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1.4.2. 19. Jahrhundert

Die Bezeichnung des römischen Staatskults als eine Politische Religion wurde auch nach Herder von weiteren Geisteswissenschaftlern aufgegriffen und in Schriften des 19. Jahrhunderts fortgeführt: Unter anderem von dem deutschen Philologen Karl August Böttiger (17601835), der sich im ersten Band seiner Studienreihe Ideen zur Kunst-Mythologie von 1826 mit verschiedenen Religionen der Antike auseinandersetzt, deren Ursprünge er zum Teil in anderen, älteren Religionen vermutet - so auch die Religion der Griechen und Römer, deren Wurzeln er teilweise bis zur antiken Religion der Ägypter zurückverfolgt. Böttiger schreibt:

„Die sich alles aneignende und viele Jahrhunderte hindurch auch fremde Götter zu sich herüberlockende politische Religion der Römer hatte nur dann dem asiatischen Dämonen- und Sternendienst Verbote entgegengesetzt, wenn ihrem Sitten-vergiftenden Fanatismus die Staatspolizei begegnen musste."[1]

Warum Böttiger von einer „politische[n] Religion der Römer" spricht, erklärt er im weiteren Textverlauf nicht. Vermutlich zielt auch er mit der Begriffsverwendung auf eine Kritik an der Verschmelzung von religiösem und politischem Bereich innerhalb des römischen Staatskults sowie an dem adaptierenden und duldenden Charakter der römischen Religion, aus anderen Religionskonzepten Versatzstücke für den eigenen Glauben herauszuziehen oder andere, zum
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[1] Karl August Böttiger: Ideen zur Kunst-Mythologie. Erster Band: Stammbaum der Religionen des Alterthums.
Einleitung zur vor-homerischen Mythologie der Griechen. Dresden, Leipzig 1826, S. 30.

Teil entgegengesetzte Glaubensvorstellungen neben sich gewähren zu lassen. Diese Haltung könnte für Böttiger ein Indiz gewesen sein, dass sich Religion und Politik im Staats- und Gesellschaftswesen des antiken Roms gegenseitig bedingen und folglich in religiösen Fragen nicht der wahre Glaube, sondern die für die weltlichen Belange des Staates günstigste Religion ausschlaggebend sei.

Andere Autoren des 19. Jahrhunderts nahmen ebenfalls diese Kontextualisierung des Begriffs Politische Religion im Rahmen polytheistischer Religionen in ihren Schriften auf: Der deutsche Historiker Karl Eduard Arnd (1802-1874) lieferte Mitte des 19. Jahrhunderts in seiner dreibändigen Geschichte des Ursprungs und der Entwicklung des französischen Volkes (18441846) eine etwas ausführlichere Auseinandersetzung mit dem Begriff Politische Religion, der den Lesenden bereits im Inhaltsverzeichnis zum ersten Band begegnet. Dieser beschäftigt sich mit den Ursprüngen des französischen Volkes und thematisiert im Kapitel zu Religion und Cultus der Celten unter anderem die Wurzeln von Religion an sich, die Entstehung von „Naturreligion, Priesterreligion [und] Politische[r] Religion", ihr Verhältnis zueinander und dass die „politische Religion mit den Traditionen der Natur- und Priesterreligion durchzogen"[1] sei.

Bevor das Christentum entstand, habe es nach Arnd im Altertum „zwei große religiöse Systeme" gegeben, die sich „die Herrschaft über das menschliche Geschlecht" teilten: Naturreligion und Priesterreligion. Aus der Vermischung beider Religionssysteme sei jener Kultus der Griechen und Römer emporgekommen, der „seinem Wesen und seinem Einflusse nach, eine politische Religion genannt werden kann." Dieser „politische Kultus" unterscheide sich sowohl von der Naturreligion als auch der Priesterreligion,[2] indem die Politische Religion weder eine mittelbare noch eine unmittelbare Verbindung zwischen den Menschen und den göttlichen Wesen herzustellen versuche, sondern allein „die Erhaltung des Staates und die Herrschaft über das äußere Dasein der Menschheit"[3] verfolge.

