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6. Zusammenfassung

Der Historiker Hans Otto Seitschek leitet seinen Aufsatz Frühe Verwendungen des Begriffs „Politische Religion" mit der Feststellung ein, Thomson und Campanella, welche ihren lateinischen Texten entsprechend den Begriff religio politica heranzogen, stünden „am Beginn der Begriffsbildung politischer Religion'."[1] Diese Aussage Seitscheks aus dem Jahr 2003 wurde in der Forschung zwar viel zitiert, aber bislang erfolgten keine weiteren Untersuchungen
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[1] Seitschek: Frühe Verwendungen, S. 109. Auch in seiner 2017 veröffentlichten Monographie Religionsphilosophie als Perspektive bleibt Seitschek bei seinen Forschungsergebnissen von 2003 und erwähnt Thomsons Veröffentlichung Vindes veritatis (1606) als erste Fundstelle der lateinischen Form religio politica (Seits- check: Religionsphilosophie als Perspektive, S. 21, Anm. 72). Angemerkt sei an dieser Stelle, dass die Verfasserin bereits in ihrer unveröffentlichten Masterarbeit aus dem Jahr 2013 auf den weitaus umfangreicheren Quellenbestand der Frühen Neuzeit und auf weiter zurückreichende Fundstellen wie etwa im Vorwort der deutschen Übersetzung von Antoine Arnauld aus dem Jahr 1602 hingewiesen hat.

zu frühen Verwendungen bzw. zur Entwicklung des Begriffs Politische Religion. Umso erstaunlicher war im Zuge der ersten Recherchen und Vorarbeiten zu dieser Studie die Entdeckung, dass der Begriff Politische Religion bereits vor der bislang angenommen ersten Erwähnung des Begriffs religio politica bei George Thomson in den deutschen Sprachraum Eingang fand. Mit den Fundstellen in der Übersetzung von Jacques Amyot und im Text von Rene Choppin konnten nichtdeutsche Entsprechungen des Begriffs Politische Religion sogar bis ins 16. Jahrhundert zurückverfolgt werden. Des Weiteren überraschte auch die Anzahl der ermittelten Fundstellen des Begriffs, die im Laufe der Jahrhunderte rapide zunehmen und damit ein anderes Bild der Quellenlage zeichnen, als bislang in der Forschung dargestellt wurde.[1] Zwar kann - auf den bisher von der Verfasserin ermittelten Quellen basierend - nicht von einer regen Benutzung des Begriffs im 16. und 17. Jahrhundert gesprochen werden, doch sind deutlich mehr Quellenbelege vorhanden, als es bislang gemäß des aktuellen Forschungsstands den Anschein hatte.

Die Recherchen für diese Arbeit gingen teilweise über den deutschen Sprachraum hinaus und haben Fundstellen in lateinischen, englischen, französischen, niederländischen und ungarischen Texten zu Tage gefördert, so dass in der Untersuchung die Verwendung von Äquivalenzbegriffen zur Politischen Religion in anderen Sprachräumen angerissen werden konnte, die verschiedentlich semantische Ähnlichkeiten zu den herausgearbeiteten Verständnisfeldern des Begriffs im deutschen Sprachraum aufzeigen. Diese fremdsprachlichen Fundstellen dürfen sowohl quantitativ als auch mit Blick auf die Zahl unterschiedlicher Sprachräume, in denen Entsprechungen zum Begriff Politische Religion zu finden sind, nicht als ausgeschöpft recherchiert betrachtet werden. Vielmehr sollen die eingefügten Fundstellen der Begriffe religio politica, religion politique, political religion und weiterer Lehnwörter in anderen Sprachen als erste Anknüpfungspunkte für tiefer greifende Untersuchungen der jeweiligen Sprachräume und Verwendungsfelder inspirieren. Insgesamt wurden wesentlich mehr Quellen ermittelt, als tatsächlich in diese Untersuchung eingebunden werden konnten, was gleichermaßen für deutschsprachige Fundstellen als auch für Quellen aus anderen Sprachräumen gilt.

