1.1.3. 19. Jahrhundert
Der im 17. Jahrhundert zum ersten Mal belegten Verwendungslinie des Begriffs Politische Religion bezogen auf einzelne biblische Episoden wie zu Jerobeam I. oder den Sadduzäern blieben vermutlich nur wenige Autoren des 19. Jahrhunderts treu: Einzig in der Praktischen Einleitung ins Alte Testament des evangelischen Theologen Johann Gottfried Immanuel Berger (1773-1803) konnte eine entsprechende Textstelle recherchiert werden, worin „die von den israelitischen Königen erfundene politische Religion" erwähnt wird, „nach welcher Jehove unter dem Bilde eines Stieres an verschiedenen Orten verehrt wurde"[1], womit Berger auf die bereits an mehreren Stellen thematisierte Etablierung einer neuen Religionspraxis durch Jerobeam I. verweist. Die bereits von anderen Verfassenden formulierte Kritik an dem Missbrauch und der Lenkung von Religion für politische Zwecke ist auch in Bergers Begriff Politische Religion vorzufinden. Im Gegensatz dazu lässt sich im überwiegenden Teil der in diesem Kontext recherchierten Quellenbelege aus dem 19. Jahrhundert eine zu Karl Friedrich Bahrdts Interpretation ähnliche Verschiebung innerhalb der Verbindung zwischen Politischer Religion und Judentum erkennen, in denen die Verfassenden die Bezeichnung oder gar Diffamierung als Politische Religion nicht nur auf Versatzstücke anwenden, sondern - wie Eberhard und im Ansatz auch Bahrdt - ganz unspezifisch auf das Judentum im Gesamten ausweiten.
In einem Artikel des Bayerischen Volksblatts berichtet der unbekannte Verfasser über die Debatte am 4. Februar 1832 in der bayerischen Ständeversammlung zur Emancipation der Juden und der Gewährung des vollen Staatsbürgerrechts bei Erfüllung zuvor bestimmter Auflagen wie der „Abschaffung des Talmuds und Verlegung des Sabaths auf den Sonntag"[2]. Dabei wägt er die sich hieraus ergebenden Konsequenzen für die Ausübung der jüdischen Religionsgesetze ab mit der Grundhaltung, dass diese gestellten Bedingungen zumindest nicht als Aufforderung zur Abwendung vom jüdischen Glauben gewertet werden könne. Es handle sich nicht um Elemente des Glaubens, die das Wesen des Judentums ausmachen würden. Etwa den Sabbat betreffend sei nicht einmal gesichert festgelegt, „ob aber die mosaische Woche mit unserem Sonntag oder unserem Montag beginne"[3], womit der nach jüdischen Gesetzen zu zelebrierende siebte Tag der Woche gleichfalls auf den Sonnabend oder Sonntag fallen könne. Daher könne man keinen „wirklichen, aus der politischen Religion der Juden abgeleiteten Grund [...] als für die dünkelhafte Isolierung des sogenannten auserwählten Volkes von allen andern Nati- onen"[4]
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[2] [Anon.]: Die Emancipation der Juden, in: Bayerisches Volksblatt. Eine constitutionelle Zeitschrift, Nr. 15, 4.Februar 1832, S. 124-126, Zitat S. 124.
[3] Ebd., S. 125.
[4] Ebd., S. 125: „Wollte man aber einen wirklichen, aus der politischen Religion der Juden abgeleiteten Grund für diese eigene Feier des Sabaths aufsuchen, so dürfte ein solcher Grund der Emancipation der Juden gerade gefährlich seyn, denn ein solcher Grund könnte kein anderer seyn, als für die dünkelhafte Isolirung des sogenannten auserwählten Volkes von allen andern Nationen, selbst in der abgesonderten Feier des Sabaths ein Mittel festzuhalten."
für ein Festhalten am Sonnabend für das Sabbatfest herausarbeiten. Die in diesem Artikel erwähnte „politische Religion der Juden" erinnert an Eberhards Schrift Geist des Ur- christenthums. Im Gegensatz zu Eberhard wird der Begriff in dieser Quelle nicht näher ausgeführt oder erläutert und auch die vom Verfasser intendierte Konnotation kann ohne jede indi- zienhafte Richtungsweisung bei diesem Quellenfund schwer erahnt werden.
