1.1.2. 18. Jahrhundert
Die Verwendung der biblischen Geschichte um König Jerobeam I. als Beispiel für eine Politische Religion lässt sich auch in Schriften des 18. und 19. Jahrhunderts aufspüren: Der deutsche Theologe und Vertreter des lutherischen Pietismus Magnus Friedrich Roos (17271803) nutzte den Begriff Politische Religion 1770 in seiner Schrift Fußstapfen des Glaubens Abrahams. Die Religionspolitik des ersten Königs des Nordreichs Israels, Jerobeam I., beschreibt Ross als vollständig am König und dem Königreich orientiert sowie jedwede Gottesehrfurcht und -frömmigkeit vergessend, so dass „nach dem Königreich [...] sich der
Gottesdienst richten [musste], und nicht (wie es seyn soll) das Königsreich nach dem Gottesdienst." Daraus folgert Roos:
„Hier kan man also das Bild einer politischen Religion sehen. Einer Religion, bey deren man dem Staat zu gefallen, Gebote GOttes auflöset, Geheimnisse wegläßt, und das Uebrige, das man bey- behält, bey herrschenden Sünden ohne Geist und Kraft, ohne Licht und Leben forttreibt."[1]
[HR=3][/HR]
[1] Magnus Friedrich Roos: Fußstapfen des Glaubens Abrahams in den Lebens-Beschreibungen des Patriarchen und Propheten aus den Schriften des Alten Testaments. Erstes Stük. Tübingen 1770, S. 830: „Der Priester Amazia redete von seinem Herzen weg, da er das Stift zu Bethel des Königs Stift, und des Königreichs Haus nante. Warum nante er es nicht GOttes Stift, und GOttes Haus? Darum weil der König sein Gott, und das Königreich sein Himmel war. Nach des Königs Willen und Gutdünken war alles eingerichtet. Auf den König sahe man. Mit dem König drohete man. Nach dem Königreich mußte sich der Gottesdienst richten, und nicht (wie es seyn soll) das Königsreich nach dem Gottesdienst. Hier kan man also das Bild einer politischen Religion sehen. Einer Religion, bey deren man dem Staat zu gefallen, Gebote GOttes auflöset, Geheimnisse wegläßt, und das Uebrige, das man beybehält, bey herrschenden Sünden ohne Geist und Kraft, ohne Licht und Leben forttreibt."
Dass Jerobeam I. seinem Volk eine andere Religion gestiftet hat, um der Gefahr einer Abwanderung seines Volkes nach Jerusalem zu entgehen, wo sich bis zur Teilung Israels nach Salomons Tod das kulturelle Zentrum des israelischen Volkes befunden habe, wird auch von Roos als Merkmal einer Politischen Religion gewertet, deren Endziel stets weltlicher Natur sei, während dem wahren Wort Gottes gegenüber die Sinne verschlossen werden. Im weiteren Verlauf hebt Roos die Toleranz als wesentliches Merkmal der Religionspolitik Jerobeams zur Unterscheidung von der „Religion der Zidonier"[1] hervor; eine Toleranzpolitik gegenüber anderen Religionssystemen als der ursprünglichen Religion des Königs, die das Königreich Jerobe- ams - nach Meinung Roos' - letztendlich zu Fall gebracht habe.
Dieser Interpretationslinie folgend verwendete auch August Hermann Niemeyer (17541828) den Begriff Politische Religion im letzten Teil seiner fünfbändigen Charakteristick der Bibel, worin sich der deutsche Schriftsteller und evangelische Theologe unter anderem auch der biblischen Überlieferung um Jerobeam I. zuwandte. Hierbei urteilt Niemeyer, dass „etwas andres [...] wohl die eigne Religion Jerobeams nicht seyn [möchte], als - Politik." Etwa durch das eigene Eingreifen in religiöse Angelegenheiten habe Jerobeam I. gezeigt, dass er „auch das höchste Recht in Religionssachen habe."[2] Ähnlich Roos umschreibt auch Niemeyer die Toleranz als einen fundamentalen Wesenszug der Religionspolitik des nordisraelischen Königs, der ihm bereits unter der Regierung Salomons „die Liebe des Volks erwarb" und ihn für den „Charakter der Israeliten", seinen zukünftigen Untertanen, zugänglich gemacht habe.
„Bey einer solchen politischen Religion bleibt wohl etwas von früheren Eindrücken zurück, und wird besonders zu Zeiten der Leiden lebhafter und stärker."[3]
Mit diesen „früheren Eindrücken" sind vermutlich Elemente der vormaligen Religion gemeint, auf die in Zeiten von Leid und großer Not zurückgegriffen werde, da der Politischen Religion nicht die notwendige Glaubensstärke für Hoffnung und Wunder immanent sei. Niemeyer spielt in dieser Passage auf die biblische Erzählung über den Besuch der Ehefrau Jerobeams I. beim Propheten Ahija von Schilo an, welcher als Gegner der vermeintlich synkretistischen Religionspolitik König Salomons den zum König des Nordreich Israels designierten Jerobeam förderte und auf die Einhaltung der Zehn Gebote JHWHs verpflichtete.[4] Als ihr gemeinsamer Sohn Abija erkrankte, suchte Jerobeams Frau den Propheten auf zur Erkundigung über den weiteren Krankheitsverlauf in Hoffnung einer möglichen Genesung, erhielt jedoch die Botschaft an ihren Mann, dass der König durch die Etablierung eines Götzendienstes während seiner Regentschaft gegen seinen Schwur verstoßen und damit JHWHs Gunst verloren habe.[5] Im Vergleich zu Roos, der die Semantik des Begriffs Politische Religion in seiner Schrift etwas näher erläutert,
[HR=3][/HR]
[1] Ebd., S. 831.