Entgegen der bisher in der Forschung erzielten und publizierten Ergebnisse einer frühen Verwendung des Begriffs Politische Religion ist es faszinierend, feststellen zu können, dass dieser Begriff bereits im 16. und 17. Jahrhundert eine in den verschiedenen Sprachräumen Europas verbreitete Anwendung erfahren hat. Eine Verwendung in der jeweiligen Nationalsprache und damit abseits des Lateinischen erfuhr der Begriff vor allem in jenen Sprachräumen, die sich für eine Nutzung der eigenen Nationalsprache als Wissenschafts- bzw. Gelehrtensprache bereits geöffnet hatten.[2] Zieht man zu diesen Ergebnissen die eingangs betrachteten Quellen des 16. Jahrhunderts hinzu, so ist die Vermutung durchaus nicht abwegig, dass der Begriff bereits im 16. Jahrhundert oder sogar früher eine Verbreitung in weiteren Sprachräumen erfahren hat, die bisher nicht mit Quellenbelegen nachgewiesen werden kann. In Anbetracht der wie eingestreut
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[1] Auf der Grundlage der Ergebnisse dieser bisher stiefmütterlich behandelten Untersuchung zu frühen Verwendungen des Begriffs Politische Religion und der damit einhergehenden geringen Anzahl an bis dato bekannten Fundstellen urteilt bspw. auch der Historiker Hans Maier in einem 2019 erschienenen Aufsatz: „VerWendungen des Begriffs in früheren Jahrhunderten - wie sie vereinzelt vorkommen - haben keine Schule gemacht." (Hans Maier: Das „Dritte Reich" im Visier seiner Gegner. Profane und religiöse Wahrnehmung, in: Daniel E.D. Müller, Christoph Studt (Hg.): „...und dadurch steht er vor Freisler als Christ und als gar nichts anderes..." Christlicher Glaube als Fundament und Handlungsorientierung des Widerstands gegen des „Dritte Reich". Tagungsband zur XXX. Königswinterer Tagung [= Schriftenreihe der Forschungsgemeinschaft 20. Juli 1944 e.V.]. Augsburg 2019, S. 15-29, hier S. 18).
[2] Zur Entwicklung des Deutschen als Gelehrtensprache siehe Wolf Peter Klein: Die deutsche Sprache in der Gelehrsamkeit der frühen Neuzeit. Von der lingua barbarica zur HaubtSprache, in: Herbert Jaumann (Hg.): Diskurse der Gelehrtenkultur in der frühen Neuzeit. Ein Handbuch. Berlin 2011, S. 465-516.

wirkenden Begriffsverwendung durch Petrus Denaisius in seinem 1602 veröffentlichten Vorwort erhärtet sich gleichfalls die Vermutung, die deutschsprachige Variante des Begriffs Politische Religion könnte möglicherweise bereits im 16. Jahrhundert Anwendung gefunden haben. Wie weit verbreitet der Begriff religio politica samt seinen Entsprechungen in anderen Sprachräumen im Europa des 16. und 17. Jahrhunderts tatsächlich war, ob die begriffliche Genese beispielsweise in einem engen Kontext zu den reformatorischen Umwälzungen in Europa steht oder in vorreformatorische Zeiten oder gar bis in die Antike zurückreicht, konnte nicht geklärt werden. So ist auch zu bedenken, dass die überlieferten bzw. heute noch zugänglichen Texte der Frühen Neuzeit kein Abbild der Gesamtheit der Druckerzeugnisse jener Zeit widerspiegeln und sich seinerzeit noch mehr Personen des Begriffs bedient haben könnten. Es ist wenig überraschend, dass die Quellenfunde für das 17. Jahrhundert im Vergleich zu den recherchierten Schriften des 18. und 19. Jahrhunderts recht überschaubar sind, wofür verschiedene Faktoren verantwortlich sind. In erster Linie war die Gesamtzahl an gedruckten Texten im 17. Jahrhundert geringer als in den darauffolgenden Jahrhunderten. Der Anstieg von Druckerzeugnissen ist mitunter eine Konsequenz der wachsenden Zahl an Gelehrten sowie an (lese- und schreibfähigen) Menschen insgesamt. Es ist aber zweifellos auch den Weiterentwicklungen im Bereich des Druckereiwesens zu verdanken, durch die sich die Produktivität auf materieller Ebene durch bessere und schnellere Druckverfahren und Vervielfältigungsmöglichkeiten in den nachfolgenden Jahrhunderten steigerte. Des Weiteren ist es vor allem eine Frage der Überlieferungslage und -umstände: So liegt zwischen den Schriften des 17. Jahrhunderts und der Gegenwart eine größere Zeitspanne mit politischen, religiösen und gesellschaftlichen Umbrüchen, die es für ein Druckerzeugnis zu überdauern galt als für Veröffentlichungen aus den nachfolgenden Jahrhunderten. Publikationen bzw. Texte sind im Laufe der Zeit aus unterschiedlichen Gründen verloren gegangen oder konnten nicht überdauern, etwa weil sie vorsätzlich aus politischen oder religiösen Erwägungen vernichtet oder versehentlich zerstört wurden. Dass Schriften des 17. Jahrhunderts einer Zerstörung und damit dem Vergessen entgangen sind und durch die Zeit konserviert werden konnten, ist nicht selten dem Zufall zuzuschreiben. In einigen Fällen ist es aber auch einer breiten Rezeption und dem damit einhergehenden zeitgenössischen Bekanntheitsgrad der jeweiligen Publikationen zu verdanken. Desto näher wir uns in Richtung Gegenwart bewegen, umso größer ist die Möglichkeit und Wahrscheinlichkeit, dass der Radius und Grad der Bekanntheit eines Textes erweitert und dessen physisches Überdauern gesichert werden kann.