Nach Arnd liege die Erkenntnis der Griechen und Römer vom Ursprung des Lebens nicht
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[1] [Karl] Eduard Arnd: Geschichte des Ursprungs und der Entwicklung des französischen Volkes, oder Darstellung der vornehmsten Ideen und Fakten, von denen die französische Nationalität vorbereitet worden und unter deren Einflusse sie sich ausgebildet hat. Erster Band. Leipzig 1844, Inhaltsverzeichnis.
[2] Nach Arnds Verständnis der Religionsgeschichte habe der Mensch zu Beginn unter einer unmittelbaren Wirkung Gottes und in einer engen Verbundenheit mit der Natur gestanden, von der sich der Mensch sukzessive zu trennen begann, sobald in ihm „das Gefühl der ihrer innern Natur verliehenen Freiheit" (ebd., S. 75) erwachte. Aufgrund dieser Trennung der Menschen vom Willen Gottes und der Natur sei „in ihrem Gemüthe die Sünde und in ihrem Geiste der Irrthum" (ebd., S. 76) entstanden. Dennoch habe eine Ahnung, eine Erfahrung des Willen Gottes in Naturreligionen fortbestanden, deren Deutung eng mit Naturereignissen wie etwa Blitzen oder Dürre verbunden wurde. Mit der Zeit habe sich eine Gruppe „besonders begabte[r] Geis- ter[]" (ebd., S. 77) herauskristallisiert, die für sich den Anspruch einer Deutungshoheit des Willen Gottes erhob, was Arnd als die Geburtsstunde der Priesterreligion deutet, die an die ursprüngliche Offenbarung des Göttlichen wieder anzuknüpfen versucht habe. Jene Völker, in denen sich „ein selbstständiger, den eigenen Geist sich als Gottheit setzender Wille am Freiesten" (ebd. S. 78) entfalte, hätten sich von der Natur- und Priesterreligion entfernt.
[3] Ebd., S. 73: „Zwei große religiöse Systeme theilten sich, vor der Erscheinung des Christenthums, in die Herrschaft über das menschliche Geschlecht: die Naturreligion und die Priesterreligion, aus deren Vermischung der Kultus hervorging, der in der letzten Epoche des Alterthums von Griechen und Römern begangen wurde, und der, seinem Wesen und seinem Einflusse nach, eine politische Religion genannt werden kann. Denn obwohl manche Vorstellungen aus den ältesten Ueberlieferungen der Menschheit, die in den Geheimlehren der Priester aufbewahrt wurden, so wie viele Anschauungen des Naturlebens sich in ihr erhalten hatten, welche letztere von der Poesie und Kunst veredelt und zu abgeschlossenen und selbstständigen Gestalten erhoben wurden, so bildete dieser politische Kultus dennoch keine unmittelbare Verbindung zwischen dem Gemüthe des Menschen und dem Leben der Gottheit, wie in der Priesterreligion, und keine mittelbare, wie in der Anbetung des vergötterten Naturlebens, sondern sein Ziel war die Erhaltung des Staates und die Herrschaft über das äußere Dasein der Menschheit."

im Göttlichen, sondern in ihnen selbst begründet, was zur Sakralisierung des eigenen Daseins und des griechischen bzw. römischen Staates geführt habe:

„Diese den beiden klassischen Völkern des Alterthums, besonders aber den Römern eigenthüm- liche Form des Bewußtseins: das Höchste und Ewige in einer endlichen Form, dem Staate, anzuschauen, ihn zu vergöttern, alles innere und äußere Leben, als nur um seinetwillen vorhanden, zu betrachten, ihn für ein Symbol des Universums selbst zu nehmen, nennen wir die politische Re- ligion."[1]

