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Das Politische und die Religion

Die Einleitung abschließend soll der Blick zunächst auf jene (Grund-)Begriffe gerichtet werden, aus denen sich der Begriff Politische Religion zusammensetzt: Religion und politisch. In zwei kurzen Überblicksdarstellungen werden historische, in der gegenwärtigen Kommunikation nicht mehr verwendete Semantiken und damit die jeweiligen Entwicklungen der Bedeutungsnuancen beider Grundbegriffe bis in den aktuellen Sprachgebrauch dargelegt. Am Anfang dieser Überblicksdarstellungen steht der innerhalb der Politischen Religion dominantere Religionsbegriff, dessen Vormachtstellung gegenüber dem Adjektiv politisch im Begriff Politische Religion aus seinem sprachwissenschaftlichen Charakter als Substantiv entspringt. Im Anschluss folgt ein wesentlich kürzerer Exkurs in die Etymologie des Begriffs politisch.

Der Religionsbegriff

Was ist Religion? Welche Bedeutung verbirgt sich hinter diesem Begriff, wie wird er definiert und kann er überhaupt definiert werden? Ist eine Religion der Glaube an Gott, oder doch an Götter, an transzendente Wesen, an das Heilige? Auf der Suche nach einer adäquaten Definition des Religionsbegriffs haben sich unterschiedliche Ansätze entwickelt. Dennoch ist es bis heute nicht gelungen, diesem komplexen Begriff eine allgemeingültige semantische Substanz zu verleihen. Im Fehlen einer allgemein anerkannten und gültigen Religionsdefinition liegt ein wesentlicher Faktor für die bestehende Ambivalenz im Bedeutungsverständnis und der Anwendung des Begriffs Politische Religion in (populär-)wissenschaftlichen sowie auch wissenschaftsfernen Bereichen. Denn die Debatte um den Begriff Politische Religion steht in einer engen Dependenz zum Diskurs in der Religionsforschung um eine adäquate und universal anwendbare Definition des Begriffs Religion. Rein wörtlich betrachtet beinhaltet der Terminus Politische Religion aufgrund der Dominanz des Substantivs in seinem Wortlaut die Bestimmung des zu beschreibenden Phänomens als Religion. Daher stehen wissenschaftliche Debatten um die Anwendbarkeit des Begriffs Politische Religion zur Umschreibung spezifischer Phänomene und ihre Schlussfolgerungen - etwa zur Charakterisierung des Nationalsozialismus - in einer engen Abhängigkeit zum individuell bevorzugten Begriffsverständnis von Religion der einzelnen Debattenteilnehmenden sowie zur Frage ihres jeweiligen Verhältnisses zum Religionsbegriff. In der jüngeren Forschung wird dieses Problem immer stärker in den Fokus gerückt und der Blick auf die semantische Wahrnehmung und Kontextualisierung der Politischen Religion im Rahmen verschiedener Definitionsansätze von Religion durch die Verfassenden ge- richtet.[1]

Im Folgenden soll anhand einer knappen Überblicksdarstellung der gegenwärtigen Definitionsansätze die Komplexität des Religionsbegriffs beleuchtet werden. Es wird keine vollständige oder abschließende Darstellung von vorhandenen Religionsdefinitionen und ihren Vertretenden angestrebt. Die knappe Präsentation verschiedener Ansätze einer etymologischen Ursprungssuche und neuzeitlicher Ansätze einer Religionsdefinition dient als Orientierung und Sensibilisierung für die grundlegende Problematik. Angesichts dieser voneinander divergierenden begrifflichen Bestimmungen von Religion gilt es, den Treibstoff jenes Motors aufzuzeigen, der die Vielfalt der Semantiken und die damit verbundenen aktuellen Debatten um den Begriff Politische Religion am Laufen hält. Auf diese Weise soll ein Grundverständnis für diesen problembehafteten Begriff, seine Etymologie und den Bedeutungswandel geschaffen werden, um darauf aufbauend in den nachfolgenden Kapiteln Rückschlüsse auf die verschiedenen Entwicklungsstufen und Bedeutungsnuancen des Begriffs Politische Religion ziehen zu können. Dazu werden die Entstehungs- und Entwicklungsstufen sowie einzelne Definitionsansätze im Hauptteil an gegebenen Stellen aufgegriffen.

Früher Religionsbegriff

Religion geht auf den lateinischen Begriff religio zurück, dessen etymologische Wurzeln nicht apodiktisch rekonstruiert und dessen ursprüngliche Wortbedeutung(en) nicht zweifelsfrei eruiert werden können. Bereits in vor- und frühchristlicher Zeit unternahmen verschiedene Gelehrte den Versuch, die Ursprünge des schon damals im lateinischen Sprachgebrauch etablierten Begriffs religio aufzuspüren. Dabei entstanden mehrere Ansätze einer möglichen etymologischen Quelle. Die älteste überlieferte Auslegungsvariante findet sich in der Schrift Commentarii grammatici[2] des Grammatikers Publius Nigidius Figulus (ca. 100-45 v. Chr.). Figulus zitierte den aus einer unbekannten Quelle stammenden Vers „religentem esse oportet, religiosus ne fuas"[3], um seine These einer ursprünglichen Verwendung des Begriffs religiosus mit der Bedeutung „abergläubisch" zu untermauern.[4] Diesem Zitat folgend leitete er den Begriff religio von dem Verb religere ab, das in diesem Kontext als eine „gewissenhafte Erfüllung​
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[1] In der jüngeren Forschungsliteratur wird dieser Frage vermehrt in Hinblick auf die Debatte seit den 1990er Jahren Aufmerksamkeit geschenkt. Siehe hierzu Schirrmacher: Hitlers Kriegsreligion. 2 Bde. Bonn 2007; Mark McLeister: Chinese Communist Party Rule as Political Religion. A Critical Analysis. Masterarbeit. University of Sheffield 2008.
[2] Die Schrift ist nur fragmentarisch in den Werken anderer Autoren erhalten geblieben. Die betreffende Stelle zum wohl ältesten Beleg eines etymologischen Herleitungsversuchs durch Nigidius Figulus wurde von Aulus Gellius in seiner Schrift Noctes Atticae überliefert.
[3] Sinngemäß: Man solle gewissenhaft sein, doch dürfe man nicht ängstlich bzw. abergläubisch werden. Diesen
Vers entnahm Nigidius Figulus einem älteren Lied, ohne Angaben zum Urheber zu machen (Gellius: Noct. Att., IV 9.1). In anderen Editionen der Noctes Atticae heißt es abweichend auch: „religiosum nefas" oder „religiosus nefas" (siehe hierzu Axel Bergmann: Untersuchungen zur Geschichte und Vorgeschichte der Lateinischen Vokabel rel(l)igion. Magisterarbeit. Universität Marburg 1984, S. 31f.; Robert Muth: Vom Wesen römischer „religio", in: Hildegard Temporini, Wolfgang Haase (Hg.): Aufstieg und Niedergang der römischen Welt. Geschichte und Kultur im Spiegel der neueren Forschung. Teil II: Principat. Bd. 16.1. Berlin, New York 1978, S. 290-354, S. 343).
[4] Zwar bezeichnen sowohl religio wie auch religiosus die gewissenhafte Erfüllung von Pflichten, nach Ansicht Nigidius Figulus signalisiere jedoch das Suffix -osus ein gewisses Übermaß, so dass bei Hinzunahme des Suffixes statt von einer frommen Gewissenhaftigkeit von einer zu vermeidenden übertriebenen Frömmigkeit (auch „superstitiosa religione") die Rede sei: „Hoc inquit inclinamentum semper huiuscemodi verborum, ut 'vinosus', 'mulierosus', 'religiosus', significat copiam quandam inmodicam rei, super qua dicitur. Quocirca 'religiosus' is appellabatur, qui nimie et superstitiosa religione sese alligaverat, eaque res vitio assignabatur." (Gellius: Noct. Att., IV 9.2; siehe hierzu Bergmann: Untersuchungen, S. 30f.; Ratschow: Religion, Sp. 633; Muth: Vom Wesen, S. 345, 348).