Der Begriff Politische Religion wird in den Quellen überwiegend eher nebensächlich ohne eine nähere Präzisierung oder weitere Umschreibung zum Begriffsverständnis verwendet, wodurch zunächst der Eindruck erweckt wird, er sei zur jeweiligen Zeit allgemein recht bekannt gewesen. Im Großteil der Schriften wird dem Begriff nur ein sehr geringer Platz eingeräumt, so dass er nur in wenigen Fällen an mehr als einer Stelle zu finden ist und oftmals mehr zufällig von den unterschiedlichen Verfassenden in den Text eingestreut worden zu sein scheint. Nur sehr wenige der untersuchten Fundstellen bzw. Quellen widmen sich dem Begriff etwas eingehender, versuchen den Lesenden eine Definition zu liefern, nutzen ihn an mehreren Stellen der ermittelten Quellen oder nehmen ihn gar in ihr begriffliches Repertoire auf (zum Beispiel Sem- ler, Haller, Börne). Der Facettenreichtum im Begriffsverständnis und der selbstverständlich wirkenden Gebrauch des Begriffs Politische Religion, welche den Lesenden bereits im 17. Jahrhundert begegneten, liefern weitere Indizien zur Untermauerung der oben bereits geäußerten Vermutung einer bislang ungeahnten Verbreitung des Begriffs im 16. Jahrhundert und bieten Ansatzpunkte für die These, dass der Ursprung sogar vor dem 16. Jahrhundert liegen könnte und Politische Religion als zusammenhängender Begriff bereits länger in Gebrauch war, als bislang nachgewiesen werden kann.[1] Die fehlenden Definitionen und Auseinandersetzungen mit dem Begriff sowie dessen oft nur singuläre Verwendung im überwiegenden Teil des recherchierten Quellenkorpus deuten auf eine gewisse Popularität des Begriffs hin, die nähere Ausführungen zum Begriffsverständnis obsolet scheinen ließen. Von einem Diskurs über den Begriff Politische Religion oder einer Diskursgeschichte der Politischen Religion kann allerdings keine Rede sein, vielmehr ist der Begriff lediglich ein Teil von Diskursen zu anderen Terminologien oder Themen, ohne selbst genügend eigene Würdigung zu erfahren - wie zum Beispiel in der Auseinandersetzung zwischen Semler und Riem zum Religionsbegriff beobachtet werden konnte.