Ähnlich verschwommen bzw. schwer greifbar gestaltet sich die konnotative Bewertung des Begriffs Politische Religion in den geschichtlichen und geographischen Schilderungen des polnischen Generals Roman Graf von Soltyk (1791-1843) zu den revolutionären Bewegungen in seinem Heimatland in den Jahren 1830/31, die einen Umsturz der russischen Vorherrschaft auf polnischem Territorium mit dem Ziel der Errichtung eines souveränen polnischen Staates herbeizuführen versuchten. Soltyk war als Generalkommandant der polnischen Nationalgarde unmittelbarer Beteiligter und Augenzeuge der Ereignisse des sogenannten Novemberaufstands, die er aus seinem Exil für die Nachwelt zu Papier brachte; auch um das Versäumnis nach der Revolution von 1794 nicht zu wiederholen, die Fehler einer Generation aus der eigenen Perspektive als Lehre für die Nachwelt in Ereignisberichten und Geschichtsbüchern festzuhal- ten.[1] Zur Einleitung erhält das Lesepublikum eine kurze Überblickdarstellung zur polnischen Nationalgeschichte, die den Blick unter anderem auf die Bevölkerung der Städte lenkt. Im Zusammenhang mit einem Verbot für polnische Edelleute, sich einem Gewerbe selbst zu widmen, kommt Soltyk auf die jüdische Bevölkerungsschicht zu sprechen, derer sich die polnische Adelsschicht als Vermittler in ihren Handelsgeschäften bediente. Die gesetzlichen Umstände der adligen Bevölkerung und zusätzliche königliche Privilegien ausnützend, habe die jüdische Bevölkerung durch schamlosen Wucher einen großen Reichtum erworben;
„neanmoins cette race etrangere, a laquelle une religion toute politique defend de se meler avec les autres peuples, n'avait pour ainsi dire en Pologne que des comptoirs, ce qui n'ajoutait presque rien a la prosperite du pays."[2]
Obgleich sie innerhalb der polnischen Bevölkerung leben und agieren, sei die jüdische Gemeinschaft - „cette race etrangere" - aufgrund ihrer „religion toute politique", die jede ethnische Vermischung mit Personen anderer Glaubensgemeinschaften verbietet, lediglich eine Zahl im Zensus, ohne sich als Gemeinschaft mit der polnischen Gesellschaft zu verbinden und in ihr aufzugehen. Im Gegensatz zu anderen Autoren, die ebenfalls in ihren Texten auf das Judentum in seiner Gesamtheit rekurrieren, interpretiert Soltyk das jüdische Volk nicht nur als Gemeinschaft im Glaube, sondern als eine „race", eine eigene Ethnie aufgrund ihrer im Glaube begründeten restriktiven Fortpflanzungspolitik. Im begrifflichen Verständnis Soltyks ist dieses biologistische Moment als massiver Eingriff von Religion in den profanen Bereich seiner Anhänger durch eine fortpflanzungspolitische Exklusion nach außen ein Ausdruck der Politischen Religion des Judentums. An dieser Stelle nicht ganz eindeutig bestimmt werden kann die vom Autor beabsichtigte Konnotation des Begriffs Politische Religion, was mitunter der singulären Verwendung innerhalb des gesamten Werkes geschuldet ist. Es scheint, dass es sich bei Soltyks Politischer Religion um eine Polemik zur Wesensumschreibung einer in weltliche Belange der
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de l'Histoire de la Pologne depuis son origine jusqu'en 1830. Tome Premier. Paris 1833, Preface, VII-X.
[2] Ebd., S. 11.
Anhänger eingreifende und die profane Gemeinde nach außen abgrenzende Religion handelt. Diese „religion toute politique" Soltyks wird in der 1834 veröffentlichten deutschen Übersetzung Polen, geographisch und historisch geschildert kaum verändert mit den Worten „sehr politische Religion"[1] übersetzt, ohne dass der Sinn des Originaltextes verschoben oder verändert worden ist.
Die sukzessive Zunahme dieser Bedeutungsverschiebung des Judentums von einer religiösen hin zu einer ethnischen Gemeinschaft, die von christlichen Völkern zu unterscheiden sei, und damit die allmähliche Umwandlung des Antijudaismus hin zu einem Antisemitismus findet sich in zahlreichen Schriften wieder und nimmt bis zur Jahrhundertwende an Quantität und Radikalität ihrer xenophoben Exklusionsrhetorik extrem zu.[2] Bedingt und getragen wurde diese Entwicklung unter anderem von der Integration von Juden in die bürgerlichen Gesellschaften und der sich daraus entwickelten Frage nach einer jüdischen Emanzipation. Diese Verschiebung hin zu einem biologistischen Moment in der Abgrenzung von Glaubensgemeinschaften spielte bereits in Soltyks Begriffsverwendung und der Bedeutungsnuance seiner Politischen Religion eine Rolle und tritt fünfzehn Jahre später in einer anderen Quelle erneut auf. Auf mehrere Ausgaben der Beilage zur Augsburger Postzeitung verteilt wurde 1849 ein Beitrag Zur Abwehr veröffentlicht, in welchem der Verfasser seine in einem zuvor erschienenen Artikel bekundete Meinung, die Juden seien „mehr eine politische als eine religiöse Secte"[3], gegen eine schriftlich vorgetragene Argumentation zur Widerlegung seiner Behauptung verteidigt.