von (kultischen) Pflichten"[1] verstanden wird. Der Schriftsteller und römische Richter Aulus Gellius (ca. 130-180 n. Chr.) kritisierte diesen Ansatz in seiner Schrift Noctes Atticae mit dem Hinweis, dass religiosus für gewöhnlich als Bezeichnung für eine fromme und gewissenhafte Person und mit entgegengesetzter Konnotation zur Kennzeichnung von unheilvollen Tagen (re- ligiosi dies und religiosa delubra) gedient habe.[2] Einen weiteren Herleitungsansatz lieferte Marcus Tullius Cicero (106-43 v. Chr.) in seiner Schrift De natura deorum. Cicero interpretierte religio als ein Derivat von relegere[3] und folgerte daraus die Definition des Begriffs religio als ein „genaues Beachten" kultischer Pflichten und „die Gewissenhaftigkeit, das zu tun, was den Göttern gegenüber zu tun ist."[4] Diesen religio-Begriff stellte er in einen engen Zusammenhang mit den Termini pietas (Gerechtigkeit gegenüber den Göttern) und sanctitas (das Wissen um die [richtige] Verehrung der Götter) und betonte, dass diese drei Eigenschaften nur in Einheit miteinander verstanden werden könnten und den religiösen Menschen kennzeichnen würden.[5] Unter dem Terminus religiosi subsumierte Cicero - entgegen Nigidius Figulus - jene Personen, die den cultus sacer, den heiligen Verehrungskult, sorgfältig beachten bzw. gewissenhaft ausführen und unterschied diese von den superstitiosi, jenen übertrieben Frommen, die den gesamten Tag mit Beten und Opferungen verbringen, auf dass ihre Kinder sie im Leben überdauern.[6] Neben einer Begriffsverwendung auf sakraler Ebene stößt man in antiken Texten ferner auf einen Gebrauch des religio-Begriffs im profanen, weltlichen Bereich, um​
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[1] Johann Figl: Einleitung, in: ders. (Hg.): Handbuch Religionswissenschaft. Religionen und ihre zentralen Themen. Innsbruck 2003, S. 18-80, S. 63; siehe auch Carl Heinz Ratschow et al.: Art. Religion, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 8. Basel 1992, Sp. 633-713, Sp. 633. Zur Kritik an dieser Deutung bei Nigidius siehe Bergmann: Untersuchungen, S. 30-36; ders.: Die ,Grundbedeutung' des lateinischen Wortes Religion. Marburg 1998, S. 41-43.
[2] Gellius: Noct. Att., IV 9.3-13.
[3] Cicero: De natura deorum, II.72: „qui autem omnia, quae ad cultum deorum pertinerent diligenter retractarent et tamquam relegerent, sunt dicti religiosi ex relegendo, tamquam elegantes ex eligendo, tamquam ex dili- gendo diligentes, ex intellegendo intellegentes; his enim in verbis omnibus inest vis legendi eadem, quae in religioso."
[4] Feil: Religio I, S. 41. Zur Ableitungsthese bei Cicero siehe ferner ebd., S. 41-49; ders.: Zur Bestimmungsund Abgrenzungsproblematik von „Religion", in: ders. (Hg.): Streitfall „Religion". Diskussionen zur Bestimmung und Abgrenzung des Religionsbegriffs (= Studien zur systematischen Theologie und Ethik, 21). Münster 2000, S. 5-35, S. 18; Figl: Einleitung, S. 63; Falk Wagner: Art. Religion (II. Theologiegeschichtlich und systematisch-theologisch), in: Theologische Realenzyklopädie (TRE). Bd. 28. Berlin, New York 1997, S. 522-545, S. 523; Ratschow: Religion, Sp. 634; Bergmann: ,Grundbedeutung', S. 45-49.
[5] Cicero: De natura deorum, I.116f. [Hervorhebungen Verf.in]: „Est enim pietas iustitia adversum deos; cum quibus quid potest nobis esse iuris, cum homini nulla cum deo sit communitas? Sanctitas autem est scientia colendorum deorum; qui quamobrem colendi sint, non intellego nullo nec accepto ab his nec sperato bono. Quid est autem, quod deos veneremur propter admirationem eius naturae, in qua egregium nihil videmus?" Ob die Begriffe dieser Trias an Gewichtung einander als gleichgestellt zu deuten sind oder es sich um terminologische Zuschreibungen mit unterschiedlichem Stellenwert im römischen kultisch-religiösen Sprachgebrauch und Alltag handelte, wird bei Cicero nicht explizit ersichtlich. Der Religionswissenschaftler Ernst Feil vermutet allerdings, dass dem Begriff der pietas generell - und insbesondere im Vergleich zur religio - eine größere Relevanz im vorchristlich-römischen Verehrungskult zugeschrieben wurde (Feil: Religio I, S. 41-49, 78).
[6] Cicero: De natura deorum II.71f.: „Non enim philosophi solum, verum etiam maiores nostri superstitionem a religione separaverunt. Nam qui totos dies precabantur et immolabant, ut sibi sui liberi superstites essent, superstitiosi sunt appellati, quod nomen patuit postea latius" (hierauf Bezug nehmend s. Feil: Religio I, S. 44, 47, 63; Bergmann: Untersuchungen, S. 42, 66f.).


„Achtsamkeit, Bedenken, Sorge, Vorsicht oder auch mangelndes Zutrauen zu sich selbst" aus- zudrücken.[1] Insgesamt überwiegt jedoch die Verwendung des Begriffs religio im sakral-kultischen Bereich des römischen Gemeinschaftswesens.[2]

Der frühchristliche Apologet Laktanz (auch Lactantius; ca. 250-320 n. Chr.) lehnte in seinem Werk Divinae institutiones den Ansatz Ciceros - im Besonderen dessen Unterscheidung zwischen religiosus und superstitiosi - ab und führte den Terminus auf das Verb religare („festbinden") zurück.[3] Demnach sei religio Ausdruck einer dem Menschen angeborenen Bindung an und Verehrung von Gott - hier im Speziellen des christlichen Gottes.[4] Im Umkehrschluss folgerte Laktanz, dass wiederum auch „Gott den Menschen an sich gebunden und durch pietas verbunden hat"[5] und es sich damit um eine wechselseitige Bindung zwischen einer transzendenten göttlichen Macht und diesseitigen endlichen Geschöpfen handle. Auf das endliche Subjekt bezogen definierte er religio als die Tugend, Gott zu ehren, zu gehorchen und zu dienen. Im Rahmen dieser terminologischen Bestimmung stellte Laktanz religio in eine enge Verbindung mit der sapientia, welche darin bestehe, Gott zu erkennen und zu lieben. In dieser zweiseitigen Beziehung zwischen Liebe und Ehrfurcht gegenüber Gott nehme die sapientia eine Vorrangstellung ein: Denn man müsse Gott erst erkennen, bevor man ihn ehren könne.[6] Im Gegensatz zu Figulus, Gellius und Cicero, die unter religio äußere Akte der Sorgfalt und Hingabe (zu einem göttlichen / transzendenten Wesen) subsumieren, definierte Laktanz religio als eine innere Einstellung und Beziehung des Menschen zu Gott.