Die Formen der Publikationen, in denen Fundstellen des Begriffs Politische Religion ermittelt werden konnten, variieren zwischen Monographien, Sammelbänden, Periodika und Nachschlagewerken verschiedenster Prägungen. Erste Verwendungen des Begriffs in Nachschlagewerken konnten bereits für das 17. Jahrhundert belegt werden, allerdings sticht vor allem der unerwartete Fund in einer Ausgabe von Zedlers Universal-Lexicons von 1741 hervor, worin dem Begriff Politische Religion sogar ein eigenständiges Lemma geschenkt wurde. Neben der interdisziplinären Verwendungen innerhalb fachwissenschaftlicher, d. h. vor allem geistes-, religions- und kulturwissenschaftlicher Veröffentlichungen überraschten die Fundstellen in belletristischen Publikationen des 19. Jahrhunderts, wie etwa im Roman von Karl Ferdinand Gutzkow oder im Drama von Charles Nodier. Das semantische Spektrum und die Verwendungsfelder des Begriffs Politische Religion waren bereits im 17. Jahrhundert breit gefächert; die herausgearbeiteten Themenbereiche sollten nicht als abschließend betrachtet werden, da sie sich durch weitere, bisher unentdeckte Quellen sicherlich noch an Verwendungs- und Deutungsmöglichkeiten erweitern ließen.

Zentrale Entwicklungspunkte der Semantiken des Begriffs Politische Religion, einzelne Stationen der begrifflichen Weiterentwicklung können in einem Überblick wie folgt zusammengestellt werden: Im 16. und 17. Jahrhundert blieb die Anwendung des Begriffs weitgehend auf theologische bzw. religionsphilosophische Auseinandersetzungen oder Themen begrenzt. Für eine bessere Darstellung wurden für die Untersuchung mehrere Themenbereiche herausgearbeitet, in deren Kontext eine Verwendung des Begriffs Politische Religion zum Teil sogar in verschiedenen Sprachräumen ermittelt werden konnte. Im beginnenden 17. Jahrhundert war die Verwendung des Ausdrucks Politische Religion als Negativbegriff im Kontext konfessioneller Auseinandersetzungen innerhalb des Christentums sowie als Kritik an religiösem Indifferentis- mus besonders im Kontext von christlich-konfessionellen (Mehrfach-)Konversionen populär. Für die zwei weiteren, in der Arbeit thematisierten Anwendungsfelder des Begriffs Politische Religion im Kontext der religio externa sowie der nichtchristlichen Monotheismen Judentum und Islam konnten erste Fundstellen erst in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts ermittelt werden.

Trotz dieser bereits im 17. Jahrhundert vorhandenen semantischen Variationen wurde der Begriff Politische Religion von fast allen Autoren - mit Ausnahme Tommaso Campanellas und Leonard de Marandes - negativ konnotiert als Kritik- oder Polemikbegriff in inner- und interkonfessionellen Auseinandersetzungen des europäischen Christentums verwendet, gleichzeitig aber auch von christlichen - überwiegend protestantischen - Gelehrten als Negativbegriff zur
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[1] Hier könnte sich eine Recherche in digitalisierten lateinischen Texten des 16. Jahrhunderts und weiter zurückreichend lohnen.

Charakterisierung und Bewertung nichtchristlicher Religionen herangezogen. Die dem Begriff im 17. Jahrhundert innewohnende Kritik bzw. Polemik fußte insgesamt auf dem christlich tradierten Konzept der Trennung von Kirche und Staat, von Politik und Religion und richtet sich gegen eine Verknüpfung religiöser und weltlicher Belange; ohne diese Grundvoraussetzung ist eine polemische Semantik des Begriffs Politische Religion kaum praktikabel. Im Großteil der Quellen wird dem Begriff Politische Religion eine deskriptive Funktion in polemisierender Lesart zugesprochen; der Begriff beschreibt zwar eine religiöse oder theologische Haltung, stigmatisiert diese aber gleichzeitig durch das polemisierende Moment seiner Konnotation. Die Kritik betrifft insbesondere die Verquickung von diesseitigen und jenseitigen Bereichen sowie eine Instrumentalisierung von Religionen oder Konfessionen für weltliche Zwecke sowohl durch religiöse oder politische Institutionen, als auch durch Gruppierungen oder Einzelpersonen. Interessant ist unter anderem die schon im 17. Jahrhundert verwendete Charakterisierung des Islams als Politische Religion, die noch heute in (populär-)wissenschaftlichen, aber auch alltagspolitischen Auseinandersetzungen mit der islamischen Lehre anzutreffen sind.[1]