Kritisieren die zuvor untersuchten Quellenbelege mittels des Begriffs Politische Religion die enge Verwobenheit von Religion und Politik, umschreibt Arnd mit diesem Begriff die Sakrali- sierung einer diesseitigen Realität, die Vergötterung und Erhöhung des Staates zum letzten Daseinsgrund; eine Religionsform, die sich mit der Expansion des griechischen und römischen Reiches zur vorherrschenden Religion etabliert habe, bis das Christentum „die Seele des Menschen von der Tyrannei der Natur und des endlichen Staates befreite und die Uebereinstimmung des göttlichen und menschlichen Willens [...] als das Gesetz des Lebens verkündete."[2] Während in der Geschichte der meisten Völker ein Übergang von Natur- zu Priesterreligionen beobachtet werden könne, seien unter den

„Nationen des Alterthumes [...] Griechen und Römer allein von der Priesterreligion zur politischen Religion übergegangen, denn die Celten wurden zur Zeit des Unterganges ihrer politischen Unabhängigkeit von dem allerdings schon gesunkenen, aber immer noch bestehenden Orden der Druiden beherrscht, und die Germanen erscheinen nur am Horizont der alten Welt und werden erst durch die Zerstörung des römischen Reiches ein historisches Volk."[3]

Somit handle es sich nach Meinung Arnds beim römischen und griechischen Staatskult um die einzigen Beispiele von Politischen Religionen im Altertum, da selbst das jeweilige Glaubenssystem der „Celten" und „Germanen"[4] nicht dieses Entwicklungsstadium erreicht hätte.

Im weiteren Verlauf seiner Auseinandersetzung mit der Geschichte der keltischen Mythologie thematisiert Arnd den Druidismus, den er als eine Vermischung von monotheistischen Vorstellungen eines höchsten Wesens mit der „pantheistische[n] Idee der Seelenwanderung" definiert. Im Gegensatz zum Druidismus sei das Zusammenschmelzen des Glaubens im Begriff eines höchsten Wesens innerhalb einer Politischen Religion nicht möglich, da „die Anschauungen des Geistes, wie die Erscheinungen des äußern Lebens, in mannigfaltige Vorstellungen und Gestalten"[5] auseinanderfallen, statt eine innere Einheit zu bilden. Als höchstes Wesen wurde von den keltischen Druiden der Gott Esus verehrt, den Arnd mit anderen Gottesvorstellungen verschiedener Priesterreligionen gleichsetzt, unter anderem dem „,deus incertus', den die politische Religion der Römer ahnen, aber nicht mehr fühlen konnte".[6] Und während innerhalb
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[1] Ebd., S. 79.
[2] Ebd.
[3] Ebd., S. 80.
[4] Zur begrifflichen Problematik und der Frage nach einer keltischen oder germanischen Mythologie oder Religion siehe die verschiedenen Beiträge in Martin Langebach (Hg.): Germanenideologie. Einer völkischen Weltanschauung auf der Spur (= Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung, 10589). Bonn 2020.
[5] „In der politischen Religion aber fallen die Anschauungen des Geistes, wie die Erscheinungen des äußern Lebens, in mannigfaltige Vorstellungen und Gestalten auseinander, die wie der Staat selbst, in eine gewisse hierarchische Ordnung gebracht, dennoch keine eigentliche innere Einheit darstellen" (Arnd: Geschichte des Ursprungs, S. 81).
[6] Ebd., S. 82: „Es war dies derselbe Gott, der in der Geheimlehre der ägyptischen Priester Amun (der Verborgene) genannt wurde, derselbe wie der pelasgische Zeus in Dodona, später von dem bilderreichen Polytheismus der Hellenen verwandelt, der Unaussprechliche, sehr Hohe, Ewige der Juden, der ,deus incertus', den die politische Religion der Römer ahnen, aber nicht mehr fühlen konnte, der .osoc «yvmGTOC', dessen Altar der heilige Paulus in Athen sah."

der verschiedenen Natur- und Priesterreligionen stets eine Ahnung, ein Gefühl der Existenz eines höchsten Wesens als letztes Prinzip selbst als kleinster Funke erhalten bliebe, schwinde

„in der politischen Religion, wo die Menschheit ihr Leben nach eigener Wahl und Willkür orga- nisirte und ihr äußeres Dasein sich als Gott setzte, [.] dieses Gefühl allmälig gänzlich aus der Seele der Menge, wie dies der allegorische und mit den Staatseinrichtungen innigst verwebte Götterdienst der Römer beweist. Die Ahnung eines tiefern Daseins lebte dann nur in dem Ge- müthe Weniger fort, die gewöhnlich als Philosophen, zu weilen, obgleich seltener, als Dichter, auftraten."[1]

