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6.4. Politische Religion und weitere revolutionäre Ereignisse

Wie in den vorangegangenen Abschnitten veranschaulicht werden konnte, avancierte der Begriff Politische Religion zu einem gern genutzten Begriff in Schriften zu den französischen Revolutionen, um etwa die neuen politischen Ideen des Liberalismus und deren Ausbreitung begrifflich zu fassen. Es ist kaum verwunderlich, dass der Begriff auch in Texten Eingang fand,

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[1] Einige weitere Quellenbelege, die den Begriff Politische Religion in Bezug auf die Pariser Julirevolution 1830 enthalten, wurden beispielsweise im dritten Unterabschnitt des neunten Kapitels (siehe z. B. Bernard Sarrans) untersucht.

[1] Ernst Münch wuchs in einer streng katholischen Familie auf. Hingegen wurde Wilhelm Christian Binder als Sohn eines evangelischen Pfarrers geboren, trat allerdings 1845 - zehn Jahre nach Veröffentlichung des oben erwähnten Beitrags - zum katholischen Glauben über.

die sich thematisch mit revolutionären Ereignissen außerhalb der Grenzen Frankreichs beschäftigten - wie anhand einiger zuvor erwähnter Quellen bereits herausgearbeitet werden konnte. Beispielsweise widmeten sich einige Verfassende unter Anwendung des Begriffs Politische Religion der Deutschen Revolution von 1848/49, deren liberale und nationale Kräfte unter anderem durch die Julirevolution von 1830 neuen Auftrieb erhielten und deren Kampfgeist schließlich durch den Sturz der französischen Julimonarchie während der Februarrevolution in Frankreich von 1848 vollends entfacht wurde. Die Quellenauswahl in diesem Abschnitt beinhaltet eine zeitgenössische Publikation und einen Beitrag, der erst nach der Revolution 1848/49 veröffentlicht wurde.

Gottlieb Christian Abt (1820-1877), ein deutscher Theologe und Schriftsteller, der als überzeugter Demokrat und früher Anhänger des Sozialismus aktiv an den revolutionären Kämpfen in Baden teilnahm, veröffentlichte 1849 die Schrift Die Revolution in Baden und die Demokraten. Hierbei handelt es sich um eine „vom revolutionären Standpunkt aus beleuch- tet[e]"[1] Auseinandersetzung nicht nur mit der Revolution von 1848/49 im Speziellen, sondern auch mit revolutionären Bewegungen im Allgemeinen, ihrer Entstehung sowie mit der Frage, warum vermeintliche Siege der Revolutionierenden letztendlich von reaktionären Prozessen oder den royalistischen Versuchen der Wiederherstellung vorrevolutionärer Zustände überrollt und verdrängt werden. In einem letzten Kapitel wendet Abt seinen Blick auf Die Reaktion und die Zukunft, bekennt hierin zwar die Niederlage der revolutionären Bewegung gegenüber dem badischen Landesherren, prognostiziert allerdings ein neues Aufbegehren der Bevölkerung spätestens zu dem Zeitpunkt, an dem die Gegenrevolutionäre den status quo ante wiederhergestellt haben. Eine neue Revolution in Baden ergebe sich nach Abt als eine unvermeidbare Konsequenz aus der Politik des reaktionären Systems in Baden und werde von diesem heraufbeschworen:

„Ja diese Revolution wird und muß kommen, denn die Herrschaft in Baden hat keine andere Grundlage mehr, als die preußischen Bajonette; ihre Hauptstütze, die Unterthanenmoral ist gebrochen, und kann nicht wieder hergestellt werden, trotz aller Anstrengungen der Reaction durch eine moralische Dressur die politische Religion in Baden wieder zu stützen."[2]

Der Begriff Politische Religion wird von Abt nicht mit den liberalen Ideen der Revolutionierenden in Baden in Verbindung gesetzt, sondern mit dem politischen Wirken der badischen Landesherrschaft und der reaktionären Kräfte, die auf eine Rückwendung zum vorrevolutionären Herrschaftsgefüge in Baden hinarbeiten. Über diese Erkenntnis hinausgehend ist das Begriffsverständnis Abts durch diese einzige Verwendungsstelle schwer fassbar und auch das textliche Umfeld bietet keinen deutlichen Ansatzpunkt für eine Erschließung der Semantik von Abts Politischer Religion. Vermutlich handelt es sich um eine Umschreibung für die von Abt in seiner Schrift angeführte „Unterthanenmoral", die er - neben den „fisischen Kräften des Staates"[3] - als eine Grundvoraussetzung und Stütze für die Herrschaft in Baden herausarbeitet. Unter der „Unterthanenmoral" definiert Abt jenen „mistische[n] Respect vor der Autorität der Herrschaft, welcher den unbedingten Gehorsam zu einem Cultus macht"[4], von dem die badische Bevölkerung bis zum Regierungsantritt des Großherzogs Leopold von Baden (17901852) im
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[1] So der Untertitel der Schrift, womit Abt gleich auf dem Buchrücken seine politische Haltung und damit auch die Intention seiner Veröffentlichung preisgab. Aufgrund seiner aktiven Teilnahme auf Seiten der deutschen Revolutionäre musste Abt in die Schweiz fliehen, wo auch seine Schrift erschien: [Gottlieb Christian] Abt: Die Revolution in Baden und die Demokraten. Vom revolutionären Standpunkt aus beleuchtet. Herisau 1849.​

[2] Ebd., S. 171.
[3] Ebd., S. 104, 123.
[4] Ebd., S. 105.

