchte, kann vermutlich aufgrund der doch eher geringen Bedeutung des Begriffs innerhalb der Beiträge sowie der zeitgenössischen Diskussionen ausgeschlossen werden.
Schließlich befindet sich im vierten Band der Beitrag L'Apprenti Journaliste des französischen Architekten und Schriftstellers Alexandre Duval (1767-1842), in dem der Verfasser seinen Protagonisten über dessen Weg zum Journalismus erzählen lässt. Während sein Gesprächspartner mit seiner journalistischen Tätigkeit möglichst viel Geld verdienen wolle und daher auf die emotionale Ebene sowie die Sensationslust seiner Lesenden abziele, kritisiert der Erzähler dieses materialistisch ausgerichtete Wirken seines Gegenübers und verteidigt den Grundsatz eines ehrenhaften, der Wahrheit verpflichteten Journalismus, wobei er ihm die Frage entgegnet:
"Tu n'as done pas de religion politique? Car enfin, il faut une opinion, et la raison est d'un cote ou de l'autre."[4]
Die Losgelöstheit des Begriffs religion politique von inhaltlichen Merkmalen des so bezeichneten politischen Bekenntnisses wird in dieser Textstelle besonders deutlich, indem der Sprecher seiner Frage, ob sein Gegenüber keine religion politique habe, hinzusetzt, dass man doch eine
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[1] An verschiedenen Stellen wird deutlich, das Salvandy diesen Text erst nach der Julirevolution 1830 zu Papier gebracht hat.
[2] Narcisse-Achille de Salvandy: Une Fete au Palais-Royal, Juin 1830, in: Pierre-Francois Ladvocat (Hg.): Paris, ou le Livre des Cent-et-un. Tome Premier. Paris 1831, S. 381-407, hier S. 398: „C'est un fete toute na- politaine, monseigneur; nous dansons sur un volcan." In der deutschen Übersetzung: „Meine politische Religion ist, daß man mit constitutionellen Gesinnungen alles sehr wohl leiten könnte" (Hell: Paris, Bd. 1, S. 371).
[3] Salvandy: Une Fete au Palais-Royal, S. 402.
[4] Alexandre Duval: L'Apprenti Journaliste, in: Paris, ou le Livre des Cent-et-un. Tome Quatrieme. Paris 1832, S. 287-334, hier S. 321f.
Meinung - in die eine oder andere Richtung gehend - haben müsse. In diesem Dialog über die Frage von gutem Journalismus ist zwar keine direkte Verbindung des Begriffs religion politique mit einem Possessivpronomen vorhanden, jedoch besitzt er aufgrund der Syntax sowie der Verneinung der Fragestellung, ob der Angefragte keine religion politique habe, indirekt eine possessive Struktur. Auf diese Weise wird am Ende das gleiche Begriffsverständnis erzeugt.
Obwohl alle drei Fundstellen des ersten Bandes in der deutschen Übersetzung mit dem deutschen Lehnbegriff Politische Religion übersetzt wurden, wählte der Übersetzer für diese Stelle im vierten Band den Ausdruck „politisches Glaubensbekenntniß"[1], ohne dass hierfür Gründe ersichtlich wären. Aufgrund der Fülle der veröffentlichten Texte ist es aber durchaus denkbar, dass die vier Texte von verschiedenen Personen bearbeitet wurden und sich daraus diese Übersetzungsunterschiede ergaben.
Unabhängig der von Ladvocat herausgegebenen Anthologie verwendete der französische Journalist Bernard Sarrans (1796-1874) diese auf das Subjekt und dessen inneres Wesen gerichtete Semantik in seiner Publikation Lafayette et la Revolution de 1830, einer zweibändigen biographischen Darstellung des französischen Generals und Politikers Marie-Joseph-Yves du Motier, Marquis de Lafayette (1757-1834), die sich dem Aufklärer und Verfechter liberaler Ideen in drei Abschnitten annähert - vor, während und nach der Julirevolution von 1830. Als Generaladjutant und Freund Lafayettes, der zu dieser Zeit erneut die Nationalgarde befehligte, erhielt Sarrans seine Informationen und Quellen aus erster Hand. Der Beziehung entsprechend positiv und wertschätzend ist sein Urteil über Lafayette und wohlwollend seine Fürsprache bezüglich der politischen Eingeständnisse Lafayettes als Republikaner gegenüber dem Willen des französischen Volkes, das gegen die Errichtung einer Republik und für eine Monarchie unter dem Fürsten Louis-Philippe von Orleans votierte. Sich diesem Willen unterwerfend reichte Lafayette dem neuen Monarchen Frankreichs die Hand, was Sarrans in seiner Publikation wie folgt kommentiert:
„Ce sont la des considerations primordiales que perdent trop souvent de vue les patriotes que, jugeant d'apres les evenemens et sans remonter au point de depart, bläment Lafayette d'etre reste fidele a sa religion politique, en ne brisant point la resistance d'une Chambre dans laquelle, en l'absence de toute autre representation nationale, il voyait les elus du peuple."[2]
Der Republikaner Lafayette sei mit seiner politischen Unterwerfung unter den Willen des Volkes, die Monarchie beizubehalten, seiner religion politique, d. h. seinen politischen Prinzipien bzw. demokratischen Grundsätzen treu geblieben und habe den sich aus seinem Glaubensbekenntnis ergebenden Konsequenzen vollkommen unterworfen und sich gegen seine eigenen Wünsche und Vorstellung hinsichtlich der staatpolitischen Ausrichtung Frankreichs gestellt.
Der französische Journalist und Republikaner Charles Ribeyrolles (1812-1860) wiederum nutzte die gleiche possessive Koppelung des Begriffs religion politique an einer von ihm betrachteten historischen Figur in seiner geschichtswissenschaftlichen Annäherung Le Club des Jacobins. Die biographischen Schicksalsschläge des Victor Amedee de la Fage, Marquis de St. Huruge (1738-1801) beschreibend, der aus seinem selbstgewählten Exil in England von Rache
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[1] Alexandre Duval: Der Journalisten-Lehrling, in: Theodor Hell [Karl Gottfried Theodor Winkler]: Paris, oder das Buch der Hundert und Ein. Bd. IV. Potsdam 1832, S. 281-330, hier S. 316: „Du hast also gar kein politisches Glaubensbekenntniß? denn irgend eine Meinung muß man doch haben, und die Vernunft ist entweder auf der einen oder der andern Seite."