Aus seiner Definition der Juden als „politische Secte", die man zwar „kirchlich emanci- pieren" könne, wofür der Verfasser auch plädiert, „aber nicht staatlich"[4], weil dies jeglicher Vernunft widersprechen würde, leitet der Verfasser eine Unterscheidung der jüdischen Gemeinschaft bzw. des „Judenvolks" von christlichen Nationen wie beispielsweise dem „Bayer- volk"[5] ab. Als ein ausschlaggebendes Argument für diese Wesenszuschreibung führt der Verfasser die enge Verbindung zwischen Herkunft und Zugehörigkeitsstatus zur jüdischen Gemeinschaft als Exklusionsmaßnahme gegenüber Anhängern anderer Religionssysteme an, um die eigenen Glaubenssätze vor dem Eindringen fremder Gottesvorstellungen zu bewahren. So bleibe nach den Vorstellungen des Verfassers jeder zum Judentum konvertierte Mensch weiterhin
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[1] Von einem Augenzeugen [Roman Soltyk]: Polen, geographisch und historisch geschildert. Mit einer vollständigen Geschichte der Jahre 1830 und 1831. Zwei Theile in Einem Band. Stuttgart 1834, S. 15: „Diese, begünstigt von dem Adel, und unter Casimir des Großen Regierung mit Privilegien versehen, welche sie unter den Wahlkönigen sich zu erhalten wußten, hatten beinahe die ganze Industrie unter ihren Händen, und erwarben durch schamlosen Wucher ungeheure Kapitalien; nichts desto weniger hatte diese fremde Race, welcher eine sehr politische Religion jede Vermischung mit andern Völkern ausdrücklich verbietet, in Polen, so zu sagen, nur Comptoire, was beinahe gar nichts zum Wohlstande des Landes beitrug."
[2] Zur Entstehungsgeschichte des Antisemitismus sowie zur Antisemitistischen Bewegung am Ende des 19. Jahrhunderts, aus der zum Teil Anhänger des antisemitischen Flügels der zur Jahrhundertwende entstandenen Völkischen Bewegung hervorgingen, siehe: Massimo Ferrari Zumbini: Die Wurzeln des Bösen. Gründerjahre des Antisemitismus. Von der Bismarckzeit zu Hitler (= Das Abendland Neue Folge, 32). Frankfurt am Main 2003; Uwe Puschner: Die völkische Bewegung im wilhelminischen Kaiserreich. Sprache, Rasse, Religion. Darmstadt 2001; Peter Pulzer: Die Entstehung des politischen Antisemitismus in Deutschland und Österreich 1867 bis 1914. Göttingen 2004.
[3] [Anon.]: Zur Abwehr, in: Beilage zur Augsburger Postzeitung, Nr. 165, 19. December 1849, S. 505f., Zitat S. 505.
[4] [Anon.]: Zur Abwehr. II, in: Beilage zur Augsburger Postzeitung, Nr. 170, 25. December 1849, S. 518f. Zitat S. 518: „Ist dieß der Fall, so kann man die Juden kirchlich emancipieren, wofür ich ganz und gar bin, aber nicht staatlich, weil dieß letztere das Widersprechende, die Unvernunft mit der Vernunft vereinigen hieße."
[5] Ebd., S. 518: „Eben so können Bayern und Juden kirchlich nebeneinander bestehen [...], aber sie können nicht staatlich nebeneinander bestehen, wie sich Bayervolk und Judenvolk auch dem Begriff nach ausschließen" [Hervorhebungen im Original].
ein Fremdling innerhalb der jüdischen Gemeinschaft, während ein vollwertiger Jude nur von Juden geboren werden könne.
„Ich hatte behauptet, daß ein Fremder, auch wenn er die mosaische Religion angenommen, ein Fremder dem Blut und Stamme nach bleibe, und daß dieß im Wesen der politischen Religion des Judenthums begründet sey."[1]
Den von ihm zitierten Einwand des Rabbi Joseph Aub (1804-1880), dass aufgrund der Liberalität der jüdischen Gemeinschaft selbst Kinder von nichtjüdischen Frauen mit jüdischen Männern als vollwertige Juden anerkannt werden, relativiert der Verfasser mit dem Einwand, dass es sich um eine gängige Praxis in allen Religionsgemeinschaften bei der Frage um weltliche und religiöse Herkunft und Zugehörigkeit des Kindes handle, die Abstammung des Kindsvaters zur Entscheidung heranzuziehen. Dabei missachtet der Verfasser, dass die Abstammungsfrage im Judentum eigentlich über die Kindsmutter entschieden wird, die Öffnung der Abstammungsfrage zugunsten des Kindsvaters ein Zugeständnis entgegen der theologischen Anleitung bildet.
Der Begriff Politische Religion steht an dieser Stelle analog zur jüdischen Gemeinschaft, zur „politischen Secte" und bezeichnet, wie schon zuvor bei Soltyk, die massiven Eingriffe der religiösen Lehre in den profanen Bereich wie etwa durch Reglementierung der Fortpflanzung durch eine endogame Heiratspolitik. Denn während der Verfasser den Ausdruck „politische Secte" stets im Zusammenhang mit den Juden als Person oder Gemeinschaft verwendet, findet sich der Begriff Politische Religion an dieser einzigen Verwendungsstelle in kontextueller Begleitung des Begriffs Judentum, womit vornehmlich die Theologie, die Glaubenslehre in ihrer Gesamtheit bezeichnet wird. Die Ahnung einer negativ konnotierten Begriffsverwendung lässt sich anhand dieser einzigen Verwendungsstelle nicht zweifelsfrei herausarbeiten bzw. bestätigen.
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[1] Ebd., S. 519.
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