Der Kirchenvater Augustinus von Hippo (354-430) schloss sich in seinen Betrachtungen​
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[1] So bspw. in der Komödiendichtung Curculio von Plautus (ca. 254-184 v. Chr.), worin der titelgebende Charakter seinem Auftraggeber Phaedromus von einer Einladung zum Essen und seinen Bedenken, diese anzunehmen, berichtet: „Revocat me ilico, vocat me ad cenam; religio fuit, denegare nolui" (Plautus: Curculio 349f.; zitiert nach Muth: Vom Wesen, S. 345). Des Öfteren finde man auch den Begriff religio iudicis im Sinne einer sorgfältigen Durchführung eines Gerichtsverfahrens durch den Richter (Feil: Religio I, S. 41, 96).
[2] Feil: Religion, Sp. 267; ders.: Bestimmungs- und Abgrenzungsproblematik, S. 18. Diese frühen etymologischen Rekonstruktionsversuche und ihre breite wissenschaftliche Rezeption werden von dem Sprach- und Religionswissenschaftler Axel Bergmann weitgehend abgelehnt. Dieser vertritt die These, dass sowohl religio wie auch religiosus nicht vor dem 2. Jahrhundert n. Chr. als termini technici genutzt wurden, weswegen er die verschiedenen etymologischen Deutungsangebote, die sich überwiegend auf Schriftsteller vor diesem Zeitpunkt berufen, verwirft (Bergmann: ,Grundbedeutung', S. 13-23, 45-51; Figl: Einleitung, S. 63f; Feil: Bestimmungs- und Abgrenzungsproblematik, S. 18). Ein wesentlicher Kritikpunkt betrifft die wissenschaftlich verbreitete Annahme einer Präfigierung der betreffenden Bezugswörter mit dem Präverb re(d)-, womit sich seiner Auffassung nach eine Derivation zu religio oder religioso sprachwissenschaftlich nicht einwandfrei begründen lasse (Bergmann: Untersuchungen, S. 48-66; ders.: ,Grundbedeutung', S. 45-52). Infolgedessen bietet Bergmann eine alternative Variante an und leitet den Begriff von res und ligare im Sinne von r[em] ligo - „ich binde [...] die (in Aussicht genommene) res"- ab (Zitat in Bergmann: ,Grundbedeutung', S. 67; hierauf ausführlicher Bezug nehmend siehe ders.: Untersuchungen, S. 74-77).
[3] Laktanz: Divin. instit., IV 28 (zitiert nach Feil: Religio I, S. 63, Anm. 24): „nam quod ait religiosos a rele-
gendo appellatos qui retractent ea diligenter quae ad cultum deorum pertineant, cur ergo illi qui hoc saepe in die faciant religiosorum nomen amittant, cum multo utique diligentius ex adsiduitate ipsa relegant ea quibus dii coluntur?" Laktanz übernahm in seiner Abhandlung einen bereits vor ihm formulierten etymologischen Herleitungsansatz, dem er allerdings eine religiöse Begründung beifügte (Bergmann: Untersuchungen, S. 6771, hier S. 68; ders.: ,Grundbedeutung', S. 48-50; Ratschow: Religion, Sp. 635).
[4] Feil: Religio I, S. 41, 60-64; Muth: Vom Wesen, S. 348; Bergmann: Untersuchungen, S. 67f.; Gustav Kehrer: Art. Religion, Definition der, in: Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe. Bd. IV. Stuttgart 1998, S. 419.
[5] Laktanz: Divin. instit. IV 28 (zitiert nach Feil: Religio I, S. 63, Anm. 27): „diximus nomen religionis a vinculo pietatis esse deductum, quod hominem sibi deus religaverit et pietate constrinxerit, quia servire nos ei ut domino et obsequi ut patri necesse est."
[6] Laktanz: Divin. instit., IV 4 (zitiert nach Feil: Religio I, S. 61, Anm. 2): „non potest igitur nec religio a sapi- entia separari nec sapientia a religione secerni, quia idem deus est qui et intellegi debet, quod est sapientiae, et honorari, quod est religionis. Sed sapientia praecedit, religio sequitur, quia prius est deum scire, consequens colere."


zum Religionsbegriff den Ausführungen von Laktanz an,[1] definierte religio aber nicht nur als Bindung zwischen dem Absoluten und dem Individuell-Endlichen, sondern auch als Kult- und Verehrungshandlungen.[2] Zusätzlich lud Augustinus den Begriff mit christlichen Glaubensinhalten auf, die er unter Termini wie religio nostra oder christiana religio zusammenfasste und zur einzigen religio vera erklärte, welche er von den religiones falsae[3] - der außerchristlichen kultischen Götterverehrung - unterschied. Diese positiv konnotierte Vereinnahmung des religio-Begriffs im Singular für den monotheistisch-christlichen Glauben tauchte überwiegend innerhalb der Auseinandersetzung mit nichtchristlichen polytheistischen Göttervorstellungen (im Speziellen der römischen Götterverehrung) auf und war außerhalb dieses Kontexts nur von geringfügiger Bedeutung im Selbstverständnis des Christentums.[4] Ungeachtet der beginnenden Neuorientierung des Begriffsverständnisses spielte der religio-Begriff in den Werken von Laktanz und Augustinus nur eine nachgeordnete Rolle im Vergleich zu Termini wie fides, lex oder secta (Gefolgschaft), die gemeinhin in Form von Sammelbegriffen für den christlichen Glauben verwendet wurden.[5] Zusammenfassend ist für die vor- und frühchristliche Zeit[6] festzuhalten, dass religio im Gegensatz zum neuzeitlichen Begriffsverständnis von Religion vermutlich noch nicht als Ober- oder Sammelbegriff zur Bezeichnung von Glaubenskonzepten - etwa einer „römischen Religion" benutzt wurde.[7]