Eine Ahnung oder Kenntnis von einem göttlichen Wesen oder gar Hinwendung zum göttlichen Willen innerhalb des Phänomens Politische Religion wird von Arnd verneint. Denn durch die vollständige Hinwendung zu weltlichen Realismen und deren Emporhebung zu göttlicher Größe werde eine genuine Transzendenz innerhalb der Politischen Religion entweder komplett ignoriert oder gar negiert. Und „als die politische Religion, in der der Römer so lange seine eigenen Bedürfnisse und Leidenschaften vergöttert und angebetet hatte," im Angesicht des aufkeimenden und sich ausbreitenden Christentums in Wanken geriet, „fühlte er [der Römer; Anm. Verf.in] sich selbst tödtlich getroffen,"[2] da sein Glaube ihm nicht durch ein höheres, transzendentes Wesen offenbart worden sei, sondern sich einzig auf die Macht und Größe des römischen Reiches stütze und dieser Abhängigkeit folgend mit dem schleichenden Verfall Roms selbst dem Untergang geweiht gewesen sei. Allerdings sei die Politische Religion des Römers nicht nur Ausdruck, sondern auch ein „Werkzeug seiner Macht"[3] zur Herrschaftsausübung und -sicherung gewesen.

Einen weiteren Unterschied sieht Arnd im Element der Seelenwanderung in Natur- und Priesterreligionen, das aus dem Zusammenwirken von Geist und Materie entstehe;

„in der politischen Religion aber, in der das abstrakte Bild des Staates vergöttert wurde, war die Menschheit überhaupt zu sehr außer aller Verbindung mit dem All getreten, als daß von dergleichen Ideen die Rede sein konnte."[4]

Eine Wesensgemeinsamkeit der Politischen Religion mit den Natur- und Priesterreligionen fördert Arnd in seiner Darlegung doch zu Tage, denn nach seinem Dafürhalten lasse sich in allen drei Religionssystemen der Nachweis des Vorhandenseins eines Opferkultes finden, dem Menschenopfer nicht unbekannt waren:

„Sie waren allen Völkern der alten Welt gemein und dauerten selbst in der politischen Religion der
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[1] Ebd., S. 84.
[2] Ebd., S. 108: „Als die politische Religion, in der der Römer so lange seine eigenen Bedürfnisse und Leidenschaften vergöttert und angebetet hatte, vor dem Anblicke des Kreuzes zu wanken begann, fühlte er sich selbst tödlich getroffen, denn sein Glaube war ihm weder von der Natur, noch der Gottheit offenbart worden, sondern ein Gebild seines Verstandes und ein Werkzeug seiner Macht gewesen."
[3] Nach Darstellung Arnds hätten die Römer noch vergeblich versucht, durch Verbindungen mit anderen Priesterreligionen ihren Niedergang im Schatten des Christentums aufzuhalten: „Die politische Religion der Römer suchte durch ihre Verbindung mit den Priesterreligionen Asiens und Aegyptens, die sie zur Zeit ihrer Kraft verschmäht, eine größere Macht über die Gemüther zu gewinnen und für ihr hohles und formelles Dasein einen tiefern Inhalt aus dem Naturleben zu entlehnen" (ebd., S. 108).
[4] Ebd., S. 89: „Denn das Naturleben des Heidenthums ließ die Vorstellung von einer reinen und vollkommenen Trennung des Geistes und der Materie nicht zu, und aus dieser Vermischung beider entstand in den Priesterreligionen die Lehre von der Seelenwanderung, in der politischen Religion aber, in der das abstrakte Bild des Staates vergöttert wurde, war die Menschheit überhaupt zu sehr außer aller Verbindung mit dem All getreten, als daß von dergleichen Ideen die Rede sein konnte, die allein in einzelnen philosophischen Systemen, als eine nur den Bessern zugängliche Weisheit aufbewahrt wurden."