[2] August Hermann Niemeyer: Charakteristick der Bibel. Fünfter Theil. Prag 1786, S. 125.
[3] Ebd., S. 125: „Bey einer solchen politischen Religion bleibt wohl etwas von früheren Eindrücken zurück, und wird besonders zu Zeiten der Leiden lebhafter und stärker. Als sein Sohn todtkrank liegt, läßt auch er seine Gemahlinn unter fremden Namen den Propheten befragen; aber wir wissen schon, wie unsicher der Schluß von solcher scheinbaren vorübergehenden Ehrfurcht vor einem Diener der Religion in einem einzelnen Falle, auf die ganze Denkungsart des Mannes ist."
[4] Vgl. hierzu 1. Könige 11.26-39.
[5] Vgl. hierzu 1. Könige 14.1-16.
streut August Hermann Niemeyer den Begriff in seinen Ausführungen beiläufig ein, so dass dessen Bedeutung wesentlich mehr aus dem textlichen Umfeld der Schrift erschlossen werden muss.
Die bereits im 17. Jahrhundert von Dannhauer und Rango erwähnten Sadduzäer, eine Gruppe des israelischen Judentums während der Zeit des Zweiten Tempels in Jerusalem, aus der vermutlich auch Hohepriester des Jerusalemer Tempels hervorgingen, wurden auch von Johann Heinrich Daniel Moldenhawer (1709-1790) in seinen Gründlichen Erläuterungen der Heiligen Bücher thematisiert. Der evangelische Theologe untersucht und deutet in dieser Schrift verschiedene Abschnitte der Bibel und wendet sich unter anderem dem Evangelium des Markus zu, worin in Mk. 8.15 von Jesus Warnung an seine Jünger vor dem Sauerteig der Pharisäer und Herodianer berichtet wird. Im weiteren Verlauf verweist Moldenhawer auf eine signifikante Abweichung im Matthäusevangelium, das ansonsten große Ähnlichkeiten zum Mar- kusevangelium aufweise: In Mt. 16.6 werden die Jünger nicht vor den Herodianern, sondern vor der Lehre der Sadduzäer gewarnt.
Ähnlich wie Rango unterstellt auch Moldenhawer den Sadduzäern explizit, keine wahre, sondern „nur eine politische Religion" betrieben zu haben:
„Denn da sie [die Sadduzäer; Anm. Verf.in] geglaubt, daß es mit dem Menschen nach dem Tode auf ewig aus sey, so ist ihre Religion keine wahre, sondern nur eine politische Religion gewesen, und daß Herodes Antipas ihm aus der wahren Religion nichts gemacht habe, erhellet zur Genüge daraus, daß er, nach geschehener Verstoßung seiner Gemahlinn, die Gemahlinn seines noch lebenden Bruders zur Ehe genommen, und darüber, und noch dazu unter dem Deckmantel eines Eides, den Johannem getödtet hat."[1]
Da die Lehre der Sadduzäer keine Elemente eines Glaubens an ein Leben nach dem Tod beinhalte, könne aufgrund des fehlenden Jenseitsglaubens nicht von einer wahren Religion gesprochen werden. Das gesamte religiöse Handeln sei damit lediglich auf das diesseitige Leben ausgerichtet, womit der Religion ein vordergründig politischer Charakter anhafte. Politisch bezeichnet in diesem Fall eine Fokussierung auf das Weltliche in seiner Gesamtheit statt - wie bei vielen anderen Autoren zu beobachten ist - eine semantische Schwerpunktsetzung auf (staats-)politische Fragen. Neben den Sadduzäern erwähnt Moldenhawer den galiläischen Tetrarch Herodes Antipas (20 v. Chr.-39 n. Chr.), welcher wiederum zu jenen Herodianern zu zählen ist, die im Markusevangelium anstelle der Sadduzäer genannt werden. Dennoch wird im gesamten Werk nur die Religion der Sadduzäer von Moldenhawer an dieser einen zitierten Stelle expressis verbis als Politische Religion charakterisiert; eine analoge Charakterisierung anderer Religionssysteme wird von Moldenhawer ohne Verwendung des Begriffs Politische Religion höchstens angedeutet.
Der deutsche Philosoph und Theologe Johann August Eberhard (1749-1809) wandte den Begriff zur Charakterisierung des Judentums zu der Zeit Jesu Christi in seiner 1772 veröffentlichten Neuen Apologie des Sokrates an,[2] einer Kritikschrift gegen die orthodoxe Theologie
[HR=3][/HR]
[1] Johann Heinrich Daniel Moldenhawer: Gründliche Erläuterung der Heiligen Bücher. Neues Testaments. Vierter und letzter Theil. Leipzig 1770, S. 544.
[2] Eberhard studierte Theologie, Philosophie und klassische Philologie an der Universität in Halle und wurde dort 1778 als Professor für Philosophie berufen. Eberhard war ein Vertreter der Ideen der Natürlichen Theologie und kritisierte verschiedene Dogmen der orthodoxen Theologie. Der Begriff Politische Religion erfreute sich unter den Lehrenden der Universität in Halle insbesondere im 18. Jahrhundert einer auffallenden Popularität, wie auch anhand weiteren Quellenmaterials nachfolgend gezeigt wird.