Im Mittelalter änderte sich diese untergeordnete Rolle des religio-Begriffes im Vergleich zu Terminologien wie fides, lex oder secta nicht,[8] doch neben der Deutung als Tugend (der​
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[1] Dieser Herleitungsansatz von Laktanz hat sich vermutlich aufgrund der Fürsprache durch eine theologische Autorität wie Augustinus in der christlich-theologischen Tradition durchgesetzt (Feil: Religio I, S. 41; ders.: Bestimmungs- und Abgrenzungsproblematik, S. 18; Figl: Einleitung, S. 63; Bergmann: Untersuchungen, S. 68).
[2] „Item alio loco (nämlich De vera relig. 55, 111 [Anm. Muth]): ,ad unum deum tendentes', inquam, ,et ei uni religantes animas nostras, unde religio dicta creditur, omni superstitione careamus'. In his verbis meis ratio, quae reddita est, unde sit dicta religio, plus mihi placuit. Nam non me fugit aliam nominis huius originem exposuisse Latini sermonis auctores, quod inde sit appellata religio, quod religitur. Quod verbum compositum est legendo, id est eligendo, ut ita Latinum videatur ,religio' sicut ,eligo'" (Augustinus: Retract. I 13.9; zitiert nach Muth: Vom Wesen, S. 350).
[3] Im Gegensatz zur religio vera - dem monotheistisch-christlichen Glauben - wendet Augustinus den religio - Begriff in Bezug auf nichtchristliche Glaubensvorstellungen nur im Plural an, auch wenn damit nur eine einzelne, spezifische Religion gemeint war (vgl. exemplarisch Augustinus: De civitate Dei IV 29 und 32; hierauf Bezug nehmend s. Feil: Religio I, S. 71).
[4] Feil: Religio I, S. 70f.; s. auch Wagner: Religion II, S. 524; Ratschow: Religion, S. 634f.; Kehrer: Religion, S. 419f.
[5] Feil: Religio I, S. 69-75, 78.
[6] Zu vor- und frühchristlichen etymologischen Herleitungsansätzen siehe auch Feil: Religio I, S. 32-82; Feil: Religion, Sp. 267f.; Wagner: Religion II, S. 523f.; Hans Zirker: Art. Religion (I. Begriff), in: Lexikon für Theologie und Kirche (LTK). Bd. 8. Freiburg im Breisgau [u. a.] 31999, Sp. 1034-1039, Sp. 1034f.
[7] Das neuzeitliche Verständnis des Begriffs Religion, das als Fremdwort in den deutschen Sprachgebrauch aufgenommen wurde, unterscheide sich grundlegend von dem, was in der antik-römischen Gesellschaft als religio bezeichnet wurde (Feil: Religio I, S. 47f., 78f.; ders.: Religion, Sp. 267; Muth: Vom Wesen, S. 291). Anders hingegen bspw. Carl Heinz Ratschow und Michael Strausberg, denen zufolge der Begriff bereits in der Antike unter anderem auch im Sinne eines Oberbegriffs zur Bezeichnung der „römischen Religion" bzw. anderer nicht-römischer Religionen im Gebrauch war (Ratschow: Religion, Sp. 634; Michael Strausberg: Religion. Begriff, Definitionen, Theorien, in: ders. [Hg.]: Religionswissenschaft. Berlin, Boston 2012, S. 3347, S. 36).
[8] Gregor Ahn: Religion (I. Religionsgeschichtlich), in: Theologische Realenzyklopädie. Bd. 28. Berlin, New York 1997, S. 513-522, S. 514; Figl: Einleitung, S. 64. Einen ersten Befund zum Gebrauch eines Oberbegriffes zur Bezeichnung verschiedener Glaubenskonzepte findet man in den astronomischen und astrologischen Abhandlungen des englischen Franziskaners Roger Bacon (1214-1292/94), der die Begriffe leges und secta wählt und unter anderem zwischen einer secta Christi und secta Antichristi unterscheidet (Feil: Religio I, S. 116-120; ders.: Bestimmungs- und Abgrenzungsproblematik, S. 20). Erst im 17. Jahrhundert kam es zu einer sukzessiven Abwendung von einer oberbegrifflichen Verwendung und Änderung der Äußerungsbedeutung dieser Termini (ders.: Religio III, S. 474-477).


Gerechtigkeit gegenüber Gott) oder Bindung an den christlichen Gott dienten die Begriffe religio und religiosus nun auch als Bezeichnung für christliche Orden und deren Angehörige.[1] Erste Tendenzen einer Verallgemeinerung des religio-Begriffs sind im Humanismus und bei Reformatoren[2] erkennbar, auf die ein wesentlicher Vorstoß im Augsburger Religionsfrieden von 1555 folgte.[3] In diesem Reichsgrundgesetz fällt ein häufiger Gebrauch des nicht näher definierten Terminus religion als Sammelbegriff für die lutherische und die katholische Konfession auf, was als Ausdruck einer zunehmenden Begriffsverwendung als terminus technicus gedeutet werden könnte.[4] Gleichfalls blieb das tradierte Verständnis von religio als Sorgfalt in rituellen Handlungen und als moralische Tugend vor allem im theologischen Sprachgebrauch zunächst bestehen. Im 18. Jahrhundert wurde mit dem Fokus auf den Terminus religio interna ein neuer Deutungshorizont der Religion als Innerlichkeit und Gefühl eröffnet.[5] Die Betonung der inneren respektive emotionalen Ebene führte zu einem sukzessiven Bedeutungswandel und einer Neuakzentuierung des Religionsbegriffs,[6] was sich wiederum auf den Entwicklungsprozess hin zur Verwendung als Oberbegriff oder einer Art Kollektivsingular[7] fördernd auswirkte​
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[1] Feil: Religio I, S. 87, 98f., 121; Figl: Einleitung, S. 64; Wagner: Religion II, S. 524. In dieser Lesart wird der Begriff noch heute im römisch-katholischen Kirchenrecht (z. B. im aktuellen Codex Iuris Canonici von 1983) benutzt. Diese enge Definition und untergeordnete Rolle der religio im Gegensatz zu begrifflichen Alternativen blieb im Bereich der katholischen Theologie bis zum Ende des 17. Jahrhundert erhalten. Nur in vereinzelten Fällen kann eine Verwendung als Sammelbegriff nachgewiesen werden, doch bleibt auch dann die religio insbesondere der fides untergeordnet (Feil: Religio I, S. 78, 126; ders.: Religion, Sp. 267f.; ders.: Bestimmungs- und Abgrenzungsproblematik, S. 20-22).
[2] Eine erste Verwendung als Sammelbegriff ist etwa in der Schrift Homiliae Orthodoxae (1546) nachweisbar, in welcher der Autor - der evangelische Theologe und Luther-Gegner Georg Witzel (1501-1573) - einerseits von der „alte[n] falsche[n] / heydnische[n] Religion" (Georg Witzel: Homiliae Orthodoxae. Postil oder Auß- legung Eechter Catholischrer lehr uber alle Episteln und Evangelien aller Sontage auch Hohen Fest ubers gantz Jahre / jetzt fast an CCC. Wörtern gantz nützlich gemehret. Meintz 1546, S. I) oder der „Mosaische[n] Religion" (ebd., S. CLXV) und andererseits auch von „unsere Religion" (ebd., S. LXIX) bzw. „Christliche Religion" spricht (ebd., S. CVIII).
[3] Wagner: Religion II, S. 525. Ähnliches gilt für den Westfälischen Friedensvertrag von 1648, in dem ebenfalls
die christlichen Konfessionen als religiones zusammengefasst wurden (Kehrer: Religion, S. 419; Kurt Rudolph: Inwieweit ist der Begriff „Religion" eurozentristisch?, in: Ugo Bianchi (Hg.): The Notion of „Religion" in Comparative Research. Selected Proceedings of the XVIth Congress of the International Association for the History of Religions. Rome, 3rd-8th September, 1990. Roma 1994, S. 131-139). Insbesondere die konfessionelle Pluralisierung des Christentums und die daraus resultierenden religiösen Konflikte im 16. und 17. Jahrhundert hatten vor allem in Frankreich und England einen großen Einfluss auf eine überkonfessionelle Verwendung des Religionsbegriffs im historisch-politischen und philosophischen Bereich. Im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation erfreute sich hingegen der Begriff confessio einer regen Verwendung und drängte die religio zunächst in den Hintergrund (Dietrich Korsch: Religionsbegriff und Gottesglaube. Dialektische Theologie und Hermeneutik der Religion. Tübingen 2005, S. 8-10; Benjamin Ziemann: Sozialgeschichte der Religion [= Historische Einführungen, 6]. Frankfurt am Main 2009, S. 26).
[4] Feil: Religio I, S. 266-271; ders.: Religion, Sp. 268; Wagner: Religion II, S. 524f.
[5] Feil: Religio IV, S. 879; ders.: Bestimmungs- und Abgrenzungsproblematik, S. 8-10, 22; Wagner: Religion II, S. 531-534. Die damals bereits bekannte Unterscheidung zwischen cultus internus und cultus externus wurde erstmals im beginnenden 18. Jahrhundert von dem französischen Mystiker und christlichen Philosophen Pierre Poiret (1646-1719) auf die religio übertragen, infolge dessen er den Terminus religio interna einführte (Feil: Religio III, S. 317f.; ders.: Religion, Sp. 269). Diese neue Formulierung fand erst Mitte des 18. Jahrhunderts Eingang in den deutschen Raum und wurde unter anderem von dem Philosophen Alexander Gottlieb Baumgarten in seiner Schrift Ethica Philosophica (1740) aufgenommen (zu Baumgarten siehe Feil: Religio IV, S. 83-88).
[6] Feil: Religio IV, S. 879f.; ders.: Bestimmungs- und Abgrenzungsproblematik, S. 22.
[7] Der Begriff des Kollektivsingulars ist von Reinhart Koselleck entlehnt, der damit selbstbezügliche Allgemeinbegriffe bezeichnete; hierzu vgl. Reinhart Koselleck: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt/Main 1979, S. 130f.