Römer fort, wo sie sich als eine der dunklen Ueberlieferungen des Naturdienstes erhielten."[1]

In allen drei Bänden seiner Geschichte verwendet Arnd lediglich an den hier zitierten Stellen den Begriff Politische Religion und zwar einzig zur Charakterisierung der Religionen des antiken Griechenlands und des römischen Reichs. Andere Bezugsobjekte, die nach seinem Verständnis ebenfalls als Politische Religion zu definieren seien, nennt Arnd in dieser Publikation nicht.

Eine Kontextualisierung des Begriffs Politische Religion außerhalb einer Geschichtsschreibung zur Antike findet sich bei Arnd rund zehn Jahre später in seiner Geschichte der letzten vierzig Jahre (1855) sowie in seiner Geschichte der französischen Nationalliteratur (1856). In beiden Werken greift er auf den Begriff innerhalb seiner Auseinandersetzungen mit der französischen Aufklärung und der Geschichte Frankreichs in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zurück. So schreibt Arnd zu Beginn des zweiten Bandes seiner Geschichte der letzten vierzig Jahre über Ludwig XVIII. (1755-1830), dass dieser „sich der politischen Religion seiner Zeit"[2] unterworfen habe. Weder erläutert Arnd in dieser Schrift den Begriff noch räumt er ihm viel Raum ein, da er den Begriff Politische Religion lediglich an dieser hier zitierten Stelle verwendet.

Ähnliches gilt für Arnds Geschichte der französischen Nationalliteratur: Zunächst erinnert er innerhalb einer Betrachtung der Einflüsse des römischen Dichters Marcus Annaeus Lucanus (39-65 n. Chr.) auf den französischen Philosophen der Aufklärung, Frangois-Marie Arouet (1694-1778) - d. h. Voltaire - an die Charakterisierung des römisches Reiches als Politische Religion, indem er den Dichter Lucanus als römischen Bürger „ohne Glauben an die officielle und politische Religion Rom's"[3] beschreibt. Inwieweit Arnd an dieser Stelle auf die alte Semantik zurückgreift, die er 1844 in seiner Geschichte des Ursprungs ausführlich darlegte, ist schwer zu beurteilen, da er nicht auf seine früheren Ausführungen zum Begriff verweist und auch keine weiteren Gedanken und Zeilen dieser Schrift der „politische[n] Religion Rom's" widmet. Diese semantische Ungewissheit wird durch die Betrachtung einer weiteren Fundstelle in der Geschichte der französischen Nationalliteratur mit zusätzlicher Irritation genährt: Einen lobpreisenden Blick auf den französischen Philosophen und Staatstheoretiker Charles de Secondat, Baron de Montesquieu (1689-1755), gerichtet thematisiert Arnd den posthumen Einfluss seiner Schriften und staatstheoretischen Gedanken während der Restauration der Bourbonenmonarchie in Frankreich und prophezeit, dass Montesquieus Ideen der

„Repräsentativregierung, wie er sie im Esprit des Lois in ihren Grundzügen bestimmt, die politische Religion der grossen Nationen Europa's werden."[4]