[2] Bernard Sarrans: Lafayette et la Revolution de 1830, Histoire des Choses et des Hommes de Juillet. Tome I. Brüssel 1832, S. 336.
getrieben in seine französische Heimat zurückkehrte, nachdem er von der Einnahme der Bastille durch die Pariser Bevölkerung erfuhr, und zu einem der politischen Agitatoren im PalaisRoyal avancierte, konstatiert Ribeyrolles:
„Sa conviction etait dans sa rage, sa religion politique venait des coups de fouet de Charenton."[1]
Die religion politique, d. h. das (politische) Glaubensbekenntnis des Marquis' basiere nicht auf rationalen Auseinandersetzungen mit der staatspolitischen Wirklichkeit Frankreichs, sondern gründe allein auf den traumatisierenden Erfahrungen der Gefangenschaft und den hieraus entstandenen Emotionen, die das politische Wirken St. Huruges richtungsweisend bestimmen. Den Ausführungen Ribeyrolles' hängt eine kleine Kritik an der religion politique des Marquis an, die jedoch nicht mit der Verwendung des Begriffs an sich zum Ausdruck gebracht wird, sondern sich erst in Kombination mit dem textlichen Umfeld entwickelt - wie auch schon in vorangegangenen vorgestellten Fundstellen beobachtet werden konnte.
In einigen ungarischen Publikationen findet der Begriff Politische Religion mit dem Begriff politikai religiöjänak eine Entsprechung, wie anhand des ungarischen Historikers und Theologen Mihaly Horvath (1809-1878) und seiner Schrift Kossuth Lajos üjabb leveleire belegt werden kann. Der thematische Fokus dieser Veröffentlichung liegt auf dem ungarischen Unabhängigkeitskämpfer Lajos Kossuth (1802-1894) und den österreichisch-ungarischen Ausgleich von 1867. Horvath hatte zuvor in einem anderen Beitrag die verfassungsrechtlichen Vereinbarungen, die unter anderem zur Doppelmonarchie Österreich-Ungarn führten, gelobt, wofür er von Kossuth in dem sogenannten Fünfkirchner Brief mit dem Argument kritisiert wurde, dass die vollkommene Unabhängigkeit Ungarns von der österreichischen Vorherrschaft mit der Bestimmungen des österreichisch-ungarischen Ausgleichs begraben worden sei.[2] In Kossuth Lajos üjabb leveleire versucht Horvath die Kritik Kossuths zu entkräften und seine Befürwortung der Vereinbarungen von 1867 ausführlich darzulegen. In diesem Zusammenhang beschäftigt sich Horvath auch mit den politischen Zielen Kossuths, die er unter anderem anhand von Zitaten aus den Veröffentlichungen des ungarischen Politikers eruiert. Entsprechend leitet dieser Abschnitt mit einem Zitat aus Kossuths Fünfkirchner Brief ein:
„Nekem is lehetnek - i'gv szol K. L. pecsi leveleben - nekem is vannak erzelmeim, s politikai religiomnak lehetnek - vannak - komoly meggyözödesen alapulo hitagazatai, melyeken, epen mert komoly meggyözödesen alapszanak, az esemenyek semmi fordulata nem valtoztathat, söt meg a remenytelenseg sem. Pedig a remenytelensegtöl tavol vagyok."[3]
Kossuth führt an dieser Stelle seines Schreibens aus, dass seinepolitikai religiomnak, d. h. sein
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[1] Charles Ribeyrolles: Le Club des Jacobins, d'apres l'Histoire inedite de la Societe des Jacobins de Leonard Gallois. Premiere Livraison. Bruxelles 1849, S. 33f. Der Publizist und Schriftsteller Karl Riedel (1804-1878) veröffentlichte noch im gleichen Jahr eine deutsche Übersetzung, in welcher er den Begriff entsprechend übersetzt: „Seine Ueberzeugung lag in seiner Wuth, seine politische Religion datierte von den Peitschenhieben in Charenton" (Karl Riedel: Die Geschichte des Jakobinerklubs. Erstes Heft. Frankfurt am Main 1849, S. 80).
[3] Ebd., S. 100. In einer im gleichen Jahr ebenfalls in Pest veröffentlichten deutschen Übersetzung von Adolf Dux heißt es an dieser Stelle: „'Auch ich kann - sagt L. K. in seinem Fünfkirchner Briefe - Gefühle haben, und auch meine politische Religion hat auf ernster Ueberzeugung beruhende Dogmen, an welchen, eben weil sie auf ernster Ueberzeugung beruhen, keine Wendung der Ereignisse, ja selbst die Hoffnungslosigkeit nichts ändern kann. Von der Hoffnungslosigkeit bin ich aber weit entfernt'" (Michael Horvath: Auf Ludwig Kossuth's Neuere Briefe. Übers. v. Adolf Dux. Pest 1868, S. 101).
politisches Glaubensbekenntnis, dem er sein gesamtes Leben kompromisslos widme, ebenfalls Dogmen besitze, die auf seiner ernsthaften und unumstößlichen Überzeugung der Wahrhaftigkeit seines Kampfes für seinen politischen Glauben beruhen. Im Nachgang dieser Zitation nimmt Horvath den Begriff innerhalb seiner Auseinandersetzung mit den Aussagen Kossuths wieder auf, indem er nach dem Wesen der Dogmen der Politischen Religion Kossuths fragt:
„Vajjon melyek K. L. politikai religiojanak ezen, komoly meggyözödesen alapulo hitagazatai? Ezek nehanyait ismeri a vilag; önmaga elegszer hirdette. En csak egyröl akarok itt szolni, melyet politikai religiojanak zaszlaja gyanant lobogtatott 1849 ota mindenha, minden alkalommal, mely neki szolasra vagy cselekvesre ajanlkozott."[1]
Als „politikai religiojanak zaszlaja", die Flagge der Politischen Religion, präsentiert Horvath im weiteren Textverlauf die von Kossuth propagierte Loslösung und absolute Unabhängigkeit des ungarischen Staatswesens von der österreichischen Monarchie. Die ungarische Variante des Begriffs Politische Religion wird auch in Horvaths Text sowie im zitierten Brief Kossuths mit besitzanzeigenden Fürwörtern oder entsprechenden Flexionsformen des Begriffs versehen, sodass eine Beziehung des Begriffs zu einem Subjekt hergestellt wird zur Bezeichnung seines nicht näher spezifizierten weltlichen bzw. politischen Glaubensbekenntnisses.