und den bisher im deutschsprachigen Raum vorrangig verwendeten Begriff Glaube (fides) allmählich verdrängte.[1] Im Zuge dieses Verständniswandels setzte sich Ende des 18. Jahrhunderts besonders im deutschen Sprachraum der Begriff Religiosität durch, der das individuelle Streben nach Sinnfindung unterstrich und gleichzeitig die semantische Transformation des Religionsbegriffs hin zur Innerlichkeit des Subjekts förderte. Der Begriff Religiosität legt den Fokus auf eine innere Haltung, ein inneres, individuellen Gefühl von Religion.[2]

Einen Wendepunkt für das anbrechende 19. Jahrhundert markiert in diesem Zusammenhang die 1799 anonym veröffentlichte Schrift des evangelischen Theologen Friedrich Daniel Schleiermacher (1768-1834) Über die Religion, in der eine Vermischung oder Gleichsetzung der Religion mit den Gegenständen Metaphysik und Moral wie etwa in der Kantschen Trans- zendentalphilosophie[3] kategorisch abgelehnt wird. Denn während Metaphysik und Moral lediglich versuchen würden, das Denken und Handeln des Menschen zu bestimmen, sei das Wesen der Religion „weder Denken noch Handeln, sondern Anschauung und Gefühl."[4] Schleiermacher wendete sich gegen eine Beschränkung der Religion auf moralische und vernunftbasierte Lehren sowie auf den Grundsatz vieler Aufklärer, dass nur eine vernunftgeleitete und ethnischen Prinzipien unterworfene Religion wahrhaftig sein könne. Stattdessen verlegte er die Bedeutung von Religion auf eine individuell-emotionale Ebene und verschob damit den Schwerpunkt einer Begriffsbestimmung in den subjektiven Erfahrungsbereich der Gefühle. Die Anlagen zu diesem Gefühl der Religion seien jedem Menschen angeboren und bedürften nur der notwendigen Entfaltungsfreiheit, damit „sie sich auch in Jedem unfehlbar auf seine eigene Art entwickeln"[5] könnten. Im Grunde beziehe sich der Mensch nämlich in seinen unterschiedlichen Anschauungs- und Darstellungsweisen des Glaubens stets auf ein und dieselbe transzendente Macht. Schleiermachers These von einer der Religion immanenten Pluralität[6] und die​
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[1] Dieser Verdrängungsprozess kann etwa auf die Mitte des 18. Jahrhunderts verortet werden (Feil: Religion, Sp. 273f.; ders.: Bestimmungs- und Abgrenzungsproblematik, S. 23-27; Strausberg: Religion, S. 36). Zum Glaubensbegriff siehe Günter Lanczkowski et al.: Art. Glaube, in: Theologische Realenzyklopädie. Bd. 13. Berlin, New York 1985, S. 275-365; Andreas Grünschloß et al.: Art. Glaube, in: Religion in Geschichte und Gegenwart. Bd. 3. Tübingen 42000, Sp. 940-983.
[2] Der Begriff Religiosität diente einerseits als Ausdruck für das Gemeinsame der Religionen, andererseits aber auch als Abgrenzungsbegriff um Unterschiede zwischen Religionssystemen zu verdeutlichen, indem Religiosität zum Ausdruck eines echten religiösen Gefühls bestimmt wurde (Figl: Einleitung, S. 65). Zur Etymologie siehe Johannes Fritsche: Art. Religiosität, in: HWPh 8 (1992), S. 774-780.
[3] Friedrich Schleiermacher: Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern. Berlin 1799,
S. 41f.; zum Religionsbegriff Schleiermachers siehe Feil: Religio IV, S. 756-801. Nach Schleiermacher begehre die Metaphysik, „das Universum seiner Natur nach zu bestimmen und zu erklären", während Moral wiederum danach strebe, „aus Kraft der Freiheit und der göttlichen Willkühr des Menschen es [das Universum; Anm. Verf.in] fortzubilden und fertig zu machen" (Schleiermacher: Über die Religion, S. 50). Denn Metaphysik und Moral „sehen im ganzen Universum nur den Menschen als Mittelpunkt aller Beziehungen, als Bedingung alles Seins und Ursach alles Werdens" (ebd., S. 51). Demgegenüber seien aber „Religion das Höchste [...] in der Philosophie, und [...] Metaphysik und Moral nur untergeordnete Abtheilungen von ihr" (ebd., S. 45).
[4] Ebd., S. 50. „Anschauen will sie das Universum, in seinen eigenen Darstellungen und Handlungen will sie es andächtig belauschen, von seinen unmittelbaren Einflüßen will sie sich in kindlicher Paßivität ergreifen und erfüllen laßen. So ist sie beiden in allem entgegengesetzt was ihr Wesen ausmacht, und in allem was ihre Wirkungen charakterisirt" (ebd., S. 50f.). So sei Religion in erster Linie ein Gefühl, das „bis ins Innerste eines jeden Individuums [dringen werde,] welches seine Atmosphäre athmet," (ebd., S. 134f.) und damit den Gegenstand individualisiere.
[5] Ebd., S. 144.
[6] Ebd., S. 240: „So viel sieht Jeder leicht, daß Niemand die Religion ganz haben kann; denn der Mensch ist endlich und die Religion ist unendlich." Die daraus folgende Vielfalt von Religionen schließe, so Schleiermacher, die Einheit von Religion nicht aus: „Alle sollen dennoch nur Eins sein, Ein Band umschließt sie Alle, und sie können nur gewaltsam und willkührlich getrennt werden" (ebd., S. 187). Die verschiedenen Gottesvorstellungen seien vielmehr nachrangige, individualisierte Konzepte im Gegensatz zu einem nicht-personalen, dem Menschen als Ganzes unergründlichen und unermesslichen Gottesbegriff.


sich hieraus ergebende Legitimierung einer Vielzahl von Religionen förderten die Verwendung im Sinne eines Hyperonyms und den Aufstieg der Religion zu einem disziplinär-wissenschaftlichen Leitbegriff.[1]

Mit der Entstehung und Institutionalisierung der Religionswissenschaften[2] sowie der alsbald einsetzenden Ausdifferenzierung der Religionsforschung in selbstständige Disziplinen (zum Beispiel Religionssoziologie, Religionsphänomenologie usw.) wurde die Beschäftigung mit der Frage nach einer adäquaten Definition des zum Oberbegriff avancierten und leitenden Terminus Religion unumgänglich. Dennoch blieben Versuche einer Begriffsbestimmung aufgrund einer Orientierung an christlich-theologischen Erkenntnisinteressen sowie am Kriterium der „Götterverehrung" eng abgesteckt.[3] Mit dem wachsenden Interesse religionswissenschaftlicher Studien für außereuropäische Forschungsfelder[4] wurde der Abschied von dem tradierten​
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[1] Das Konzept eines nicht-personalen, transzendentalen Wesens und die Erweiterung des Religionsbegriffs auf nicht-personale Transzendenzvorstellungen wurden von der vorwiegend christlich-theologisch bestimmten Religionsforschung erst um die Wende zum 20. Jahrhundert aufgenommen (Gregor Ahn: Gottesvorstellungen als Thema vergleichender Religionswissenschaft, in: Michael Strausberg [Hg.]: Religionswissenschaft. Berlin, Boston 2012, S. 169-181, hier S. 173f.; Kehrer: Religion, S. 421).
[2] Für einen kurzen geschichtlichen Überblick und eine (inter-)disziplinäre Verortung der Religionswissenschaft siehe Strausberg: Religionswissenschaft, S. 3-14; Sigurd Hjelde: Die Geburt der Religionswissenschaften aus dem Geist der Protestantischen Theologie, in: Friedrich Wilhelm Graf, Friedemann Voigt (Hg.): Religion(en) deuten. Transformationen der Religionsforschung. Berlin, New York 2010, S. 9-28.
[3] Feil: Bestimmungs- und Abgrenzungsproblematik, S. 12, 23; Ahn: Religion I, S. 513-516; Korsch: Religi
onsbegriff, S. 22f.
[4] Erste Ansätze zur Erforschung von Religionen außereuropäischer Ethnien und Kulturen finden sich bereits im 16. Jahrhundert durch vor Ort lebende christliche Missionare, die sich mit den jeweils vorgefundenen indigenen Glaubenskonzepten auseinandersetzten (Horst Bürkle: Art. Religion [III. Religionswissenschaftlich], in: LThK 8 [1999], Sp. 1039-1041, hier Sp. 1039).