Jahr 1830 durchdrungen gewesen sei. Interessanterweise erläutert Abt diesen „misti- sche[n] Respect", ohne eine Verbindung zur Kirche und einen möglichen klerikalen Einfluss auf diese Autoritätshörigkeit der Untertanen gegenüber der Herrschaftsmacht zu ziehen, weswegen Abts Verständnis des Begriffs Politische Religion nicht als Kritik an einer (zu engen) Verbindung zwischen religiöser und politischer Ebene interpretiert werden kann. Unzweifelhaft ist hingegen die Konnotation, die im Begriffsverständnis Abts vermutlich auch losgelöst von der hier angewandten Kontextualisierung ihre negative Färbung beibehält.

Dass dieses Verwendungs- und Verständnisfeld des Begriffs Politische Religion als Oberbegriff für politische Gesinnungen oder Überzeugungen (speziell des Liberalismus') nicht nur im Kontext der revolutionären Bewegungen in Frankreich Anwendung fand, zeigt das nächste Quellenbeispiel. Anfang 1849 erschienen die Politischen Briefe und Charakteristiken aus der deutschen Gegenwart[1] des preußischen Diplomaten Karl Georg Ludwig Guido von Usedom (1805-1884), eine Darstellung verschiedener Personen aus der politischen Gegenwart, wie etwa der Könige Friedrich Wilhelm III. und IV. oder Fürst von Metternich, und Einschätzung ihrer Regierungssysteme, die Usedom literarisch in Form eines Briefwechsels zwischen zwei Personen verpackte, die lediglich mit den Initialen G. und M. benannt sind. In einem Brief von G. an M. liefert dieser eine Charakteristik von Friedrich Wilhelm IV- Sein Streben und sein Schicksal, die er mit einer Lobrede auf den preußischen König beginnt und mit „einer Mißbilligung des neueren Systems" beendet. Ein Vergleich der Regierungssysteme Friedrich Wilhelms IV. vor und nach der Märzrevolution in Berlin 1848 führe zu „incommensurable In- congruenzen":

„Denken Sie sich einen Staatsmann aus der englischen Schule z. B., oder selbst einen der Cory- phäen der französischen Opposition, Benjamin Constant oder Royer-Collard, würden Sie ihn trotz seiner Freisinnigkeit nicht mit dem incongruent finden, was heut zu Tage in Frankreich oder Deutschland die alleinseligmachende politische Religion sein soll? Und kann ein wahrer König die Lüge der demokratischen Monarchie acceptieren, selbst wenn, was doch nicht ist, die Gegenwart sie acceptiert?"[2]

Im Gegensatz zu Abt wendet sich Usedom einem Begriffsverständnis im Sinne eines Oberbegriffs für politische Überzeugungen innerhalb seiner Polemik gegen eine „demokratische Monarchie" zu, ohne dass der Begriff Politische Religion für sich stehend mit einer negativen Konnotation aufgeladen ist. Wie schon in zuvor untersuchten Schriften erscheint der Begriff Politische Religion im unschuldigen Gewand einer Neutralität und erhält erst durch das textliche Umfeld und die Wertung des als Politische Religion bezeichneten Objekts eine klare konnotative Färbung.

Durch die Attribuierung des Begriffs Politische Religion mit dem Wort „alleinseligmachend" wird verdeutlicht, dass in Usedoms Begriffsverständnis diese Überhöhung dem Begriff Politische Religion nicht per se innewohnt. Dem Zusatz „alleinseligmachend" schwingt zudem eine Kritik an einer Sakralisierung dieser politischen Idee bzw. Überzeugung mit, ohne dass der Begriff Politische Religion für sich gesehen zur negativen Charakterisierung der betreffenden
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[1] [Karl Georg Ludwig Guido von Usedom]: Politischen Briefe und Charakteristiken aus der deutschen Gegenwart. Berlin 1849. Dass die Schrift zu Beginn des Jahres 1849 erschien, wird durch die Angabe des Herausgebers am Ende seines Vorwortes ersichtlich, die einleitenden Worte „am Neujahrstage 1849" verfasst zu haben (ebd., Vorwort, S. X). Zudem erschien bereits im März 1849 eine sehr umfangreiche Zusammenfassung und Rezension der Schrift in der Allgemeinen Literatur-Zeitung: [Anon.]: Die Gegenwart, in: Allgemeine Literatur-Zeitung. Monat März. 62 (1849), Sp. 489-496 und 63 (1849), Sp. 499-504.
[2] [Usedom]: Politische Briefe, S. 45f.

politischen Ideen beiträgt.