Die Schrift Neue Apologie des Sokrates wurde von Eberhard erstmals 1772 veröffentlicht und bereits ein Jahr später neu aufgelegt. 1776 veröffentlichte Eberhard eine überarbeitete und erweiterte Auflage der Neuen Apologie des Sokrates, die aufgrund der angewachsenen Inhaltsfülle in zwei Teilen erschien. Für die Untersuchung von Interesse ist der zweite Teil der erweiterten Neuauflage, der erst 1778 veröffentlicht wurde; Johann August Eberhard: Neue Apologie des Sokrates, oder Untersuchung der Lehre der Seeligkeit der Heiden. Zweyter Band. Berlin, Stettin 1778.
und gleichzeitig eine Zugrundelegung seiner Rationaltheologie. Im Kontext der Frage, „wie eine der Menschheit so tröstliche, aber für den Nationalstolz der bisher begünstigten Nation so bemüthigende Lehre"[1] wie das Christentum erfolgreich innerhalb der jüdischen Bevölkerungsschicht verbreitet werden könne, sei Jesus Christus zur Auffassung gelangt, dass eine religiöse Aufklärung von Juden einzig durch das Medium möglich sei, das in ihrer Religionsgemeinschaft hauptsächlich zum Erkenntnisgewinn in Religionsfragen herangezogen werde: heilige Bücher. Daraus hätten Jesus Christus bzw. seine Apostel die Überzeugung gewonnen:
„Es war daher nicht genug, überhaupt zu beweisen, daß eine politische Religion weder allgemein noch immerdauernd seyn könne. Man mußte es ihnen [den Juden; Anm. Verf.in] in ihren heiligen Büchern zeigen."[2]
Entgegen der später erschienen Schrift wird der Begriff in diesem Werk Eberhards nicht erläutert, womit eine Begriffsdeutung in diesem Ausschnitt erschwert wird. Dass der Begriff eine Religion definiert, deren äußere bzw. weltliche Elemente eine tragende oder gar charakterisierende Rolle einnehmen, wird durch den Inhalt des textlichen Umfelds indiziert.
In seiner für den akademischen Gebrauch erarbeiteten Allgemeinen Geschichte der Philosophie warf Eberhard rund zehn Jahre später den Begriff gleichfalls beiläufig ein, ohne sein Begriffsverständnis oder seine Motivation zur Begriffsverwendung den Lesenden näher zu bringen, die er in seiner Sittenlehre der Vernunft wenige Jahre zuvor erarbeitet hatte, doch setzte er in diesem Fall den Begriff Politische Religion in einen Zusammenhang mit polytheistischen bzw. „heidnischen Religionen".[3] Innerhalb seiner knappen Ausführungen unter dem Titel Verschiedene Anwendungen der Plantonischen Philosophie kommt Eberhard auf die zuvor bereits beleuchtete „neue Philosophie" zu sprechen, welche durch „eine Vereinigung der Pythagorischen und Platonischen" im dritten Jahrhundert nach Christus entstanden ist.[4] Diese „Pythagorisch-Platonische Philosophie"[5] habe sich sukzessive ausgebreitet und unter anderem einen maßgeblichen Einfluss auf die religiöse Ebene der einzelnen Nationen ausgeübt.
„Durch die immer zunehmende Vermischung der Nationen unter einander waren sie sowol mit ihren verschiedenen Religionen als auch mit ihren verschiedenen Religionssystemen bekannt geworden, und die heidnischen Religionen hatten gröstentheils aufgehöret sich als politische Religionen von einander zu unterscheiden."[6]
[HR=3][/HR]
[1] Ebd., S. 228: „Eine der Menschheit so tröstliche, aber für den Nationalstolz der bisher begünstigten Nation so bemüthigende Lehre, wie konnte die dem Juden an das Herz gebracht werden?"
[2] Ebd., S. 229.
[3] Johann August Eberhard: Allgemeine Geschichte der Philosophie zum Gebrauch academischer Vorlesungen.
Halle 1788, S. 202.
[4] Eberhard rekurriert an dieser Stelle auf den etwa Mitte des dritten Jahrhunderts entstandenen Neuplatonismus, der sich zur dominanten philosophischen Richtung in der Spätantike entwickelte und sogar Anhänger unter bekennenden Christen fand. Nach Eberhard wird der Neuplatonismus gekennzeichnet durch das Bestreben, „diejenigen Lehren, die Plato in Mythen vorgetragen hatte, als eigentliche Lehren seines philosophischen Systems" zu interpretieren (ebd., S. 201); zugleich war die Auffassung einer Übereinstimmung Platons mit der pythagoreischen Lehre verbreitet.
[5] Ebd., S. 201.
[6] Ebd., S. 202.
Zieht man für die Analyse dieser Textstelle die zuvor präsentierte Definition des Begriffs Politische Religion Eberhards hinzu, ergibt sich auch hier eine bleibende Sinnhaftigkeit des Zitats bei einer Übertragung des Begriffsverständnisses aus der Sittenlehre der Vernunft. Die Politischen Religionen der „heidnischen Religionen" sind, der Semantik Eberhards folgend, als bloße Handlungen des äußeren Gottesdienstes zu verstehen, die nicht im Einklang mit einer inneren Religion stehen und dementsprechend nicht zur Vervollkommnung des Glaubens an Gott bzw. an ein göttliches Wesen vollzogen werden. Der Hauptbezugspunkt religiöser Handlungen heidnischer Religionen liege in der Befriedigung weltlicher, diesseitsbezogener Bedürfnisse. Eberhard kritisiert mit dem negativ konnotierten Begriff Politische Religion die von der inneren Religion abgerückte, folglich sinnentfremdete Teilnahme an oder gar Durchführung von zeremoniellen oder rituellen Handlungen als Bestandteile der Liturgie aus weltlichen oder opportunistischen Beweggründen heraus, ohne die Verherrlichung Gottes im wahren Dienst am Glauben zu verfolgen bzw. anzustreben.