theistischen Religionsverständnis letztlich unausweichlich, um nicht-theistische Vorstellungen, die sich auf nicht-göttliche Wesen wie etwa Geister, Ahnen oder apersonale transzendente Inhalte berufen, in einen universalen Religionsbegriff aufnehmen zu können.[1]

Für die Weiterentwicklung der Begriffe Religion sowie Politische Religion war das 20. Jahrhundert besonders prägend: Im Zusammenhang mit der steigenden Anwendung als Hyperonym setzten zu Beginn des Jahrhunderts erste kritische Auseinandersetzungen mit dem Religionsbegriff ein. Bis zum Ende des 20. Jahrhunderts durchlebte der Religionsbegriff mehrere wichtige Wendepunkte, die den heutigen Umgang mit dem Begriff und seinen Deutungsfeldern stark beeinflussten. Mittlerweile ist ein schier unübersichtliches Feld aus interdisziplinär motivierten Definitionsversuchen entstanden, dem jährlich neue Lösungsansätze hinzugefügt werden, ohne dass eine Überwindung dieser ausweglos anmutenden Aporie einer universal anwendbaren und anerkannten Begriffsbestimmung und eine Befreiung aus dem Zustand der Verwirrung in naher Zukunft erreichbar zu sein scheinen.[2]

Substantialistischer versus funktionalistischer Religionsbegriff

In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts haben sich in der Religionswissenschaft und in anderen kultur- oder sozialwissenschaftlichen Forschungsbereichen zwei Hauptströmungen einer Definition des Religionsbegriffs entwickelt, die bis zum Ende des Jahrhunderts vorherrschend waren und die religionswissenschaftliche Forschung noch heute in zwei voneinander divergierende Lager spalten: die substantialistische und die funktionalistische Religionsdefini- tion.[3]

Als substantialistisch (auch: substanzialistisch) oder essentiell werden jene Definitionsansätze bezeichnet, die nach einer allgemein anwendbaren, inhaltlichen Wesensbestimmung bzw. einem gemeinsamen Bezugsgegenstand von Religion fragen und diesen in inhaltliche Kriterien zu fassen versuchen. Das allgemeine Hauptziel ist die Formulierung wesentlicher Kennzeichen von Religion in einem Wesensbegriff und inhaltlicher Abgrenzungen zu nichtreligiösen Phänomenen. Innerhalb der heterogenen Ansätze um einen substantialistischen Religionsbegriff scheint zumindest die Annahme überwiegend unstrittig vertreten zu werden, dass es sich bei einer Religion um einen Bezug des Menschen zu bzw. dessen Auseinandersetzung mit außerweltlichen Realismen handelt, die inhaltlich zu bestimmen sind. Ein teilweise noch heute vertretener Ansatz definiert den Glauben an einen oder mehrere Götter als Wesenskern von​
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[1]In Folge einer theistischen Begriffsdefinition werden religiöse Konzepte per definitionem ausgeschlossen, die dem common sense nach unproblematisch der Kategorie Religion zugeordnet werden können. Exemplarisch würden bestimmte Strömungen des Buddhismus (z. B. der Theravada-Buddhismus) innerhalb einer theistischen Interpretation nicht als Religion gelten (Ahn: Religion I, S. 516-518; ders.: Gottesvorstellungen, S. 171-179).
[2]Bürkle: Religion, Sp. 1040f.; Feil: Bestimmungs- und Abgrenzungsproblematik, S. 7f., 17f.; ders.: Religion, Sp. 274-277. Bereits in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts erschienen religionswissenschaftliche Abhandlungen mit Überblicksdarstellungen zu den sehr heterogenen und interdisziplinär ausgerichteten Ansätzen einer Religionsdefinition (unter anderem James H. Leuba: A Psychological Study of Religion, its Origin, Function, and Future. New York 1912, Anhang S. 339-361; Richard Pauli: Das Wesen der Religion. München 1947, S. 103-138), die heute oftmals zur Untermauerung einer angenommenen faktischen Undefinier- barkeit von Religion herangezogen werden.
[3]In der Religionsforschung finden sich weitere Methodenansätze zur Bestimmung von Religion, die sich im weitesten Sinne auf diese zwei Hauptrichtungen reduzieren lassen und entweder einen Ansatz favorisieren oder eine Mischung beider Ansätze aufweisen, z. B. Hermeneutische Ansätze, Dimensionsforschung (für einen Überblick siehe Detlef Pollack: Was ist Religion? Probleme der Definition, in: Zeitschrift für Religionswissenschaft 3 [1995], S. 163-190, hier S. 167-182; ders.: Säkularisierung - ein moderner Mythos? Studien zum religiösen Wandel in Deutschland I. Tübingen 2003, S. 31-45; Figl: Einleitung, S. 65-71).


Religion. Doch durch die Beschäftigung mit außereuropäischen oder neueren Religionsformen wird schnell deutlich, dass die Anknüpfung an einen Gottesbegriff den Anwendungsbereich des Religionsbegriffs stark einengt und götterlose oder apersonale Religionskonzepte exkludiert werden. Dieser Verengungskritik am Gottesbezug folgend beziehen sich andere Religionswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler auf alternative Bestimmungen, die das Wesen der Reli- gion[1] etwa als Erleben und Glaube an personale Absolutheit(en) oder apersonale Inhalte wie das Heilige oder eine absolute Macht bestimmen.[2] Doch selbst bei einer Abstrahierung des außerempirischen Bezugsgegenstands als Transzendenz oder transzendentale Erfahrung bleibt das Problem einer nicht unstrittigen Einordnung einiger Glaubenskonzepte - wie etwa bestimmte frühe buddhistische Strömungen, der Konfuzianismus oder der Daoismus - in die Kategorie Religion bestehen.[3]

Die Fokussierung der unterschiedlichen Lösungsansätze substantialistischer Begriffsdeutungen auf eine inhaltliche Wesensbestimmung sowie auf den allgemein angenommenen Bezug des Menschen zu außerhalb der empirischen Ebene liegenden personalen oder apersonalen Vorstellungen wurde bereits im beginnenden 20. Jahrhundert seitens kultur- und sozialwissenschaftlich Studien zum Religionsbegriff kritisiert, die alternativ einen funktionalistischen Religionsbegriff einführten. Während substantialistische Ansätze nach einem universalen und instruktiven Wesensinhalt in Abgrenzung zu säkularen Bereichen streben, fragen funktionalistische Ansätze nach der Funktion von Religion.[4] Den klassischen Definitionsansatz lieferte 1912 der Soziologe Emile Durkheim (1858-1917):