Interessanterweise ist die Nutzung der Kombination politikai religiojanak im Ungarischen als Entsprechung für den Begriff Politische Religion eher unüblich bzw. war es schon zu Zeiten Horvaths. Stattdessen wurde und wird im Großteil der ungarischen Originaltexte oder in Übersetzungen ins Ungarische auf den Begriff politikai vallas zurückgegriffen, wie beispielsweise anhand der ungarischen Übersetzung von Eric Voegelins Buchtitel Die Politischen Religionen mit Politikai Vallasok gezeigt werden kann. Ferner ist eine Verwendung des Begriffs politikai vallas im gleichen Zeitraum der Veröffentlichung Horvaths (und früher) belegbar,[2] so dass von einer parallelen Verwendung beider Begriffsvarianten während eines gewissen Zeitraums gesprochen werden kann. Diese Diskrepanz in der Übersetzung des Religionsbegriffs innerhalb der Kombination Politische Religion hat seine Ursprünge vermutlich in der Geschichte des Religionsbegriffs im Ungarischen. Wurde der Religionsbegriff in ungarischen Texten bis ins 16. Jahrhundert einheitlich und in Anlehnung an den lateinischen religio-Begriff mit religio übersetzt, etablierte sich im 16. Jahrhundert - im Kampf zwischen Reformation und Gegenreformation in Ungarn - allmählich der Begriff valläs. Der Rückgriff auf die ungarische Anlehnung an den religio-Begriff könnte einerseits zur Verdeutlichung des Bezugs zum Begriff Politische Religion und anderseits zur Abgrenzung von Religionen im traditionellen Verständnis dienen, die im Ungarischen mit dem mittlerweile gebräuchlichen Begriff valläs umschrieben werden.
Die Popularität dieser semantischen Richtung des Begriffs Politische Religion versiegte auch in Publikationen des 19. Jahrhunderts nicht und gewann sogar noch an Auftrieb, gemessen
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[1] Horvath: Kossuth Lajos, S. 100. In der deutschen Übersetzung heißt es: „Welches sind wohl diese, auf fester Ueberzeugung beruhenden Dogmen der politischen Religion L. K.'s? Einige derselben kennt die Welt, er selbst hat sie oft genug verkündet. Ich will hier nur von dem einen sprechen, welches er als das Banner seiner politischen Religion seit 1849 immer, bei jeder Gelegenheit emporhielt, die sich ihm zum Sprechen oder zum Handeln darbot" (Horvath: Kossuth's Neuere Briefe, S 101).
[2] Vgl. bspw. Istvan Szechenyi: Üdvlelde. Grof Dessewffy Aurel hatrahagyott nemi iromany-töredekivel. Pest 1843, S. 116 [Hervorhebung Verf.]: „Szamosb evek peregtek azota le, 's jollehet e' tenyeimet tekintve, nincs min pirulnom, nincs min bankodnom, mert az egyedül egy kis politikai fanatismusnak vala következmenye, melly politikai vallas ugyan ma is el bennem, de türelemre kiabrandulva; rövid idore felbeszakitott baratsagom grol Dessewffy Jozseffel pedig mar joval ezelott szakadatlan viszonyos szivomledezesre melegült ismet, 's ebben ekkep sokkal szerencsesb valek, mint Kölcsey Berzsenyinek atelleneben."
an der Anzahl des ermittelten Quellenmaterials. Neben diesen französischen und ungarischen Quellenbeispielen können auch in deutschsprachigen Originalpublikationen des 19. Jahrhunderts - neben den bereits erwähnten deutschsprachigen Übersetzungen - die Verwendung von besitzanzeigenden Fürwörtern - sowohl im Singular als auch im Plural - in Verbindung mit dem Begriff Politische Religion im Sinne einer politischen Überzeugung bzw. eines politischen Glaubensbekenntnisses und die damit verbundene Verschiebung auf eine semantische Ebene des Individuellen und der Innerlichkeit nachgewiesen werden.
Der Journalist und Kritiker Ludwig Börne[1] (1786-1837), den der Kunsthistoriker Johannes Scherr (1817-1886) zum „erste[n] Apostel der politischen Religion der Zukunft [und] Verkünder des Evangeliums der Demokratie und Republik"[2] erklärte, gehörte ebenfalls zu den Vertretern einer positiven Lesart des Begriffs Politische Religion und nutzte den Begriff in mehreren Beiträgen zur Bezeichnung seines politischen Bekenntnisses zum Liberalismus und einem demokratischen Staatswesen.[3] Ein erstes Aufflackern von Börnes späterer Verwendungsfreude des Begriffs Politische Religion findet sich in einem Brief An die Redaktion der „Neckarzeitung" vom 24. Dezember 1821, worin er seine kritischen Ansichten über den Verlauf des Kampfes der Griechen gegen die osmanische Vorherrschaft und für die Souveränität des griechischen Staates teilt. Nachdem große Teile der Peloponnes von den griechischen Aufständischen eingenommen werden konnten, trat am 20. Dezember 1821 die erste griechische Nationalversammlung zusammen - Börnes Artikel ist auf vier Tage nach diesem Ereignis datiert. Sich mit dem möglichen weiteren Verlauf des griechischen Unabhängigkeitskrieges auseinandersetzend fragt Börne nach dem Grund für den Gehorsam der „besiegten oder eingetauschten Völker" in Europa:
„Die stehenden Heere sind es nicht, die Polizei ist es, sie in der weitesten Bedeutung genommen, diese politische Religion, die uns schon mit der Ammenmilch eingeflößt, die uns von der frühesten Kindheit anerzogen wird."[4]
Börne beschreibt diese Politische Religion nicht als „die Furcht vor physischen Strafen der Gesetze", sondern als einen Aberglauben von der Allwissenheit und Allmächtigkeit der Polizei, der jedem Menschen in Europa von Geburt an eingeflößt werde und die europäischen Völker binde.[5] Demgegenüber sei „den Türken, welche nichts von der Natur alter Weiber haben, [...]