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[1] Ebd., S. 90.
[2] Eduard Arnd: Geschichte der letzten vierzig Jahre. Zweiter Theil. Berlin 1855, S. 4: „Wie einst Heinrich IV, beharrte auch Ludwig XVIII auf dem Princip der legitimen Thronfolge, und stellte dieses Recht als das Ursprüngliche voran. Aber eben so wie sein Vorfahr gab er dem in seinem Volke herrschenden Zuge nach, unterwarf sich der politischen Religion seiner Zeit, und hoffte dadurch den zwischen seiner Dynastie und der Nation entstandenen Bruch heilen zu können."
[3] Eduard Arnd: Geschichte der französischen Nationalliteratur von der Renaissance bis zu der Revolution. Zweiter Band. Berlin 1856, S. 109: „Selbst in dem an und für sich undichterischen Gefühle des Zweifels ist Lucan eigenthümlicher und grösser. Dieser erscheint oft, obwohl ohne Glauben an die officielle und politische Religion Rom's, als von innerer Unruhe, von tiefem Drange, die geheime Verbindung der Dinge, den Lauf des Schicksals, das Räthsel der Welt zu kennen, erfüllt, und spricht dieses ahnungsvolle Gefühl mit grosser Kraft aus."
[4] Ebd., S. 204: „Selten hat der Lauf der Begebenheiten die Meinungen eines grossen Geistes so bestätigt, wie es die Geschichte seit sechszig Jahren mit Montesquieu gethan. Die Zukunft, welche sich erkennen lässt, d. h. die schon in der Gegenwart eingeschlossen ist, und mit einer solchen allein kann sich der Mensch beschäftigen, wird, aller absolutistischen, demokratischen und socialistischen Experimente ungeachtet, nicht über Montesquieu hinausgehen, und die Repräsentativregierung, wie er sie im Esprit des Lois in ihren Grundzügen bestimmt, die politische Religion der grossen Nationen Europa's werden."

Arnd nutzt den Begriff Politische Religion an dieser Stelle mit einem abgewandelten Begriffsverständnis im Sinne einer politischen Idee oder Herrschaftsform, die von der jeweiligen Staatsführung als Optimum unter den zur Auswahl stehenden Arten politischer Systeme gewertet wird. Der ursprünglich negative, polemische Charakter der Politischen Religion Arnds scheint an dieser Stelle des Textes über Bord geworfen und der Begriff von jeglicher Wertung befreit worden zu sein; doch darf die zuvor von Arnd genutzte Semantik nicht vollständig ignoriert werden. So ließe sich der Begriff hier durchaus als Warnung vor einer Sakralisierung politischer Ideen - wie etwa auch der Ideen Montesquieus - verstehen.

Zusammenfassend kann für diese zwei späteren Schriften Arnds festgehalten werden, dass der Begriff Politische Religion nicht mehr - wie in der Geschichte des Ursprungs - als offensichtlicher Negativbegriff mit einer ihm inhärenten Kritik an dem so bezeichneten Objekt fungiert, sondern von einer Wertung losgelöst scheint. Arnds Kritik an einer Sakralisierung diesseitiger Wirklichkeiten, wie etwa von Staatsoberhäuptern oder Nationen, erinnert an das von Voegelin rund hundert Jahre später transportierte Begriffsverständnis in seiner Schrift Die politischen Religionen (1938).

Neben Karl Eduard Arnd verwendeten noch einige weitere Autoren des 19. Jahrhunderts den Begriff Politische Religion mit Bezug auf das antike Griechenland und das römische Reich: Der deutsche Philologe Gottfried Bernhardy (1800-1875) bezog zunächst den Begriff Politische Religion in seinem Grundriss der Griechischen Litteratur auf die griechische Staatskultur, in der „durch Religion [...] die Politik erhöht" werde und selbst die Kunst im Kreis der Politischen Religion eine tragende Rolle eingenommen habe. Einige Jahre später besann sich Bern- hardy in der vierten, erweiterten Auflage seines Grundriss der Römischen Litteratur auf den Begriff und verwendete ihn an mehreren Stellen auf das römische Reich in der Antike, in dem offenbar „lange Zeit der agrarische (plebejische) Naturdienst [überwog], ehe die politische Religion der Stadtgemeine heran trat."[1] Auch Bernhardy scheint mit Verwendung des Begriffs Politische Religion eine Kritik an einem Schwerpunkt der römischen Religion auf Diesseitig- keiten wie dem Staatswesen zu legen und einer damit einhergehenden Vernachlässigung des Glaubens an einen Gott bzw. mehrere Götter zu formulieren. Zwei weitere Verwendungsbelege finden sich im Fußnotenapparat dieser vierten, erweiterten Auflage, aber auch hier schenkt Bernhardy dem Begriff keine weitere Beachtung, sondern erwähnt lediglich „Roms politische Religion"[2], ohne den Lesenden den Begriff näher zu bringen oder sich auf die semantischen Erläuterungen eines anderen Autoren zu beziehen.