„Eine Religion ist ein solidarisches System von Überzeugungen und Praktiken, die sich auf heilige, d. h. abgesonderte und verbotene Dinge, Überzeugungen und Praktiken beziehen, die in einer und derselben moralischen Gemeinschaft, die man Kirche nennt, alle vereint, die ihr angehö- ren."[5]

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[1] Siehe hierzu etwa das Forschungsfeld der Religionsphänomenologie, das sich explizit mit dem Wesen von Religion auseinandersetzt und als dessen erster Vertreter der evangelische Theologe Rudolf Otto (1869-1937) gilt (Kehrer: Religion, S. 423f.).
[2] Setzte der Anthropologe Sir Edward Burnett Tylor (1832-1917) den Religionsbegriff noch in eine enge Be
ziehung zum „Glaube[n] an geistige Wesen" (Figl: Einleitung, S. 66) und damit zu einer personalen Transzendenz wie etwa Gott bzw. Götter, Geister oder Ahnen, lockerte sich dieses enge Verständnis von Religion allmählich, indem nunmehr die Erfahrung des Menschen mit einer transzendenten (unpersonalen) Macht (etwa Gerardus van der Leeuw) oder dem Heiligen (z. B. Rudolf Otto, Nathan Söderblom und Gustav Men- sching) zur Grundlage von Religion erklärt wurde (siehe ebd., S. 65-67). Zu den unterschiedlichen Ansätzen siehe unter anderem Klaus Hock: Einführung in die Religionswissenschaft. Darmstadt 2002, S. 15f.; Bürkle: Religion, Sp. 1039-1041; Korsch: Religionsbegriff, S. 15-17.
[3] Hock: Einführung, S. 16; in Bezug auf Vernunft siehe auch Korsch: Religionsbegriff, S. 16f. Ein Rückgriff auf den Begriff des Heiligen löst die grundlegende Problematik eines personalen Gottesbegriffs nicht, da es sich auch bei diesem Terminus um eine subjekt- und kontextabhängige Zuordnung handelt, die religiöse Randphänomene exkludiert und zusätzlich zu einer unscharfen Abgrenzung zwischen sakraler und profaner Ebene führt. So kann z. B. ein und derselbe Gegenstand in einem Handlungszusammenhang als heilig verehrt und in einem anderen als ein profaner Gebrauchsgegenstand betrachtet werden. Zu ähnlichen Problemen führt der inhaltsarme Begriff der Transzendenz, der zu einer sehr weiten Gegenstandserfassung führt, da sich auch nicht-religiöse Bereiche (z. B. Philosophie, Kunst) mit Kategorien wie dem Übersinnlichen oder Absoluten beschäftigen (Detlef Pollack: Rückkehr des Religiösen? Studien zum religiösen Wandel in Deutschland und Europa II. Tübingen 2009, S. 62f.; ders.: Säkularisierung, S. 33-36).
[4] Vgl. hierzu die prägnante Definition bei Gustav Kehrer: „Substantielle Definitionen sagen, was Religion ist, funktionalistische Definitionen sagen, was Religion leistet" (Kehrer: Religion, S. 422).
[5] Emile Durkheim: Die elementaren Formen des religiösen Lebens. Übersetzt v. Ludwig Schmidts. Frankfurt am Main 1981, S. 75. Die Verwendung des Begriffs Kirche könnte der Anschein erwecken, Durkheims Definition richte sich allein an die christliche Religion. Allerdings verwendet er den Begriff Kirche nicht exklusiv für christliche Institutionen, sondern versteht hierunter „eine Gesellschaft, deren Mitglieder vereint sind, weil sie sich die heilige Welt und ihre Beziehungen mit der profanen Welt auf die gleiche Weise vorstellen und diese Vorstellungen in gleiche Praktiken übersetzen" (ebd., S. 71).


Statt nach einem gemeinsamen Bezugsgegenstand zu fragen, wird Religion über ihre soziale Funktion als gemeinschaftsbildendes und -erhaltendes System definiert und ferner zwischen heiligen und profanen Bereichen unterschieden.[1] Als Gemeinschaft zusammengeschlossen, erfahre der Mensch den Mehrwert dieser Verbindung, eine kollektive „Efferveszenz"[2], die nach Durkheim Voraussetzung für die Entstehung religiöser Glaubensvorstellungen sei. Durch kollektive Erregungszustände sei es den Einzelnen möglich, aus ihren individuellen Existenzweisen heraus und in unmittelbare Wechselbeziehungen zueinander zu treten. Denn erst in der gemeinschaftlichen Verbundenheit und Einheit werde der „nötige[] Intensitätsgrad" erreicht, um das „religiöse Denken [zu] erweck[en]" und die Bildung kollektiver Ideale zu ermöglichen, die zusammengefasst in dem Bild einer idealisierten Welt der real existierenden Welt des Profanen gegenübergestellt würden.[3]

Die funktionale Interpretationsmethode Durkheims wurde unter anderem in den 1970ern von dem Soziologen Thomas Luckmann vertieft, der „den Menschen als religiöses Wesen" - als homo religiosus - und Religion als konstitutives Merkmal des Menschen in Abgrenzung zu anderen Lebewesen definierte.[4] Die Prozesse der Sozialisierung und Historisierung seien nach Luckmann die essentiellen Grundvoraussetzungen der Menschwerdung, denn erst im Zuge gesellschaftlicher Interaktion und der Produktion von Geschichte transzendiere[5] der Mensch seine biologische Verfassung und werde so zum Menschen.[6] Folglich seien als Religion jene Prozesse zu definieren, „in denen Menschen Menschen werden," was nach Luckmann gleichzeitig bedeute, dass es keine Gesellschaft ohne Religion geben könne.[7] Neben der