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[1] Seinen Geburtsnamen Juda Löb Baruch legte der jüdisch-stämmige Börne im Zuge seiner Konversion zum evangelischen Christentum und der damit einhergehenden Taufe im Jahr 1818 ab.
[2] Johannes Scherr: Allgemeine Geschichte der Literatur von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart. Ein Handbuch für alle Gebildeten. Aus der „Neuen Encyklopädie für Wissenschaften und Küste" besonders abgedruckt. Stuttgart 1851, S. 492: „Er war der erste Apostel der politischen Religion der Zukunft, der Verkündiger des Evangeliums der Demokratie und Republik. Er hat den Samen einer demokratischen Literatur ausgestreut und genährt und kein Schriftsteller der Gegenwart wird leugnen können, daß Börne auf ihn gewirkt. Er starb im Exil, weil er für Freiheit und Gerechtigkeit, für die Armen und Unterdrückten gekämpft und den Despotismus und die Lüge gehasst. Er hat sein Vaterland geliebt mir einer unendlichen Liebe, deren Son- nenstral hinter den düstern Hagelwolken seiner Satire immer vorleuchtete, zuletzt noch so rührend warm in seinem ,Menzel der Franzosenfresser'."
[3] Hierzu Neddens: politische Religion', S. 313.
[4] Ludwig Börne: Sämtliche Schriften. Neu bearbeitet und herausgegeben von Inge und Peter Rippmann. 3 Bde. . Dreieich 1977, Bd. 1, S. 1113f.
[5] Ebd., Bd. 1, S. 1114: „Wenn europäische Untertanen mißvergnügt sind, so ist es nicht die Furcht vor physischen Strafen der Gesetze, jener Aberglaube ist es, der sie bändigt. Weil die wähnen, die Polizei sei allwissend, erfährt sie auch alles; denn es wird ihr alles gestanden; weil sie wähnen, die Polizei sei allmächtig, vermag sie auch alles; denn keiner wagt ihr zu widerstehen. Unerforschliche Gedanken werden ihr gebeichtet, geheime Sünden abgebeten."
jener Aberglaube fremd."[1] Börnes Ausführungen gelten weniger als Kritik an den europäischen Völkern für ihren Gehorsam gegenüber der exekutiven Macht, sondern vielmehr als Hinweis auf einen seines Erachtens nach bestehenden Unterschied im Wesen zwischen europäischen und türkischen Völkern im Falle einer Kriegsniederlage und im eigenen Umgang mit dem Status als besiegtes Volk.
In nachfolgenden Publikation konnten weitere Verwendungen des Begriffs durch Börne nachgewiesen werden, die an Fülle etwas zunahmen, wodurch eine nähere Betrachtung der semantischen Entwicklung des Begriffs in seinen Werken möglich ist. Börne berichtet in seinen Schriften einerseits von der „wahre[n] politische[n] Religion [, die] in der Erkenntnis einer einigen Freiheit"[2] bestehe und von ihm in Form des Liberalismus als „ein höchstes, schaffendes, erhaltendes und richtendes Wesen im Staate"[3] idealisiert wird. Andererseits taucht in seinen Publikationen auch die Beschreibung einer unaufrichtigen, nur vorgespielten Politischen Religion auf, die er beispielsweise in seinem Tagebucheintrag vom 1. Mai 1830 in einer Anekdote über sein Bekanntwerden mit dem kurz zuvor verstorbenen französischen Schriftsteller und Frühsozialisten Louis-Marie Prudhomme (1752-1830) im Herbst 1819 wie folgt zum Ausdruck bringt:
„Der Herr [nicht Prudhomme; Anm. Verf.in] schien mir sehr wenig Bildung zu haben, seine politische Religion kam mir nicht aufrichtig vor, und er war nicht arm, aber ärmlich gekleidet, was in Paris nicht ohne Bedeutung ist. Unter dem langen Mantel des Liberalismus glaubte ich den Pferdefuß der Polizei zu sehen."[4]
Hierbei unterstellt Börne dem namentlich nicht genannten Herrn, dass die von diesem vorgegebene Politische Religion nicht mit dem tatsächlichen politischen Glaubensbekenntnis der Person übereinstimme, die liberale Haltung somit nur vorgetäuscht sei und er folglich - so Börnes Umkehrschluss - den von Börne kritisierten politischen Ansichten folgen würde. Die Wahl des Possessivs drückt auch eine gewisse Abgrenzung zur eigenen Politischen Religion aus, da die eigene Haltung mit der Verwendung der zweiten oder dritten Person Singular wie Plural nicht automatisch inbegriffen ist. Da unter dem Begriff Politische Religion jede beliebige politische Idee subsumiert werden kann, können die Prämissen zur Differenzierung zwischen einer wahren, d. h. richtigen und einer falschen Politischen Religion nicht anhand des Begriffs an sich festgelegt werden, sondern liegen im persönlichen Urteil über die im konkreten Fall gemeinte politische Haltung durch die begriffsverwendende Person. Diese nimmt eine Wertung hinsichtlich der Differenzierungsfrage vermittels ihrer persönlichen Haltung vor, ohne dass der Begriff Politische Religion als eine Art Schablone innerhalb dieser Differenzierungsfrage herangezogen werden kann.
In diesem Tagebucheintrag begegnet den Lesenden von Börnes Texten vermutlich zum ersten Mal die Verknüpfung des Begriffs Politische Religion mit einem besitzanzeigenden Fürwort, womit Börne verdeutlicht, dass seine Kritik explizit der politische Haltung des unbekannten Herrn gilt. Eine weitere Fundstelle dieser Fokussierung auf die Politische Religion eines
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[1] Ebd., Bd. 1, S. 1114.