Im Allgemeinen wurde der Begriff Politische Religion im 17. Jahrhundert folglich als Pejorativum zur Diffamierung unliebsamer christlich-konfessioneller oder nichtchristlich-religiöser Gruppierungen oder bestimmter theologischer Positionen verwendet, wobei die Bandbreite der inkludierten Konfessionen und Religionen stark variieren konnte. Dementsprechend unterlag der Begriff keiner exklusiven Anwendung auf eine bestimmte christliche Konfession oder nichtchristliche Religion, sondern konnte unabhängig davon für jedes Glaubenssystem verwendet werden. Insgesamt muss festgestellt werden, dass der Begriff bereits im 17. Jahrhundert einen bis dato ungeahnten Facettenreichtum aufwies, der zum Teil noch in aktuellen Beiträgen in der entsprechenden semantischen Ausformung zu finden ist. Die dem Begriff Politische Religion in aktuellen Publikationen zugrundeliegende Unbestimmtheit, diese ihm innewohnende semantische Vielfältigkeit bzw. das sehr heterogene Begriffsverständnis ist folglich nicht erst einer steigenden Popularität und der damit verbundenen wachsenden Verwendung des Begriffs in der Publikationslandschaft seit Mitte der 1990er Jahre zuzuschreiben, sondern kann bis ins 16. Jahrhundert zurückverfolgt werden.

Während für diese Semantiken des Begriffs Politische Religion im 17. Jahrhundert zum Teil Fundstellen bis ins 21. Jahrhundert nachverfolgt werden können - wie etwa die ab dem 17. Jahrhundert belegbare Verwendung des Begriffs bezogen auf den Islam -, bildeten sich im 18. Jahrhundert neue Begriffsdeutungen heraus, die sich neben diesen „betagteren" Semantiken zusätzlich zu entfalten begannen, ohne diese zu verdrängen. Im Falle theologischer oder religionsphilosophischer Schriften blieb dem Begriff Politische Religion der Negativstempel erhalten, allerdings erlebte das Verwendungsfeld nichtchristlicher Religionen einen Zuwachs durch die Anwendung des Begriffs auf polytheistische Religionen (wie beispielsweise auf die Religionen der Antike) und später den Zoroastrismus. Eine weitere Ausdehnung des Anwendungsbereichs erfolgte in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts im Bereich christlich-theologischer Streitigkeiten durch die Verwendung des Begriffs Politische Religion in den Auseinandersetzungen zwischen Anhängenden der positiven Religion oder Offenbarungsreligion auf der einen Seite und der natürlichen Religion oder auch Vernunftreligion auf der anderen Seite.

In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts kann in Publikationen zur den Ideen Aufklärung eine tiefgreifende Neuerung belegt werden, die zu einem Paradigmenwechsel sowohl auf
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[1] Siehe hierzu die Verweise im Einleitungskapitel.

semantischer als auch auf konnotativer Ebene führte: Die Verlagerung der begrifflichen Bezugsebene von Objekten, wie beispielsweise religiöse und später auch politische Ideen oder Weltanschauungen, hin zu einer Subjektbezogenheit, indem der Begriff Politische Religion durch die Voransetzung eines Possessivums in eine unmittelbare Beziehung zu einem oder mehreren Individuen gesetzt wird. In diesem Verwendungsrahmen wurde der Begriff im Sinne einer Bezeichnung für die individuelle Gesinnung oder den persönlichen Glauben an sich in politischen, philosophischen, moralischen oder gar religiösen Fragen interpretiert. Weil sich der Begriff Politische Religion nicht mehr auf ein spezifisches Objekt bezog, wurde er universell auf alle denkbaren diesseits- und auch jenseitsbezogenen Ideen anwendbar. Infolgedessen kann von einer Art Privatisierung der Politischen Religion gesprochen werden, die sich aus dem Mitte des 18. Jahrhunderts aufkeimenden Verständniswandel des Religionsbegriffs hin zur Innerlichkeit des Subjekts ergibt, in dem Begriffe wie Religiosität zum Ausdruck eines religiösen Gefühls des Individuums an Bedeutung gewannen.[1] In diesem Verständnisrahmen wurde der Begriff Politische Religion seiner bis dato immanenten negativen Lesart entkleidet und entwickelte sich zu einem per se wertfreien Begriff, der erst durch eine Kontextualisierung eine mögliche konnotative Färbung erfährt. Dieser Mangel einer bereits dem Begriff innewohnenden sprachlichen Wertung ist eine Neuerung innerhalb der semantischen Spektren des Begriffs Politische Religion, in deren Konsequenz in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts erste wertfreie bis positiv konnotierte Lesarten ermittelt werden konnten, die später auch in anderen Deutungsansätzen Eingang fanden, zur Jahrhundertwende zunahmen und zum Teil sogar bis ins 20. Jahrhundert überdauerten.[2] Den Höhepunkt seiner Popularität erreichte diese Deutung des Begriffs im 19. Jahrhundert, um am Ende des Jahrhunderts an den Rand der verschiedenen Verständnisfelder gedrängt fast vollständig in Vergessenheit zu geraten; nur vereinzelt finden sich Fundstellen in Veröffentlichungen des 20. und 21. Jahrhunderts.