Schaffung eines sozialen Zusammenhalts wird häufig auf weitere Funktionen von Religion wie etwa Kontingenzreduktion bzw. -bewältigung, Sinnstiftung oder Kommunikation verwiesen.[8]
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[1]Durkheim führte - innerhalb des soziologischen Diskurses zu Religion - die Unterscheidung zwischen profan und heilig ein (Durkheim: Die elementaren Formen, S. 62-68), die noch heute einen maßgeblichen Grundpfeiler vieler substantialistischer sowie funktionalistischer Versuche einer Religionsdefinition bildet. Ausführlicher zu Durkheims Religionssoziologie siehe W.S.F. Pickering: Durkheim's Sociology of Religion. London 1984; Gert Pickel: Religionssoziologie. Eine Einführung in zentrale Themenbereiche. Wiesbaden 2011, S. 75-87. In Anlehnung an die von Durkheim eingeführte Dichotomie heilig-profan heißt es bei Mircea Eliade: „Die erste Definition des Heiligen ist, daß es den Gegensatz zum Profanen bildet" (Mircea Eliade: Das Heilige und das Profane. Stuttgart 1957, S. 8).
[2]Der Begriff findet sich im frz. Original. In der hier verwendeten deutschen Fassung wird dieser unter anderem mit „kollektiver Erregung" (Durkheim: Die elementaren Formen, S. 300, 488), „kollektiven Wallung" (ebd., S. 310) oder „Gärungszustand" (ebd., S. 565) übersetzt.
[3]Ebd., S. 564-567, Zitate S. 565. Demzufolge deutet Durkheim „die systematische Idealisierung [als] ein[en] Wesenszug der Religionen" (ebd., S. 564).
[4]Thomas Luckmann: Religion in der modernen Gesellschaft, in: Willi Oelmüller et al. (Hg.): Diskurs: Religion (= Philosophische Arbeitsbücher, 3). Paderborn (u. a.) 1979, S. 267-280, S. 270: „Sozialisierung als religiösen Prozeß zu verstehen, heißt, den Menschen als religiöses Wesen zu definieren."
[5]Transzendenz nach Luckmann sei die Erfahrung des Menschen um seiner individuellen Grenzen, wobei phänomenologisch zwischen kleineren (Überwindung räumlicher und zeitlicher Grenzen), mittleren und großen Transzendenzen (außeralltägliche, nicht erfahrbare Wirklichkeit) unterschieden werden müsse (Thomas Luckmann: Die unsichtbare Religion. Frankfurt am Main 1991 [1967], S. 167f.).
[6]Luckmann: Religion, S. 270: „Das instinkt-arme, biologisch etwas labile Tier, [...] wird nicht im Einzelfall, sondern in seiner Sozialität zum Menschen. Seine Sozialität ist immer eine historische. Anders gesagt, der Organismus ,Mensch' transzendiert seine biologische Verfassung, weil ihm Gesellschaft aufgezwungen ist und indem er Geschichte produziert."
[7]Ebd.: „Ferner heißt das, und diese Konsequenz muß hervorgehoben werden, daß es keine Gesellschaft ohne Religion, d. h. ohne irgendwelche Prozesse, in denen Menschen Menschen werden, geben kann."
[8] Unter anderem deutet Luckmann Religion als ein gesellschaftlich objektiviertes Sinnsystem, genauer als „symbolische Universa", die sich einerseits auf die Alltagswelt bezieht und andererseits - im Gegensatz zu anderen Sinnsystemen wie etwa politischer Natur - einen transzendenten Bezugspunkt beinhaltet (Luck- mann: unsichtbare Religion, S. 80). Die Interpretation von Religion als Kommunikation findet man bspw. in den Schriften des Soziologen Niklas Luhmann (1927-1998), dessen Ansicht nach, „im Kontext einer soziologischen Theorie, Religion ausschließlich als kommunikatives Geschehen auf[zu]fassen [ist]" (Niklas Luh- mann: Die Religion der Gesellschaft. Hrsg. v. Andre Kießling. Frankfurt am Main 2000, S. 40). In Anlehnung an Durkheims Trennung zwischen profan und heilig „kann es [nie] einen gesellschaftlichen Zustand gegeben haben, in dem jede Kommunikation religiöse Kommunikation gewesen ist" (ebd., S. 187; siehe zu Luhmann auch Volker Krech: Religion als Kommunikation, in: Michael Strausberg [Hg.]: Religionswissenschaft. Berlin, Boston 2012, S. 49-63; Christoph Kleine: Zur Universalität der Unterscheidung religiös / säkular: Eine systemtheoretische Betrachtung, in: Michael Strausberg [Hg.]: Religionswissenschaft. Berlin, Boston 2012, S. 65-80; Pickel: Religionssoziologie, S. 122-131). In enger Anlehnung an Luhmann definiert der Religionshistoriker Christoph Kleine Religion als ein soziales System, „dessen Kommunikation sich an der Leitunterscheidung Transzendenz/Immanenz ausrichtet" (Kleine: Universalität, S. 68 [Hervorhebung im Original]). Hierbei sei es unerheblich, welche inhaltliche Bestimmung dieser Transzendenz zukomme, die er als den „unbestimmbaren Bereich der Unverfügbarkeit" (ebd., S. 69), die Erfahrung von Kontingenz und Erkenntnis von Unverfügbaren (bspw. der Zukunft, der Nachtodfrage) charakterisiert. Maßgeblich für eine Kategorisierung als Religion seien vielmehr die zentrale Thematisierung und Kommunikation der Divergenz zwischen Immanenz und Transzendenz und eines Selbstanspruchs der Bestimmbarkeit des Unbestimmbaren (ebd., S. 68-71).


Allerdings sind auch funktionalistische Ansätze nicht vor Kritik gefeit und lösen das scheinbar ausweglose Problem einer begrifflichen Bestimmung von Religion nicht. Durch eine funktionalistische Definition wird der Erfassungsbereich der Kategorie Religion stark ausgeweitet und kulturelle, soziale sowie politische Realitäten in den begrifflichen Interpretationsrahmen einbezogen, die dem allgemeinen Verständnis nach eigentlich dem menschlich-weltlichen Bereich zuzuordnen sind. Sie beschreiben Zusammenhänge, die sowohl in sakralen, aber auch in profanen Kontexten zu finden sind und dadurch die Grenzen zwischen Religion und Nicht-Religion verschwimmen lassen.[1] Zudem wird aufgrund des extensiven Erfassungsfelds die religiöse Eigenperspektive vernachlässigt bzw. übergangen, wenn mitunter religiöse, weltanschauliche oder politische Gruppierungen erfasst werden, deren Angehörige im Selbstverständnis eine Einordnung als Religion ablehnen. Im Umkehrschluss würde eine definitorische Schwerpunktsetzung auf funktionale Merkmale bedeuten, dass eine (traditionelle) Religion ihren religiösen Charakter auch verlieren kann, wenn sie die ihr auferlegte Funktion nicht mehr erfüllt.[2] Ferner wird die Möglichkeit eines rein funktionalistischen Religionsbegriffs

hinterfragt und darauf hingewiesen, dass funktionalistische Definitionsansätze weiterhin substantielle Zuschreibungen verwenden, die zwar nicht näher bestimmt werden, implizit aber einen substantialistischen Religionsbegriff voraussetzen.[3] Um die Unbestimmtheit funktionaler Definitionen zu korrigieren sowie den Religionsbegriff zu konkretisieren und eine Einseitigkeit der Begriffsbestimmung zu vermeiden, schlagen einige Religionsforschende eine Kombination​
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[1] So werden bspw. Sinn und Orientierungsmuster zur Kontingenzbewältigung sowohl vermittels Religionen wie auch in philosophischen, politischen oder gesellschaftlichen Seins- und Weltanschauungskonzepten angeboten (Ahn: Religion I, S. 519). In der Kritik an der fast uneingeschränkten Extension des Religionsverständnisses wird oft darauf verwiesen, dass mit einem funktionalistischen Ansatz sogar Sport als Religion betrachten werden kann (siehe hierzu Thomas Schmidt-Lux: Fans und Religion, in: Jochen Roose et al. [Hg.]: Fans. Soziologische Perspektiven [= Erlebniswelten, 17]. Wiesbaden 2010, S. 281-308; Lincoln Harvey: A Brief Theology of Sport. Norwich 2014). Vor allem im Fußballsport werden zunehmend Wörter aus dem sakralen Kontext verwendet und der Sport selbst teilweise von Fans als Religion wahrgenommen und bezeichnet: so etwa mit Aussagen und Begriffen wie „Fußball ist meine Religion, das Stadion meine Kirche", „Heiliger Rasen" oder „Fußball-Gott". In Deutschland bieten bereits mehrere Fußball-Vereine (unter anderem HSV, FC Schalke) Grabstätten auf einem vereinseigenen Friedhof, die meist in unmittelbarer Nähe zum Vereinsstadion liegen, oder auf speziellen Fan-Feldern, die auf oder neben bereits existierenden Friedhöfen errichtet werden, an (siehe hierauf Bezug nehmend den Aufsatz von Mike S. Schäfer und Mathias Schäfer Abseits-Religion. Fußball als Religionsersatz?, der auf dem Internetportal für Sozialwissenschaftliche Fußballforschung veröffentlicht wurde: https://cms.zhb.tu-dortmund.de/wilkesmann/fussball/kultur.htm [letzter Zugriff: 10.01.2023]).
[2] Pollack: Säkularisierung, S. 42f.
[3] Figl: Einleitung, S. 75.


von substantialistischer und funktionalistischer Methode vor. Leitend ist hier der Gedanke aus der Dimensionsforschung,[1] den Religionsbegriff nicht auf ein Charakteristikum zu reduzieren, sondern eine Vielzahl von Merkmalen als konstitutiv für Religion zu benennen.[2]