Der Vergleich beider Schriften zeigt, dass sich - ähnlich wie in den Schriften zu den französischen Revolutionen - innerhalb der Kontextualisierung des Begriffs Politische Religion bezüglich der Deutschen Revolution von 1848/49 semantische Unterschiede feststellen lassen, die Auswirkungen auf die konnotative Färbung des Begriffs entfalten. Während der Begriff bei dem Theologen Abt die von ihm geäußerte Kritik an den reaktionären Strömungen in Baden durch eine negative Konnotation unterstreicht, wird diese per se negative Charakterisierung in der Schrift des Diplomaten von Usedom durch die bereits bekannte Semantik des Begriffs im Sinne eines politischen Bekenntnisses ersetzt.

Die Untersuchung der oben vorgestellten Quellenbeispiele zum Begriff Politische Religion im revolutionären Zeitalter hat eine Ambivalenz auf konnotativer Ebene aufgezeigt, die nur aus einem a priori neutral zu wertenden Begriff entspringen kann. Der Begriff Politische Religion birgt in diesem Verständnis- und Verwendungsfeld nicht unbedingt per se eine polemische bzw. ab- oder aufwertende Funktion in sich. Dieser Mangel an einer sprachlichen Wertung ist eine Neuerung innerhalb der semantischen Dimensionen des Begriffs Politische Religion, die im 18. Jahrhundert erstmals in Erscheinung tritt.[1] Die bereits in Schriften zur Französischen Revolution ermittelte ambivalente Konnotation des Begriffs Politische Religion setzte sich sowohl in Retrospektiven zur Französischen Revolution als auch innerhalb von Auseinandersetzungen mit anderen revolutionären Ereignissen, wie etwa der Revolution von 1848/49, fort.

Des Weiteren kann für die vorgestellten Quellenbelege keine Rede von einer Exklusivität des verwendeten Verständnisfeldes des Begriffs Politische Religion sein. In den inhaltlich, aber auch zeitlich eingrenzbaren historischen Kontexten der verschiedenen Revolutionen lässt sich kein substantiell oder funktional einheitlicher Verständnishorizont innerhalb der ermittelten Quellenbelege erschließen. Der Grund dieser Vielfalt der Semantiken des Begriffs Politische Religion könnte die persönliche Haltung des jeweiligen Verfassers zu den Ereignissen gewesen sein. Hat die befürwortende oder ablehnende Meinung des Verfassers gegenüber den revolutionären Umbrüche in Frankreich und ihren Außenwirkungen Einfluss auf das angewandte begriffliche Verständnisfeld? Allein anhand der vorgestellten Fundstellen zur wertfreien bis positiv konnotierten Verwendung kann festgestellt werden, dass die Verfassenden sehr unterschiedliche Auffassungen zur Französischen Revolution vertraten: Während Mirabeau und Wedekind ohne Zweifel zu den Befürwortern bzw. Anhängern der Revolutionierenden gezählt werden können, lehnte Haller die Ideen der Französischen Revolution und die Einführung einer republikanischen Ordnung in der Schweiz nach dem Vorbild der französischen Republik ab. Dies ist mitunter dem Umstand geschuldet, dass die einzelnen Beiträge zu unterschiedlichen Zeitpunkten bzw. Phasen der Revolution veröffentlicht wurden. Nicht wenige Personen wandten sich nach einer anfänglichen Begeisterung gegen die Revolutionierenden und die umwälzenden Ereignisse in Frankreich. Diese unabhängig von der eigenen Haltung zur Französischen Revolution gewählte Lesart des Begriffs Politische Religion kann auch in Beiträgen zu anderen revolutionären Ereignissen festgestellt werden.


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[1] Eine Ausnahme bilden die im zweiten Kapitel vorgestellten Quellenbelege des 16. Jahrhunderts, in denen der Begriff Politische Religion von einem deskriptiven Charakter geprägt ist. Einen Kontrast dazu ist das 17. Jahrhundert, für das fast ausschließlich - mit Ausnahme der Fundstelle bei Campanella - Quellenbelege der Politischen Religion mit einer sprachlich abwertenden Funktion ermittelt werden konnten.

Diese unterschiedlichen Interpretationen und Konnotationen des Begriffs Politische Religion erschweren eine Einbettung des Begriffs in gemeinschaftliche Sinnbildmuster. Von einem festen Platz in der revolutionären oder gegenrevolutionären Rhetorik kann keine Rede sein, da weder die Revolution befürwortende noch ablehnende Personen dem Begriff einen quantitativ und qualitativ signifikanten, exklusiven Platz in ihren Schriften einräumten.