Gleichfalls bedeckt hinsichtlich eines Begriffsverständnisses hielt sich Ferdinand Tiling (1802-1874), ein evangelischer Pastor aus Bickern bei Riga, in seiner Vorlesung Ueber den
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[1] G[ottfried] Bernhardy: Grundriss der Römischen Litteratur. Vierte Bearbeitung. Braunschweig 1865, S. 165.
Die erste Ausgabe des Grundrisses der Römischen Litteratur erschien 1830; mit jeder darauf folgenden neuen Auflage (1850, 1857, 1865 und 1872) wurde die Schrift neu bearbeitet und wuchs im Umfang.
[2] Bernhardy: Grundriss, S. 858, Anm. 586: „Was Macrobius Sat. I, 18, 4. durch Granius Flaccus bestätigt, passt auf jeden Mythographen; was er aber I, 16, 80. apud Granium Licinianum libro II. fand, betrifft Roms politische Religion." Siehe auch ebd., S. 117, Anm. 110: „Bedenkt man den innigen Verband Etruskischer Staaten mit Rom, das seine politische Religion, sein geistliches Recht, viele Stücke des Kultes, einen grossen Theil seines feinen Haushaltes, und was mehr bedeutet einen ganzen Stock seiner ursprünglichen Bevölkerung dorther empfing, so befremdet anfangs die mässige Zahl technischer Ausdrücke (darunter die Namen der tribus nach Volnius, qui tragoedias Tuscas scripsit, Varro L. L. V, 55), welche von den Etruskern abgeleitet wird."

Kampf der Reformation und Reaction, welchen uns der Entwicklungsgang Europa's vor Augen stellt, die er am 23. Januar 1862 „im Museum"[1] vortrug. Das Ziel seines Vortrages war, seinen Zuhörern eine kurze Überblicksdarstellung der verschiedenen Phasen des „Reform- und Reac- tions-Kampf[es]" innerhalb des Christentums zu geben, beginnend mit der Entstehung des christlichen Glaubens als neuer monotheistischer Religion und Gegenstück zu den polytheistischen Religionen jener Zeit:

„Ein neuer Glaube, von den politischen Religionen des Alterthums ganz verschieden, durch den göttlichen Gehalt und rein sittlichen Geist alle früheren Religionen überragend, darum ein Reich Gottes genannt, so war das Christenthum in das Römerreich eingetreten."[2]

Aus dem textlichen Umfeld kann eine Ahnung über Tilings Verständnis von dem Begriff Politische Religion herausgefiltert werden, worin „das Heidenthum" der Römer als „mit Denkart und Sitte, Kunst und Wissenschaft und mit dem Staate innig verwebt und verflochten"[3] beschrieben wird. Die transzendente und diesseitige Ebene seien in der Politischen Religion Roms in einer gegenseitigen Abhängigkeit miteinander vernetzt gewesen, so dass mit dem schwindenden Glauben innerhalb der Bevölkerung die Grundfesten des römischen Reiches erschüttert zu werden drohten. Weitere Verwendungsstellen sind in diesem kurzen Vortrag nicht vorhanden, so dass keine weiteren Untersuchungen zum Begriffsverständnis der Politischen Religion bei Tiling möglich sind.

Im Vergleich zu Bernhardy und Tiling verleiht der deutsche Althistoriker Heinrich Nissen (1839-1912) dem Begriff Politische Religion in seinem Beitrag Ueber Tempel-orientirung mehr Substanz. Seinen Artikel leitet Nissen mit einer Betrachtung der Fortentwicklung von Religion ein, die er in drei Hauptphasen einteilt: In den Anfängen der Menschheit sei Religion von natürlicher Wesensart gewesen, doch „das Bürgertum verlieh ihr einen politischen Charakter" und habe im Altertum einen „politischen Polytheismus"[4] hervorgebracht. Erst in der Neuzeit sei die Religion von ihrem politischen Anstrich befreit und mit einem universalen Charakter neu bekleidet worden, was sich in der „Gleichheit des Bekenntnisses"[5] ausdrücke.