In dem wenige Jahre vor seinem Tod erschienenen dreibändigen Geist des Urchristen- thums greift Eberhard den Begriff Politische Religion erneut an mehreren Stellen bzw. innerhalb mehrerer „Abendgespräche" in seiner gewohnten Lesart auf. Im ersten Band einen Auszug aus dem Brief des Paulus an die Epheser zitierend versieht Eberhard einige Stellen mit eigenen, in Klammern stehenden Kommentierungen zur Untermauerung seiner These, dass sich die „Vereinigung der Reinigkeit und Klarheit aus dem griechischen Sinne mit der Salbung und Kraft aus dem morgenländischen Gefühle" als Hauptcharakterzug im Christentum manifestiere:
„,Er ist unser Friede, der aus beyden' (den morgenländischen Juden und den griechischen Heiden) ,Eins gemacht hat, und hat abgebrochen den Zaun, der dazwischen war, daß er durch sein Fleisch wegnahm die Feindschaft, nämlich das Gesetz' (die politische Religion der Juden) ,so in Geboten gestellet war; auf daß er aus Zween Einen neuen Menschen' (die unsinnliche Religion, die als Volksreligion zuerst in dem Christenthum erschien) ,und Friede machte.'"[1]
Eberhard kehrt damit zu seiner bereits 1778 postulierten Politischen Religion des Judentums zurück. Diese „politische Religion der Juden"[2] begegnet der Leserschaft gleichfalls im dritten Teil seines Geistes des Urchristenthums, allerdings erfährt das Verwendungsfeld in dieser Publikation wiederum die bereits beobachtete Erweiterung auf andere nichtchristliche Glaubenskonzepte. Die „griechische Volksreligion"[3] beschreibt Eberhard als eine „öffentliche[], bloß politische[] Religion", welche durch den Einfluss der neuplatonischen Schule aus ihrer Verdammnis der Äußerlichkeit befreit „einen innern Werth"[4] erhalten habe. Im weiteren Verlauf gelangt Eberhard am Neun und siebzigsten Abend zu seinen Ausführungen über die Ausartung des Urchristenthums, dessen Geist vollkommen aus der christlichen Kirchen gewichen, weil „das Christenthum völlig eine sinnliche und politische Religion geworden"[5] sei. Die Politik und
[HR=3][/HR]
[1] Johann August Eberhard: Der Geist des Urchristenthums. Ein Handbuch der Geschichte der philosophischen
Cultur für gebildete Leser aus allen Ständen in Abendgesprächen. Erster Theil. Halle 1807, Siebenter Abend, S. 92.
[2] Johann August Eberhard: Der Geist des Urchristenthums. Ein Handbuch der Geschichte der philosophischen
Cultur für gebildete Leser aus allen Ständen in Abendgesprächen. Dritter und letzter Theil. Halle 1808, Ein und siebzigster Abend, S. 84: „Durch das morgenländische Gefühl, das es in sich aufnahm, verbannete es in gleichem Maaße die spitzfindigen Spekulazionen der griechischen Philosophen, die wir kennen gelernt haben, und die sinnliche und mechanische, so wie die politische Religion der Juden, durch den griechischen Sinn aber die Grübeleyen ihrer Kabbalisten und die Schwärmereven des Orients."
[3] Ebd., Sieben und siebzigster Abend, S. 211.
[4] Ebd. S. 212 [Hervorhebung im Original]: „Die neuplatonische Schule gab dieser öffentlichen, bloß politischen Religion einen andern, ganz neuen Werth; sie gab ihr einen innern Werth."
[5] Ebd., Neun und siebzigster Abend, S. 268 [Hervorhebung im Original]: „Der Geist des Urchristenthums war ganz aus der Kirche gewichen, dadurch, daß das Christenthum völlig eine sinnliche und politische Religion geworden, welche beyde sich immer gegenseitig die Hände boten."
damit die Politische Religion des Christentums wertet Eberhard als verderblicher als die Politik der heidnischen Religionen, indem „die Kirche nicht dem Staate, sondern der Staat der Kirche untergeordnet"[1] wäre. Das bereits in seinen früheren Schriften enthaltene Verständnis des Begriffs Politische Religion als eine Form der religio externa hat Eberhard bis kurz vor seinem Tod beibehalten.
Alle drei in diesem Abschnitt zitierten Fundstellen aus Eberhards Schriften zeigen, dass er den Begriff Politische Religion nicht als einer bestimmten Religionen vorbehalten, sondern als eine sowohl auf die „heidnischen als jüdischen und christlichen Religion[en]"[2] anwendbare Terminologie versteht; unterstrichen wird diese Annahme durch die Pluralisierung der Politischen Religion im zweiten Zitat. Im Gegensatz zu den zuvor untersuchten Fundstellen dieses Teilabschnitts, die den Begriff auf bestimmte Personen oder Gruppierungen der jüdischen Religionsgeschichte rekurrieren, stigmatisiert Eberhard das Judentum in seiner Gesamtheit als Politische Religion und erweitert damit den Anwendungskontext des Begriffs.
Diese Ausweitung des Verwendungsfeldes der Politischen Religion auf die gesamte jüdische Glaubensgemeinschaft findet sich gleichfalls in der Schrift Ueber die kirchliche Ge- nugthuungslehre (1796) des evangelischen Theologen Josias Friedrich Christian Löffler (17521816). Der eigenen Aussage, dass „Christus die christliche Gemeine durch sein Blut gleichsam gereinigt habe"[3], tiefergehende Beachtung schenkend und dabei die vermeintlich in der jüdischen Religion verwurzelten Symbolik von Blut als Mittel der Reinigung erwähnend, spricht Löffler von der „mosaische[n] politische[n] Religion", auf der sich die „Vorstellung und Sprache der Juden und der Apostel"[4] gründe.
Der deutsche evangelische Theologe und aufklärerische Schriftsteller Karl Friedrich Bahrdt (1740-1792) geriet als Vertreter der Vernunftreligion und unorthodoxen Aufklärungstheologie sowie aufgrund seines unkonventionellen Lehr- und Lebensstils immer wieder in Konflikt mit Förderern und staatlichen Stellen.[5] 1786 veröffentlichte er Die sämtlichen Reden
[HR=3][/HR]
[1] Ebd., Neun und siebzigster Abend, S. 269.