Durch die Zunahme der Begriffsverwendung in politischen, philosophischen oder anderen, nicht religionswissenschaftlichen Disziplinen eröffnete sich diesem neuen Verständnis des Begriffs Politische Religion im späten 18. Jahrhundert gleichfalls eine neue Ebene der Verwendung, indem er im Kontext (neuer) politischer Ideen oder Standpunkte - beispielsweise des Liberalismus oder auch des Royalismus - in politische Diskussionen einbezogen wurde. Diese neue Bezugnahme des Begriffs innerhalb politischer Texte und Auseinandersetzungen wird besonders ab dem Ende des 18. Jahrhunderts in Beiträgen zur Französischen Revolution deutlich und setzt sich in den nachfolgenden Publikationen des 19. Jahrhunderts fort, wie die Quellenfunde zu weiteren revolutionären Ereignissen oder staatspolitische Ideen belegen. In diesen Quellen wurde der Begriff von seiner bisher eher religionsphilosophischen Kontextualisierun- gen befreit und im Sinne politischer bzw. weltlicher Ideen oder Herrschaftsformen angewandt. Doch im Gegensatz zum zuvor erwähnten subjektbezogenen Begriffsverständnis wird in diesem Anwendungsfeld der Bezug des Begriffs zu einem so bezeichneten Objekt, der politischen Idee, hergestellt. In diesem Verständnisfeld erhält der Begriff eine gewisse inhaltliche Unabhängigkeit, so dass er universell auf verschiedene politische Ideen Anwendung finden kann; konfessionelle oder religiöse Belange spielen in dieser semantischen Richtung des Begriffs Politische Religion keine Rolle mehr. Bezogen auf die konnotative Ausrichtung zeigen die zur Französischen Revolution und anderen revolutionären Ereignissen untersuchten Quellen eine gewisse Ambivalenz, die aus einem dem Begriff per se fehlenden Wertungsmuster entspringt. Weil die
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[1] Siehe hierzu die Ausführungen im Einleitungskapitel.
[2] Siehe hierzu die im zwölften Kapitel vorgestellten Schrift von Alois Hompf.

Anwendung des Begriffs nicht auf bestimmte, nach Merkmalen zu definierende politische Philosophien oder Herrschaftsformen begrenzt ist, kann er in der Funktion eines Oberbegriffs verschiedene politische oder philosophische Ideen subsumieren. In diesen semantischen Verwendungsfällen handelt es sich bei dem Begriff Politische Religion um einen a priori wertfreien Begriff, der keine per se konnotativ negative oder abwertende Funktion in sich birgt.