Im Gegensatz zur neuzeitlichen, universalen Religion falle im Altertum „der Begriff der politischen und religiösen Gemeinde zusammen; die eine kann gar nicht ohne die andere gedacht werden." So sei das Dasein der Götter an die Existenz des Staates oder anderer weltlicher Dinge gebunden; beide Schicksalsstränge seien miteinander verwoben - eine Symbiose, die jede gemeinschaftsfremde Person gleichzeitig von der Religion exkludiert und „das Wesen der politischen Religion"[6] ausmache. Im „individuelle[n] Charakter der politischen Religion"
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[1] F[erdinand] Tiling: Ueber den Kampf der Reformation und Reaction, welchen uns der Entwicklungsgang Europa's vor Augen stellt. Vorlesung im Museum den 23. Januar 1862, in: Mittheilungen und Nachrichten für die evangelische Kirche in Rußland 18 (1862), S. 121-140. Beim „Museum" könnte es sich um eine literarisch-gesellige Vereinigung gehandelt haben, siehe hierzu Uwe Puschner: Verzögerte Aufklärung. Lesegesellschaften in Kurbayern, in: Aufklärung 5.2 (1991), S. 29-48.
[2] Ebd., S. 123.
[3] Ebd.: „Der alte Heiden-Glaube war schon vorher von den Philosophen und Denkern, von ihren Lehren und Grundsätzen erschüttert und wankend in den Gemüthern gemacht worden, die alte Götterverehrung aller Orten von Vielen verlassen, die Völker hingen nicht mehr mit der alten Ehrfurcht und Treue ihren Göttern und Tempeln an; dennoch bestand im ganzen Umfang des weiten Römerreiches noch immer das Heidenthum, denn es war mit Denkart und Sitte, Kunst und Wissenschaft und mit dem Staate innig verwebt und verflochten."
[4] Heinrich Nissen: Ueber Tempel-orientirung, in: Rheinisches Museum für Philologie 28 (1873), S. 513-557, Zitat S. 516.
[5] Ebd., S. 517.
[6] Ebd.

hebt Nissen zwei Eigenschaften zur Abgrenzung von „den Weltreligionen der Neuzeit"[1] hervor: Einerseits eine „allgemeine Toleranz" gegenüber anderen Götterwelten aufgrund des fehlenden Grundsatzes eines „alleinigen wahren Gott[es]" und andererseits ein „unendliches Accomodations- und Assimilationsvermögen", das die Aufnahme neuer göttlicher Wesen in die einheimische Götterwelt bei territorialen Eroberungen und damit einen Zusammenschluss verschiedener Religionssysteme unter dem Mantel einer weltliche Herrschaft ermöglicht habe. Im Norden Europas seien Naturreligionen erhalten geblieben, die im Gegensatz zu der

„entwicklungsreiche[n] politische[n] Religion"[2] gestanden haben. Im Unterschied zu Arnds Religionssystematik, nach der die Politische Religion eine Vermengung von Naturreligion und Priesterreligion sei, erwachse nach Nissens Ausführungen „die politische Religion auf dem Boden der natürlichen" Religion und könne ohne diesen Verweis auf „ihren Ursprung schlechterdings nicht begriffen werden."[3] Der Begriff der Priesterreligion taucht in seinen Darlegungen zur Religion nicht auf.


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[1] „Der individuelle Charakter der politischen Religion involvirt zwei Eigenschaften, welche im offenbarsten Widerspruch zu den Weltreligionen der Neuzeit stehen" (ebd., S. 518).
[2] Ebd.: „Im nördlichen Europa traf das Christentum auf einen Glauben, der den Wandlungen der Cultur fremd sich noch wesentlich in den primitiven Formen bewegte. Deshalb nahm es hier eine ein-fachere Färbung an, bewahrte die Natursymbolik in viel ausgedehnterem Masse, als solches auf dem Boden, den die entwicklungsreiche politische Religion behauptet, der Fall sein konnte."
[3] Ebd.: „In gleichem Sinne war die politische Religion auf dem Boden der natürlichen erwachsen und kann ohne Rücksicht auf diesen ihren Ursprung schlechterdings nicht begriffen werden."