[2] Ebd., Bd. 2, S. 219: „Wie die wahre kirchliche Religion besteht in der Erkennung eines einigen Gottes, so besteht die wahre politische Religion in der Erkennung einer einigen Freiheit. Ein Volk kann Freiheit haben ohne Freiheiten und Freiheiten ohne Freiheit" (Aphorismen und Miszellen, Nr. 58).
[3] Ebd., Bd. 2, S. 316 (Aphorismen und Miszellen, Nr. 263): „Nur allein jener begreift es, daß es eine politische Religion, daß es ein höchstes, schaffendes, erhaltendes und richtendes Wesen im Staate geben müsse; aber das Volk hält sich am baren Vorteil des Augenblicks."
[4] Ebd., Bd. 2, S. 773f. (Aus meinem Tagebuch, Frankfurt, 1. Mai 1830).
einzelnen Individuums oder gar einer Gruppe von Personen existiert in seinen Briefen aus Paris. In seinem 107. Brief vom 15. Februar 1833 thematisiert Börne den österreichischen Schriftsteller und Satiriker Moritz Gottlieb Saphir (1795-1858), der in Berlin 1827 die literarische Gesellschaft Tunnel über der Spree mitbegründete und bis in die beginnenden 1830er Jahre von Zeitgenossinnen und Zeitgenossen dem liberalen Lager zugeordnet wurde.[1] Nachdem er 1832 zum evangelischen Glauben konvertierte und in seinen Texten eine kritische Haltung zum Liberalismus bekundete, wurde er vom bayerischen König Ludwig 1833 zum Intendant der königlichen Hofbühne berufen - eine Stellung, die nach Meinung Börnes den literarischen und politischen Tod Saphirs bedeute, da er ohne tatsächliche Verwendung durch den königlichen Hof als Trophäe der Royalisten im Kampf gegen die liberale Bewegung propagandistisch ausgebeutet und in der Bedeutungslosigkeit dahinsiechen werde. Es sei eine bewusste „Schelmerei" der Royalisten, die moralisch aufgeladenen Vorstellungen zu verbreiten, „ein wahrhaft Liberaler müsse uneigennützig, ein Republikaner tugendhaft sein", denn
„sie möchten dem Liberalismus und dem Republikanismus den Handel verderben; denn mit so großen Aufopferungen wird sich ihnen selten einer ergeben wollen. Ich kann aber meinen Glaubensgenossen, den Liberalen, zu ihrer Beruhigung die Versicherung geben, daß unsere politische Religion uns gar nicht verbietet, nach Herzenslust Egoisten zu sein."[2]
Die Abgrenzung von „unsere[r] politische[n] Religion" - in diesem Beispiel bezieht sich Börne selbst mit ein - zum politischen Glaubensbekenntnis der Royalisten tritt an dieser Fundstelle deutlich zu Tage. Im Nebensatz präzisiert Börne durch die Beschwichtigung, man könne nach seiner Politischen Religion auch egoistisch handeln, seine Zugehörigkeit zum Liberalismus und die Abgrenzung der Liberalen zu den Republikanern.
Rekurriert Börne in der einleitend untersuchten Quelle den Begriff Politische Religion auf einen Aberglauben innerhalb der europäischen Bevölkerung als ausschlaggebend für ihren Gehorsam gegenüber (vermeintlich) überlegenden Mächten wie der Polizei, nutzt er den Begriff in nachfolgenden Schriften insbesondere zur Bezeichnung eines liberalen Bekenntnisses, ohne allerdings andere politische Ideen von der Bezeichnung als Politische Religion im Sinne eines politischen oder - allgemeiner gehalten - weltlichen Glaubensbekenntnisses, einer Weltanschauung oder gar Ideologie zu exkludieren. Ab den 1830er Jahren kann eine Verknüpfung des Begriffs Politische Religion mit besitzanzeigenden Fürwörtern belegt werden, die sowohl zur Markierung einer Fremd- als auch einer Selbstzugehörigkeit des politischen Glaubensbekenntnisses herangezogen wird und damit ausdrücklich auf die innere Haltung der mit dem Begriff Politische Religion adressierten Person rekurriert.
In einigen Schriften, die in einem Rückblick die Revolution von 1848/49 thematisieren, finden sich ebenfalls Verwendungen des Begriffs Politische Religion in dieser semantischen Verschiebung auf die innere Ebene des Individuums oder einer Gruppe: Der deutsche Publizist Adolf Wolff (1811-1861) konzentrierte seine Aufmerksamkeit auf die Ereignisse in der preußischen Hauptstadt und lieferte eine sehr umfangreiche, detaillierte Darstellung der Berliner Bewegung im Jahre 1848 unter Verwendung des Begriffsverständnisses von Politische Religion im Sinne einer weltlichen Überzeugung, eines politischen Glaubensbekenntnisses. In seiner
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[1] Zu Moritz Gottlieb Saphir siehe Uwe Puscher: Moritz Gottlieb Saphir (1795-1858), „Vomkunstrichterstuhl- herabdieleutevernichtenwoller", in: Manfred Treml et al. (Hg.): Lebensläufe. Geschichte und Kultur der Juden in Bayern. München 1988, S. 101-108.
[2] Ebd., Bd. 3, S. 793.
Darstellung berichtet Wolff auch von den Debatten innerhalb des Politischen (später: Demokratischen) Clubs in Berlin Ende April 1848 über die Entsendung von Wahlkandidaten zur bevorstehenden Abgeordnetenwahl der zu konstituierenden Preußischen sowie Frankfurter Nationalversammlungen. Als Kandidat für Frankfurt empfahl sich unter anderem der deutsche Schriftsteller und Revolutionär Ludwig Eichler (1814-1870), der laut Wolff „die demokratische Verfassung als die Grundidee seiner politischen Religion"[1] propagiere. Dass die Politische Religion Wolffs vermutlich als Synonym zum Begriff Glaubensbekenntnis und in dem Zuge als Oberbegriff für beispielsweise politische Ideen intendiert ist, wird in der Rückschau auf eine vorgelagerte Passage sichtbar, worin auf den demokratischen Politiker Georg Jung (1814-1886) und „sein Glaubensbekenntnis" verwiesen wird. Obwohl der Begriff Glaubensbekenntnis von Wolff an mehreren Textstellen verwendet wird, greift er nur ein einziges Mal auf den Begriff Politische Religion zurück.