[2] Eberhard: Allgemeine Geschichte der Philosophie, S. 202: „Die Philosophen wußten nicht allein durch ihre theologischen Grundsätze ihre vaterländische Mythologie zu verfeinern, sondern auch den fremden Religionen durch Allegorien einen richtigen Sinn unterzulegen. Dieses geschah sowol in der heidnischen als jüdischen und christlichen Religion."
[3] Josias Friedrich Christian Löffler: Ueber die kirchliche Genugthuungslehre. Zwey Abhandlungen. Züllichau,
Freystadt 1796, S. 116.
[4] Ebd., S. 118: „Da aber die Erklärung Gottes über diese willkührliche Ansicht der Sache noch nicht über alle Zweifel erhoben ist, indem die Vergleichung Jesu mit einem Opfer und seines Blutes mit dem Blute, dieses auch aus der auf die mosaische politische Religion sich gründenden Vorstellung und Sprache der Juden und der Apostel, welche von einem Opfer, mit dem sie Jesum, den Stifter einer moralischen Religion verglichen, Reinigung und Vergebung erwarteten, erklärt werden kann; und da diese natürliche Erklärungsart der Sache derjenigen Hypothese, welche ein Wunder, oder eine unmittelbare Erklärung Gottes, zu Hülfe ruft, so lange vorgezogen werden muß, bis diese als die einig mögliche übrig bleibt; so wird es immer wichtiger und sicherer seyn, diese ganze Einkleidung des Zweckes und der Wirkung des Todes Jesu als eine bildliche, welche keine philosophische Genauigkeit hat, anzusehen, als darauf einen Lehrsatz zu bilden, der so viel Unbegreifliches in sich schließet."
[5] An dieser Stelle soll auf den Konflikt mit dem zuvor bereits vorgestellten Johann Salomon Semler hingewiesen werden, der sich 1779 als Direktor des Theologischen Seminars an der Universität in Halle einer Aufnahme von Bahrdt ins Kollegium widersetzte, da Bahrdt die Bindung der Fakultät an die Heilige Schrift und das Lutherische Bekenntnis durch seine offen nach außen propagierte Aufklärungstheologie und Gleichgültigkeit gegenüber der evangelischen Theologie missachte. Zwar war Semlers Widerstand von Erfolg gekrönt und Bahrdt musste sich mit einer Tätigkeit innerhalb der Philosophischen Fakultät zufriedengeben, allerdings zahlte Semler seinen Einsatz mit seiner Amtsenthebung als Direktors der Theologischen Fakultät. Hierzu eine ausführliche Schilderung in Johann Salomon Semler: Lebensbeschreibung von ihm selbst abgefaßt. Erster Theil. Halle 1781, Vorrede. Aufgrund seiner Tätigkeit an der Universität in Halle kann Bahrdt als weiterer Autor der Hallenser Linie zugerechnet werden.
Jesu, seine Interpretation und Kommentierung der neutestamentarischen Überlieferungen zum Leben und Wirken Jesu Christi, in fiktionalen Polylogen mit Hinweisen zu nonverbalen Handlungen der Protagonisten einem Theaterstück gleichend für die Leserschaft aufbereitet bzw. stilistisch verfeinert.[1] In den Letzten Scenen des sichtbaren Lebens Jesu schmückt Bahrdt den im 18. Kapitel des Johannesevangeliums geschilderten Dialog zwischen Jesus Christus und Pontius Pilatus mit eigenen Worten aus: So legt er Jesus auf die Frage von Pilatus, warum ihn die jüdischen Priester mit Mordlust verfolgen, wenn er mit der Verbreitung der „reine[n] Ver- nunftwahrheit"[2] lediglich etwas betreibe, „was in Rom jedem Philosophen vergönt ist"[3], folgende Antwort in den Mund:
„Die Wahrheit die ich lehre, und durch welche ich die Menschen zu beseligen gedenke, ist den Priestern verhaßt, weil sie ihre politische Religion, von der ihr Ansehen und ihre Einkünfte abhangen, unvermerkt über den Haufen wirft."[4]
Im Gegensatz zu Eberhards „politische[r] Religion der Juden", deren Narrativ nicht gezielt gegen die Religionspraxis einer spezifischen Person oder eines bestimmten Zweigs der biblischjüdischen Religionsgemeinschaft, sondern gegen das Judentum in seiner Gesamtheit ohne jedwede Spezifizierung gerichtet ist, deutet Bahrdt den Begriff Politische Religion in diesem Textbeispiel als Charakteristikum des jüdischen Priestertums und als Sinnbild für sogenannte Priesterreligionen oder auch Offenbarungsreligionen,[5] denen der Deist Bahrdt ablehnend gegenübersteht. Der Begriff Politische Religion steht in Bahrdts Text synonym zur Priesterreligion; das Fundament von Bahrdts Religionssystematik bildet ein Dualismus zwischen der natürlichen Religion bzw. der „vernünftigen Gotteskentniß, welche den Menschen zur Tugend führt", auf der einen Seite und der „positive[n] Religion, oder eine[r] gewiße[n] willkührli- che[n] Methode der Gottheit Dienst und Opfer zu leisten"[6] auf der anderen Seite, die Bahrdt vornehmlich mit dem Begriff Priesterreligion etikettiert.
[HR=3][/HR]
[1] Ähnlich wie bei Dannhauer und Eberhard könnten auch die Schriften Bahrdts verschiedenen thematischen Abschnitten dieser Arbeit zugeordnet werden, weswegen eine Einordnung seines Gesamtwerks einige Schwierigkeiten bereitet. Da die Bahrdtsche Politische Religion mit einem großen Facettenreichtum aufwartet, wird eines seiner Werke an einer anderen Stelle dieser Arbeit mit einer anderen thematischen Schwerpunktsetzung untersucht, um dessen Bandbreite einen größeren Untersuchungsrahmen geben und den Fokus auf verschiedene Anwendungsfelder legen zu können.