Unter dem Eindruck der Ereignisse der Französischen Revolution entwickelten sich zudem erste Ansätze einer Definition des Begriffs Politische Religion im Sinne einer Sakralisie- rung politischer Ideen, die wegweisend für die Charakterisierung des Begriffs in späteren Schriften wurden, jedoch die Deutung als Kritik an einer Verknüpfung von Politik und Religion gleichfalls nicht abzulösen vermochten. Dieser semantische Strang des Begriffs Politische Religion wurde im Laufe der Zeit weiterentwickelt und findet sich in Deutungsansätzen zu totalitären Herrschaftssystemen des 20. Jahrhunderts wieder, die in einem letzten Kapitel kurz angerissen wurden. Mit den erwähnten Autorinnen und Autoren konnte abschließend der Bogen zur eingangs geäußerten Kritik an der Stilisierung Eric Voegelins zur Galionsfigur des Begriffs Politische Religion geschlossen und betont werden, dass Voegelin in seiner Schrift einen bereits von Zeitgenossinnen und Zeitgenossen genutzten Begriff in einer ebenfalls bereits bekannten Deutung aufnahm.

Insgesamt kann für alle betrachteten Zeiträume konstatiert werden, dass die Semantik und die konnotative Ausrichtung des Begriffs Politische Religion stets abhängig von den mit ihr in Verbindung gesetzten Narrativen und Kontextualisierungen changieren und damit den Begriff substantiell schwer greifbar machen. Das Spektrum der verschiedenen Interpretationen des Begriffs Politische Religion findet sich nicht nur in Schriften des deutschen Sprachraums, sondern kann auch in anderen Sprachräumen beobachtet werden. Selbst innerhalb der untersuchten Autorinnen und Autoren, die den Begriff Politische Religion in mehreren Beiträgen verwendet haben, konnte bei Einzelnen eine nicht immer einheitliche Deutung bzw. Verwendung des Begriffs an verschiedenen Stellen ihrer Publikationen nachgewiesen werden (siehe zum Beispiel Semler, Arnd und Haller). Bemerkenswert ist, dass sich die verschiedenen, zum Teil auch widersprechenden Semantiken nicht aufeinanderfolgend gegenseitig ablösen, sondern gleichzeitig nebeneinander existieren; dieses Nebeneinander unterstreicht mitunter das Problem einer einheitlichen Definition des Begriffs. Ferner lassen sich die zum Teil sehr unterschiedlichen Semantiken keiner bestimmten Epoche zuordnen; einige semantische Richtungen der Politischen Religion, deren Wurzeln zum Teil bis ins 17. Jahrhundert nachgezeichnet werden können, finden sich sogar in der aktuellen Publikationslandschaft wieder (siehe die Anwendung des Begriffs zur Charakterisierung des Islams).

Die Wechselhaftigkeit und Austauschbarkeit der Interpretations- und Verwendungsfelder des Begriffs Politische Religion ist vermutlich mehreren Faktoren geschuldet. Wie schon an einigen Stellen betont, wird der Begriff in vielen Quellen sehr stiefmütterlich behandelt, oft lapidar nur an einer einzigen Stelle eingeworfen, bar jeder Erläuterung, so dass das Begriffsverständnis durch die Lesenden aus dem textlichen Umfeld erschlossen werden muss. Diese oftmals singuläre Anwendung in umfangreichen Werken ermöglicht das Gedeihen verschiedener Nuancen des Verständnisses durch die Lesenden, wodurch die Verschiebung in neue Interpretationsfelder vereinfacht wird. Begünstigt wird diese Flexibilität des Begriffs Politische Religion auch durch das diskursive Feld des Religionsbegriffs, das durch seine verschiedenen Spektren das Verständnis stark beeinflusst. Aufgrund dieser semantischen und definitorischen Vielfalt kann im Falle des Begriffs Politische Religion von einer Art Leerstelle oder Leerstellenbegriff gesprochen werden, die oder der einer (bewussten) Offenheit unterliegt, wodurch eine Verwendung in unterschiedlichen Kontexten und mit verschiedenen Definitionen möglich ist. Diese definitorische und semantische Offenheit verlangt von den Lesenden, den Begriff stets in Beziehung zum Text setzen zu müssen, um das von den jeweiligen Verfassenden transportierte Begriffsverständnis zumindest im Ansatz begreifbar machen zu können. Dabei kann es zu Fehlinterpretationen des intendierten Begriffsverständnisses durch die Lesenden kommen, wenn die verfassenden Personen ihrem Begriff von Politische Religion zu wenig Aufmerksamkeit schenken und zu viel Interpretationsspielraum geben.