In den sogenannten Gelben Heften,[2] eine von dem deutschen Hochschullehrer und katholischen Publizisten Joseph Görres (1776-1848) mitinitiierte, konservativ-katholischen Zeitschrift, erschienen über mehrere Jahre die Briefe des alten Soldaten, deren Adressat in allen Fällen ohne weitere namentliche Nennung lediglich im Untertitel mit den Worten An den Diplomaten außer Dienst identifiziert wird. In einem Brief vom 6. April 1863 verteidigt der deutsche Ingenieur und katholische Publizist Karl Bader (1796-1874), der seine Identität hinter den Initialen R. R. verbirgt, seine in früheren Jahren nach außen getragene Befürwortung liberaler Ideen mit dem Argument, dass sich der deutsche Liberalismus erst nach 1848 zu einem „Parteisystem" entfaltet habe, „welches gerade die liberalen Grundsätze verneint" und sich zu einer neuen Despotie fehlentwickelt habe. Bader stand 1848 auf der Seite der Monarchie und wurde in Folge dessen von seiner amtlichen Lehrtätigkeit enthoben, woraufhin er sich zurückgezogen dem schriftstellerischen Wirken widmete. Rückblickend sei er „dankbar für den Undank", da ihm eine neue Unabhängigkeit geschenkt worden sei.
„In dem Jahrzehnt dieser Unabhängigkeit sind die Grundsätze überall unterlegen, welche die Glaubenssätze meiner politischen Religion gewesen waren; es sind neue Zustände und neue Verhältnisse entstanden, die Zeit ist eine andere geworden; ich kann in dieser Zeit nicht mehr stehen, wie eine halbzerfallene, unheimliche Ruine zwischen den neuen Gebäuden."[3]
Die hier mitbeschriebene inhaltliche Wandelbarkeit der Glaubenssätze unterstreicht die substantielle Ungebundenheit des Begriffs Politische Religion von spezifischen politischen Ideen innerhalb der Kombination mit Possessivpronomen und der vollständigen Fokussierung der begrifflichen Bezugnahme auf das Subjekt, also auf das Individuum oder eine Gruppe.
Die Popularität einer Verwendung des Begriffs Politische Religion in Verbindung mit einem besitzanzeigenden Fürwort in deutschsprachigen Publikationen erlebte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ihren Höhepunkt, so dass die Betrachtung weiterer Fundstellen seitenweise
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[1] Adolf Wolff: Berliner Revolutions-Chronik. Darstellung der Berliner Bewegungen im Jahre 1848 nach politischen, socialen und literarischen Beziehungen. Zweiter Band. Berlin 1852, S. 276: „Hierauf empfiehlt sich Dr. Eichler zum Abgeordneten nach Frankfurt und stellt die demokratische Verfassung als die Grundidee seiner politischen Religion dar."
[2] So wurde die konservativ-katholische Zeitschrift Historisch-politische Blätter für das katholische Deutschland aufgrund ihres Umschlages auch genannt, die zwischen 1838 bis 1923 vierzehntägig erschien und deren Beiträge in Halbjahresbände zusammengefasst wurden.
[3] R. R. [Karl Bader]: Briefe des alten Soldaten. An den Diplomaten außer Dienst, in: Historisch-politische Blätter für das katholische Deutschland 51.1 (1863), S. 855-868, hier S. 863f.
fortgesetzt werden könnte. Stattdessen soll an dieser Stelle eine letzte Quelle Beachtung finden, die aus der Feder des russischen Philosophen und Publizisten Alexander Iwanowitsch Herzen (1812-1870) stammt und 1850 in einer deutschen Fassung unter dem Titel Vom andern Ufer erstmals veröffentlicht wurde. Herzen, der drei Jahre zuvor seine russische Heimat verließ und seither in Europa umherreiste, verarbeitet in dem Werk seine Erfahrungen der gescheiterten Revolutionen der Jahre 1848/49 sowie den damit einhergehenden mentalen Umwälzungsprozessen und bringt seine tiefe Enttäuschung über die westeuropäische Zivilisation und das „alte und blinde Europa"[1] zum Ausdruck. Die Publikation umfasst verschiedene Abschnitte, mal in Dialogform, mal in Form eines Briefes. In einem auf den 25. August 1849 datierten Brief an den befreundeten deutschen Dichter Georg Herwegh (1817-1875) beschreibt Herzen das Wesen des russischen Volkes in einer kurzen Tour durch die Geschichte des Landes und kommt unter anderem zu der Aussage, dass
„zum letzten Male [...] das Russische Volk sich 1812 politisch begeistert [zeigte]. Der Gedanke der Unmöglichkeit bei sich besiegt zu werden, liegt tief im Bewußtsein jedes Russischen Bauern, das ist seine politische Religion."[2]
Herzen beschreibt mit dem Begriff Politische Religion weniger ein politisches Glaubensbekenntnis in Form einer politischen oder philosophischen Idee als vielmehr eine tradierte Haltung, ein tief im russischen Volk verwurzelter Glaube an die eigene Unbezwingbarkeit und Unbesiegbarkeit. Doch wie schon die Autoren vor ihm verknüpft auch Herzen den Begriff Politische Religion nicht unmittelbar mit einer bestimmten politischen oder allgemein weltlichen Idee, sondern mit einem klar definierten Subjekt - hier dem russischen Volk - in seiner individuellen und damit gewissermaßen auch kollektiven weltlichen Haltung, seinem politischen Glaubensbekenntnis.