[2] Karl Friedrich Bahrdt: Die sämtliche Reden Jesu, aus den Evangelisten ausgezogen und in Ordnung gestellt zur Uebersicht des Lehrgebäudes Jesu. Zweiter und lezter Theil. Berlin 1787, S. 382: „Ich weiß wohl, Herr, daß auch du dieses Kleinod der Menschheit noch nicht kenst und daß eure Philosophen mehr Zweifler als Denker sind und oft darüber lachen, wenn ein Mensch vorgiebt, die reine Vernunftwahrheit, welche die Natur der Gottheit und des Menschen Bestimmung uns aufschließt, gefunden zu haben."
[3] Ebd., S. 383: „Pilatus. Ich finde deine Erklärung sehr vernünftig und dein Betragen schuldlos. Aber sage mir, wie das die Priester so mit Mordsucht gegen dich erfüllen konte, wenn du weiter nie etwas thatest, als was in Rom jedem Philosophen vergönt ist?"
[4] Ebd., S. 383f.
[5] Obgleich das von Bahrdt als Priesterreligion diffamierte jüdische Priestertum gleichzeitig von ihm als Offenbarungsreligion benannt wird, der er ebenfalls ablehnend gegenübersteht, sind Priester- und Offenbarungsreligion bei ihm nicht gleichzusetzende Begriffe, da er unter anderem auf das antike Heidentum ebenfalls als Priesterreligionen verweist, die Voraussetzungen einer Offenbarungsreligion in diesem Fall aber offensichtlich negieren muss.
[6] Bahrdt: Reden Jesu, S. 14, Anm.: „Neben der vernünftigen Gotteskentniß, welche den Menschen zur Tugend
führt, hielten die meisten doch noch die positive Religion, oder, eine gewiße willkührliche Methode der Gottheit Dienst und Opfer zu leisten, für Wahrheit."
Im gleichen Jahr erschien ein mehrbändiges Plädoyer für die natürliche Religion und gegen die „positive Religion"[1] in Form einer Exegese des Neuen Testaments unter dem Titel Analytische Erklärung aller Briefe der Apostel Jesu, das als eine Grundlage für Prediger und alle Menschen dienen solle, die in der Bibel eine „veste und beruhigende Ueberzeugung" zu finden hoffen. Entgegen dem fast schon belletristischen Stil der Reden Jesu lassen die Briefe der Apostel einen gewissen Anspruch von Wissenschaftlichkeit erkennen.
Im ersten Band analysiert Bahrdt eingehend die einzelnen Abschnitte des Briefs Paulus' an die Römer, in dem der römischen Empfängergemeinde ein Entwurf der Paulinischen Theologie präsentiert wird. Nach Bahrdts Interpretation gründe Paulus' Auslegung der Lehre Jesu Christi auf einem natürlichen Religionsbegriff, wonach „alle willkürliche[n] Vorschriften einer Form des Glaubens oder Gottesdienstes [...] zur Erlangung der Gnade Gottes und der Seligkeit entbehrlich"[2] seien. Die Worte des Apostels werden von Bahrdt als eine Kritik an den oben bereits erwähnten Priesterreligionen[3] ausgelegt, die „dem Volke die Gottheit als einen Dienst- und Opfer-fodernden [sic] Despoten"[4] präsentiere und die er als alleinige „Quelle des sittlichen Verfalls"[5] brandmarkt. Statt dass sich die Menschen damit begnügt hätten, „in der Natur ihren Gott zu finden und seine in derselben hörbare und vernehmliche Stimme zu befolgen", sei von ihnen der Weg des „Alvater" verlassen und neue Gottheiten samt Liturgien nach eigenen Vorstellungen gestaltet worden, wodurch „politische Religionen [geschaffen wurden], welche die Menschheit verdarben."[6] Diese Kritik bezieht sich nicht auf eine bestimmte nichtchristliche Religion, sondern umfasst alle Glaubenssysteme, die sich von der Wahrheit Gottes abgewandt haben. Seine Interpretation vom „Sinn des Apostels" fasst Bahrdt zusammen:
„die Menschen haben die natürliche Gotteskentniß in willkührliche Vorstellungen verwandelt und aus der moralischen Religion eine politische Religion gemacht."[7]
[HR=3][/HR]
[1] Karl Friedrich Bahrdt: Analytische Erklärung aller Briefe der Apostel Jesu. Ein Magazin für Prediger und
für alle, welche in der heiligen Schrift veste und beruhigende Ueberzeugung suchen. Erster Band. Berlin 1787. Seine Kommentierung entwickelte Bahrdt vermutlich auf der Grundlage einer Exegese der Apostelbriefe durch Origenes (185-254), den er im Einleitungstext des ersten Bandes erwähnt. Von der Analyse ausgeschlossen blieben die Offenbarungen des Johannes, da diese in ihrer Echtheit umstritten und inhaltlich als „Nahrung für den Verstand" belanglos seien (ders.: Analytische Erklärung aller Briefe der Apostel Jesu. Ein Magazin für Prediger und für alle, welche in der heiligen Schrift veste und beruhigende Ueberzeugung suchen. Dritter und lezter Band. Berlin 1789, Vorbericht, unpag. [S. 2]). Zur Geschichte des Verlagsprojekts siehe Manuel Schulz, Marcus Conrad: Carl Friedrich Bahrdt und die halleschen Verlage Gebauer und Hemmerde, in: Aufklärung 24 (2012), S. 241-249.
[2] Bahrdt: Briefe der Apostel, Bd. 1, S. 3.