Trotz seiner durchaus kritischen Bewertung des von ihm beschriebenen Wesens des russischen Volkes bekundet Herzen am Ende des Briefes seine Liebe zu Russland, gleichzeitig aber auch seinen Hass gegenüber der politischen und gesellschaftlichen Situation innerhalb des Landes. Er gesteht zudem, aufgrund seiner Unwissenheit über Europa, insbesondere Frankreich, eine verblendete Vorstellung gehabt zu haben, aus der er nach der Februarrevolution 1848 unsanft gerissen und mit den tatsächlichen Umständen konfrontiert worden sei. Die Enttäuschung über seine Erfahrungen in Europa werden insbesondere in seinem Vergleich deutlich, dass „Europa [...] mit jedem Tage mehr und mehr Petersburgisch" werde und es gar „Länder [gebe], die in höherem Grade Petersburgisch sind, als Rußland."[3] [4]
1855 erschien in London erstmals eine russische Fassung der Publikation unter dem Titel
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[1] Alexander Herzen: Von anderen Ufer. Aus dem Russischen Manuskript. Hamburg 1850, S. 142.
[2] Ebd., S. 169. Eine kritische Betrachtung zu Alexander Herzen unter Verweis auf den Brief an Herwegh und die Verwendung des Begriffs Politische Religion erschien 1858 anonym in der Berliner Revue: [Anon.]: Russische Studien. Die russischen Reformen und die russischen Revolutionäre, in: Berliner Revue. Socialpolitische Wochenschrift 13.2 (1858), S. 441-446: „Es wird darin erklärt, das russische Volk sei treu und bieder, fromm nur aus Dummheit, ohne Liebe für den Kaiser, und die politische Religion des russischen Bauern sei das Bewußtsein, im eigenen Lande unbesieglich zu sein!" (ebd., S. 443). Die Einflechtung des Begriffs Politische Religion in der Lesart Herzens lässt vermuten, dass der verfassenden Person der Begriff in dieser Semantik zumindest geläufig war oder er sie gar selbst in anderen Texten verwendete.
[3] Herzen: Vom anderen Ufer, S. 180.
[4] Ä.TCKcaHgp Hb;ihobhli fepueH [Alexander Ivanowitsch Herzen]: Poccua. Online: http://gertsen.lit- info.ru/gertsen/public/la-russie/la-russie-rossiya.htm [letzter Zugriff: 10.01.2023]: „B uoc.aegHuu pa3 noau- TuuecKuü uHTepec BOogymeBua pyccKuü Hapog b 1812 rogy. Hapog amom yoe>KgeH. umo y ceöa Ha poguHe oh HenoöeguM; ama MMcat .tc>kut b r.ayouHe co3HaHua Ka>i<goro pyccKoro KpecmiaiHUHa. b amou ero uo.au- TuuecKaa pe.auraui."
C moro öepera, obwohl die ursprünglich deutsche Ausgabe laut Untertitel auf einem russischen Manuskript basiert. Allerdings fehlt der oben zitierte Brief an Georg Herwegh, den Herzen vermutlich bewusst aus seiner Publikation strich. Denn die wenige Jahre andauernde tiefe Freundschaft zwischen den beiden Schriftstellern und Publizisten nahm Anfang der 1850er Jahre ein abruptes Ende, nachdem Herzen von der Liaison zwischen seiner Ehefrau und Her- wegh erfuhr. Eine zu Lebzeiten veröffentlichte russische Fassung des Briefes an Herwegh aus der Feder Herzens konnte nicht ermittelt werden; später veröffentlichte Übersetzungen ins Russische verwenden an dieser Stelle die russische Entsprechung no.iumiuiecKa'A penurun .742
Die Popularität einer Kombination des Begriffs Politische Religion mit einem Possessivpronomen fand in Texten Mitte des 19. Jahrhunderts ihren Höhepunkt und avancierte zu einer in vielen Bereichen genutzten Wendung im Sinne eines weltlichen oder politischen Bekenntnisses, einer Weltanschauung oder gar Ideologie zum Verweis auf die eigene Haltung oder die anderer Personen. Trotz der bereits für das Ende des 19. Jahrhunderts quantitativ rapide rückläufigen Rechercheergebnisse, geriet dieses Verständnis des Begriffs Politische Religion im 20. und 21. Jahrhundert nicht vollkommen in Vergessenheit. Der deutsche Kabarettist Hanns Dieter Hüsch (1925-2005) nutzte den Begriff in mehreren Interviews, die er seit den 1980er Jahren mit Journalistinnen und Journalisten verschiedener Periodika führte. Beispielsweise wurde in der Märkischen Oderzeitung vom 14. März 1992 unter der Rubrik Samstagsgespräch ein Interview veröffentlicht, in dem Hüsch auf die Frage seines Gesprächspartners, ob zu seinem Wirken nicht auch „ein politischer Standpunkt" wichtig sei, antwortet:
„Ich werde oft nach meiner politischen Religion gefragt. Ich sage dann immer, meine politische Religion ist ein Satz von Brecht, der aus einer Ballade stammt, ein Refrain, und der heißt: ,Wollt nicht in Zorn verfallen, denn alle Kreatur braucht Hilf' von allen.'"[1]
Auch im 21. Jahrhundert finden sich vereinzelt Fundstellen dieser Verwendungsform des Begriffs Politische Religion, so beispielsweise in dem Beitrag Von der wachsenden Sorge um die Schweiz (2019), in dem der Germanist Peter von Matt (*1937) über die Vorbehalte des Schweizer Dichters und Politikers Gottfried Keller (1819-1890) gegenüber einer direkten Demokratie konstatiert: „So will es nun einmal seine politische Religion."[2] Von einer verbreiteten Anwendung dieser semantischen Richtung des Begriffs Politische Religion, wie sie im 19. Jahrhundert anzutreffen war, kann allerdings nicht mehr die Rede sein. Vielmehr handelt es sich bei dieser Fundstelle um ein seltenes Aufflackern eines fast vergessenen Begriffsverständnisses, das den Zenit seiner Popularität schon seit langer Zeit überschritten hat.
Diesen Untersuchungsabschnitt abschließend können im Vergleich zu den zuvor eruierten und untersuchten begrifflichen Bedeutungsfeldern und -nuancen zwei Unterschiede zu diesem neuen Verständnis des Begriffs Politische Religion herausgearbeitet werden. Zum einen wird der Begriff einem Perspektivenwechsel unterzogen, indem von der bisherigen Objektfokussierung und Substantialität in der Begriffsdefinition Abstand genommen und das Subjekt Mensch sowie
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[1] Roland Müller: Ich bin ein glücklicher Mensch in einer furchtbaren Zeit. Gespräch mit Hanns Dieter Hüsch. in: Märkische Oderzeitung. Potsdam. 14.03.1992; erneut abgedruckt wurde das Gespräch in: Hanns Dieter Hüsch: ...am allerliebsten ist mir eine gewisse Herzensbildung. Die Interviews (= Hanns Dieter Hüsch: Das literarische Werk. 8). Hrsg. v. Helmut Lotz. Berlin 2018. unpag. In diesem Editionswerk sind weitere Interviews enthalten. in denen Hüsch den Begriff Politische Religion in dieser Form verwendete.
[2] Peter von Matt: Von der wachsenden Sorge um die Schweiz, in: Tages-Anzeiger Online, 28.05.2019; online:
https://www.tagesanzeiger.ch/kultur/buecher/von-der-wachsenden-sorge-um-die-schweiz/story/31243382 [letzter Zugriff: 10.01.2023].
dessen philosophische oder politische Haltung bzw. Überzeugung in den Mittelpunkt der Semantik gestellt wird. Der Begriff Politische Religion fungiert in diesen Quellen als ein Synonym zu Ausdrücken wie politisches oder allgemein weltliches Glaubensbekenntnis, die durch die Voranstellung eines Possessivs einen gewissen Selbst- oder Fremdbezug zu einem Subjekt herstellt. Hierin liegt die Besonderheit dieser Verwendungsform des Begriffs Politische Religion im Vergleich zu anderen Semantiken: Während das Begriffsverständnis der Politischen Religion im Überwiegenden auf ein Objekt in Form einer bestimmten religiösen oder weltlichen Idee rekurriert wird, bezieht sich der Begriff in diesen Fundstellen auf die innere Haltung, auf ein weltliches oder politisches Glaubensbekenntnis des Subjekts, ohne dass der Begriff Politische Religion dieses Bekenntnis per Definition im Voraus substantiell füllt.
Von dieser Subjektbezogenheit abhängig wurde der Begriff Politische Religion zum anderen aus seiner bis dato inhärent wirkenden, negativen Konnotation, seiner abwertenden, kritisierenden Funktion befreit und erfuhr eine Melioration, eine Bedeutungsverbesserung. In diesem Deutungsfeld erscheint die Politische Religion als ein per se wertfreier Begriff, dem die Verfassenden nach Gutdünken zusätzlich eine sprachliche Wertigkeit im textlichen Umfeld verleihen können.
Zusammengefasst lässt sich festhalten, dass die Semantik des Begriffs Politische Religion in Kombination mit einem besitzanzeigenden Fürwort als Ausdruck eines individuellen, gruppenbezogenen oder auch kollektiven Glaubensbekenntnisses auf weltlicher, meist politischer Ebene seit Mitte des 18. Jahrhunderts in verschiedenen Zusammenhängen mit steigender Popularität genutzt wurde und ihren Höhepunkt in der Mitte des 19. Jahrhunderts erreichte. Ausläufern dieser Verwendungsform des Begriffs Politische Religion kann bis ins 21. Jahrhundert nachgespürt werden. Zudem konnten in dem Abschnitt Verwendungen dieser Semantik im französischen und ungarischen Sprachraum belegt werden, was jedoch nicht bedeutet, dass Fundstellen in weiteren Sprachräumen ausgeschlossen werden können. Auch in diesem Verwendungsfeld tritt die Universalität des Begriffs in seiner Anwendbarkeit deutlich zum Vorschein, da der Begriff sowohl von unterschiedlichen Personen als auch auf verschiedene Personen oder Personengruppen bezogen genutzt wurde - weder kann von einer exklusiven Verwendung durch noch gegenüber bestimmten Personen oder Personengruppen gesprochen werden.
Der semantische Wandel vollzieht sich auf der Ebene eines Perspektivenwechsels, indem der Begriff nicht mehr auf ein bestimmtes Objekt, sondern auf ein Subjekt - sei es ein einzelnes Individuum oder eine Gruppe von Personen - bezogen wird. Innerhalb dieses neuen Verwendungsfeldes wurde der Begriff Politische Religion von seinem bisher überwiegend polemischen bzw. negativen Charakter entkleidet und entwickelte sich (wieder) zu einem in seiner Lesart wertfreien Begriff. Dies macht sich besonders an jenen Fundstellen bemerkbar, an denen die Verfassenden durch das Voranstellen des besitzanzeigenden Fürwortes in der ersten Person Singular anzeigen, dass sie ihre eigene, persönliche Politischen Religion thematisieren. In den recherchierten Quellen finden sich für verschiedene Varianten besitzanzeigender Fürwörter Verwendungsbeispiele, sowohl in Singular- als auch in Pluralformen. Diese Semantik verleiht dem Begriff grundsätzlich eine konnotative Neutralität. Eine sprachliche Wertung erfährt der Begriff in dieser Verwendungsform nur mittelbar durch die Wertung des als Politische Religion bezeichneten, nichtreligiösen Glaubensbekenntnisses. Das bedeutet, dem Begriff Politische Religion kommt innerhalb dieser Verwendungsform eine rein deskriptive Funktion zu, ohne gleichzeitig eine Wertung zu liefern. Der im Einleitungskapitel angesprochene Rekurs des Begriffs politisch in die Sphäre des Privaten, der einzelnen Person, drückt sich vermutlich in keinem Verständnisfeld des Begriffs Politische Religion deutlicher aus als in diesem Feld der Subjektfokussierung des Begriffsverständnisses. Somit könnte man analog von einer Privatisierung der Politischen Religion sprechen. Umso erstaunlicher ist die hier überwiegend positiv konno- tierte Verwendung des Begriffs, obgleich die Semantik des Begriffs politisch - gemäß den eingangs zusammengefassten Forschungsergebnissen - im 18. und 19. Jahrhundert einer negativen Wertung unterworfen war.
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