[3] Wie in den Reden Jesu interpretiert Bahrdt den biblischen Religionsbegriff in zwei Richtungen divergierend: Auf der einen Seite befinde sich die „positive Religion, welche gwönhlich [sic] das Gesez heist" und auf der anderen Seite „die blos vernünftige Gotteskentniß [...], welche keine Geseze vorschreibt, sondern den Menschen durch Tugend seinen Gott ehren und glüklich seyn lehrt" (ebd., S. 77f.).
[4] Ebd., S. 78: „Denn diese Menschensazungen, welche dem Volke die Gottheit als einen Dienst- und Opfer- fodernden [sic] Despoten beschrieben, wären Lügen, wie sie Paulus hier nent, und dafür sie jeder erkennen wird, er mag sich dabei die heidnischen Mythologien oder die jüdischen Fabeln von Erscheinungen Gottes und dessen Weltregierung durch die Dämonen, oder die ähnlichen Hirngespinste so mancher christlichen Systeme dabei denken wollen."
[5] Ebd., S. 76: „Der Apostel beschreibt hier abermals, wie in dem vorhergehenden Abschnitte, A. Die Quelle des sittlichen Verfalls, die allein in der Priesterreligion zu suchen war."
[6] Ebd., S. 77: „Hätten die Menschen nie über Religion geklügelt, sondern sich begnügt in der Natur ihren Gott zu finden und seine in derselben hörbare und vernehmliche Stimme zu befolgen, so würden sie nie den Al- vater verkant und die Tugend der arbeitsamen und wolthätigen Menschenliebe als Gottesverehrung - verlassen haben. Aber da sie anfiengen, sich eine Gottheit nach eignen Einfällen zu bilden (263.) und fiel wie ihre Despoten zu behandeln, die mit Gaben und Diensten gnädig gemacht und versöhnt werden musten; so bald entstunden politische Religionen, welche die Menschheit verdarben."
[7] Ebd., S. 79. Dieses Zitat wurde einer Textstelle entnommen, die Bahrdt in Anführungszeichen gesetzt hat. Ob es sich um ein tatsächliches Zitat - vielleicht aus einer Kommentierung des Origenes - oder doch um die eigenen Worte Bahrdts handelt, denen er vermittels der Sonderzeichensetzung und damit Suggestion der Zitation eines bekannten Gelehrten eine gewisse Autorität verleihen wollte, geht auch aufgrund eines fehlenden Hinweises der Quelle nicht zweifelsfrei aus der Passage hervor.
Sukzessive hätten die Menschen die reine Gotteserkenntnis durch Vorstellungen vom Vergänglichen wie etwa einem anthropomorphen Gottesbild verdrängt, tierische und menschliche Eigenschaften „auf die Gottheit übertragen und eine politische Religion sich aufbürden lassen"[1], durch die sie für die Wahrheit Gottes blind geworden seien.
In der Lesart des Begriffs im Sinne einer Priesterreligion und als Gegenbegriff zu der von ihm vertretenen natürlichen Religion, die keiner Priester oder Liturgie bedürfe, nutzt Bahrdt den Begriff Politische Religion in weiteren Abschnitten des ersten Kommentarbandes zum Römerbrief des Apostel Paulus. Den Passagen Römer 2.7-11 über das Erlangen ewigen Lebens durch Tugendhaftigkeit fügt Bahrdt hinzu, dass es gleichgültig sei, ob die tugendhafte und gottgefällige Person „zu einer politischen Religion gehört haben [mag] oder nicht."[2] Denn Gott werte die Person nicht nach ihrem Ansehen oder ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten Glaubensform, weswegen es ihn gleichfalls nicht bekümmere,
„was sich die Menschen für politische Religionen ausgedacht haben. Er betrachtet sie als zuweilen nuzbare Hülfsmittel der Gesezgeber und Völkeranführer, das Volk leichter zu regieren. Aber er weicht dieserwegen nicht von seinen weisen Naturgesezen ab."[3]
Nach Bahrdts Interpretation der Worte von Paulus lehne Gott Politische Religionen nicht per se ab und erkenne sogar ihren Mehrwert für den Zusammenhalt von menschlichen Gemeinschaften, doch dürfe diese Politische Religion nicht im Widerspruch stehen zu den göttlichen Gesetzen und der Erkenntnis Gottes in der Natur und aus der Natur heraus. Folglich richte sich jegliche Kritik an einer Politischen Religion nicht an das Objekt an sich, sondern im vorliegenden Fall gegen die Abkehr des Menschen von Gott durch das priesterliche Blendwerk innerhalb einer Politischen Religion. Die negative Konnotation wird an dieser Stelle relativiert und der Politischen Religion werden für die Gemeinschaft gewinnbringende Elemente zugesprochen, ohne jedoch die pejorative Grundstimmung des Begriffs aufzuheben.
Diese - gemessen an vielen anderen in dieser Arbeit untersuchten Autoren - doch recht hohe Verwendungsrate des Begriffs Politische Religion führt Bahrdt in den weiteren zwei Bänden der Analytischen Erklärungen aller Briefe der Apostel Jesu innerhalb seiner Kommentierung weiterer Paulusbriefe fort und behält dabei die insgesamt abwertend intendierte semantische Linie einer Begriffsdeutung und entsprechenden -verwendung des Begriffs Politische Religion als Synonym für die positive Religion oder Priesterreligion bei. Im zweiten Band etwa untersucht
[HR=3][/HR]
[1] Ebd., S. 86f.: „Sie haben verwandelt das herrliche Bild des unveränderlichliebenden Vaters (das die Natur ihnen zeigt) in das Bild vergänglicher Dinge - von Menschen und Thieren, (und haben deren Eigenschaften: Zorn, Rache, Ehrsucht u. d. auf die Gottheit übergetragen und eine politische Religion sich aufbürden lassen, welche ihnen die Tugend aus dem Auge rükt und die Verehrung eines Dienst- und Opferbegierigen Despoten ihnen zur Hauptsache macht.)"
[2] Ebd., S. 99: „Allen, welche durch standhaften Eifer in guten Thaten nach wahrer Größe, Werth und unvergänglicher Volkommenheit strebten, wird ewiges Leben, d. h. eine unvergängliche Glükseligkeit zu Theil werden: sie mögen übrigens zu einer politischen Religion gehört haben oder nicht."
Bahrdt die Briefe an die Korinther und interpretiert die Worte des Apostels als Rede
„von den Priestern und Völkeranführern, welche ihre politischen Religionen, die sie dem Volke aus vorgeblichen Offenbarungen aufhefteten, mit Geheimlehren vollpfropften, um sie dem Pöbel desto ehrwürdiger zu machen, und ihn selbst, desto blinder leiten zu können."[1]
Um diese Indoktrination und Verblendung der Menschen durch die Priesterreligion zu durchbrechen, habe Gott „das erhabenste Werkzeug seiner Vorsehung, Jesum Christum, [gesendet, um] alle die politischen Religionen [zu] zerstören"[2], welche die Menschen voneinander entfremdet und in verschiedene Glaubenssysteme aufgespalten haben, so dass Religion letztendlich nicht mehr die Einheit, sondern die Feindschaft der Menschen untereinander befördert habe.
Im dritten Band seiner traditionskritischen Kommentierungsreise durch die Briefe des Apostels betrachtet Bahrdt unter anderem jene Stelle aus dem Galaterbrief, an der Paulus an die Erlösung der Menschen durch Jesus von dem Fluch des Gesetzes erinnert (Gal. 3.13). Bahrdt kommentiert, dass in dieser Passage „bloß von politischer, äuserlicher, positiver Religion die Rede"[3] sein könne. Die Synonymie innerhalb der Semantik Bahrdts zwischen positiver und Politischer Religion sowie deren Fokussierung auf das äußerliche Gewand von Religion statt der wahren Worte Gottes ist an dieser Stelle nicht zu übersehen. Diese Feststellung wird in einem anderen Abschnitt der Schrift untermauert, in welcher Bahrdt auf den Brief des Paulus an die Epheser bezogen religiöse Liturgien, Zeremonien bzw. Kulthandlungen als Ausdruck „äußerlicher politischer Religion"[4] interpretiert.
Bahrdts Religionssystematik gliedert sich in die abzulehnende positive Religion oder Priesterreligion auf der einen Seite und die zu befürwortende und zu fördernde natürliche Religion auf der anderen Seite. Bezieht Bahrdt den Begriff Politische Religion in seiner Schrift Die sämtlichen Reden Jesu einzig auf das Judentum als Priesterreligion, erweitert er das Verwendungsfeld in seiner Analytischen Erklärung aller Briefe der Apostel Jesu um all jene Religionssysteme, die nicht seiner deistischen Glaubensvorstellung entsprechen und demzufolge als Priesterreligion zu definieren seien. Von den zuvor untersuchten Autoren unterscheidet sich Bahrdt dahingehend, dass er nicht eine bestimmte Person oder Personengruppe der biblischen Überlieferung als einer Politischen Religion anhängig bewertet, sondern das Judentum im Gesamten
[HR=3][/HR]
[1] Karl Friedrich Bahrdt: Analytische Erklärung aller Briefe der Apostel Jesu. Ein Magazin für Prediger und für alle, welche in der heiligen Schrift veste und beruhigende Ueberzeugung suchen. Zweiter Band, Berlin 1788, S. 63. Weitere Fundstellen in der Ausgabe auf bspw. den Seiten 27, 64 und 72.
[2] Ebd., S. 56: „Allein jezt, da Gott durch das erhabenste Werkzeug seiner Vorsehung, Jesum Christum, alle die politischen Religionen zerstören ließ, welche die Völker getrent, Sektenhaß erzeugt, und doch den wahren Zwek, Menschenbildung und Menschenbeseligung nie erreicht, sondern vielmehr die Menschheit immer tiefer in Barbarei, Aberglauben und sittliche Verwilderung versenkt hatte."
[3] Bahrdt: Briefe der Apostel, Bd. 3, S. 192.
[4] Ebd., Bd. 2, S. 254: „Und auf solche Art heftete er das Gesez gleichsam mit sich ans Kreuz oder nach unsrer Art, er hiengs an Galgen und übergab es dem Bann, - infamirte es öffentlich - stieß es von der Menschheit aus - und besiegelte mit seinem Blute das Evangelium, oder die erfreuliche Botschaft, daß Gott nicht Despot sondern alliebender Vater sey, der nicht mit äußerlicher politischer Religion, nicht mit Opfern, Gaben, Fasten, Beterei u. d. sondern im Geist durch einen aufgeklärten Geist und ein zur Menschenliebe gebildetes Herz verehrt seyn wolle." Für weitere Fundstellen vgl. auch die Seiten 200 und 308.
Nicht nur Bahrdt nutzte in seiner Thematisierung oder Bezugnahme der Paulusbriefe den Begriff Politische Religion. Ähnliche Ansätze finden sich bspw. in einer Rezension, worin eine Passage im Kolosserbrief wie folgt interpretiert wird: „Auch Col. 3, 11 habe er andre Vorschriften über Pflichten der Eheleute, Kinder, Herrschaften und Knechte gemacht, weil er aus dieser bloß politischen Religion in die christliche nichts habe aufnehmen können" (Ww: Rez. D. Io. Sal. Semleri paraphrasis epistolae ad Galatas, cum Prolegomenis, notis et varietate lectionis latinae, in: Allgemeine deutsche Bibliothek 39.2 [1780], S. 389-393, hier S. 391).
No Comments