Einen weitaus größeren Einfluss übt die semantische Entwicklung der Grundbegriffe Religion und politisch auf die Semantiken der Politische Religion aus, was an einigen Passagen der Arbeit herausgearbeitet werden konnte. Hervorzuheben ist insbesondere die voranschreitende Privatisierung und Individualisierung von Religion, wodurch dem Begriff Politische Religion ein ähnlicher Entwicklungszweig innerhalb seines semantischen Stammbaums erwuchs. Die zeitweise Neutralisierung der negativen Lesart des Adjektivs politisch im 18. Jahrhundert wirkte sich gleichfalls auf einen im 17. Jahrhundert im deutschen Sprachraum ausschließlich negativ bis abwertend konnotierten Gebrauch des Begriffs Politische Religion aus, die sich durch die konnotative Wandlung des Adjektivs ebenfalls sukzessive von der ihr anhaftenden negativen Lesart befreien konnte. Somit steht die konnotative Ausrichtung des Begriffs Politische Religion in Abhängigkeit zur Lesart des Begriffs politisch. Die konnotative Ausrichtung des Begriffs steht allerdings auch in Abhängigkeit zur Positionierung der Nutzenden zur Frage nach einer Trennung von Politik und Religion: Als Negativbegriff diente der Begriff Politische Religion zur Kritik an einer mangelnden Grenzziehung und -einhaltung zwischen heiligen und profanen Bereichen, wohingegen sich Verteidiger dieser Verflechtung einer positiven Lesart zuwandten.

Für die Autorinnen und Autoren ist festzuhalten, dass der Begriff Politische Religion von Personen verschiedener religiöser, konfessioneller, sozialer oder beruflicher Zugehörigkeiten verwendet wurde. Dass der Begriff vorwiegend in Publikationen männlicher Personen aufgefunden werden kann, ist der im Untersuchungszeitraum sehr geringen Dichte an Veröffentlichungen von Autorinnen insgesamt geschuldet. Dennoch konnten mit Fanny Tarnow und Lucie Varga Fundstellen und damit Verwendungsbelege des Begriffs durch Frauen untersucht bzw. erwähnt werden. Eine auf Verfasserinnen konzentrierte Untersuchung der Geschichte des Begriffs Politische Religion würde vermutlich noch weitere Vertreterinnen einer Begriffsverwendung zu Tage fördern. Ebenso wurde der Begriff nicht exklusiv von einer bestimmten Gelehrtengruppe verwendet, sondern findet sich interdisziplinär sowohl in theologischen, als auch in philosophischen und politischen Texten wieder. Jedoch konnte unter anderem eine Verbindungslinie zwischen verschiedenen Gelehrten der Universität in Halle herausgearbeitet werden, die zunächst in der Semantik des Begriffs Politische Religion im Gefüge einer Diskussion um religio interna und externa zu finden ist, jedoch darüber hinaus auch in anderen Verständnisvarianten des Begriffs weiterverfolgt werden kann. Ähnliche Verbindungslinien zwischen einzelnen Verfassenden konnten auch an anderen Stellen der Untersuchung ermittelt werden, wie etwa unter den erwähnten Schriftstellern der literarischen Bewegung Junges Deutschland, Ludwig Börne und Karl Gutzkow. Personen aus allen christlich-konfessionellen Lagern bedienten sich des Begriffs, so dass von einer exklusiven Vereinnahmung durch oder für eine bestimmte religiöse respektive konfessionelle Gruppierung nicht die Rede sein kann. Die konfessionelle

Zugehörigkeit betrachtend können allerdings gewisse quantitative Mehrgewichtungen bei bestimmten, für die Untersuchung herausgearbeiteten thematischen Anwendungsfeldern des Begriffs Politische Religion erkannt werden. Während beispielsweise die Semantik des Begriffs im Sinne eines religiösen Indifferentismus besonders im katholischen Lager eine Anhängerschaft gewann, kann eine Übergewichtung von protestantischen Verfassenden im Kontext nichtchristlicher Religionssysteme beobachtet werden. Allerdings kann hieraus für keines der untersuchten Themenfelder eine Exklusivität in bestimmten konfessionellen Kreisen abgeleitet werden, da sich stets auch Ausnahmen innerhalb der Schriften finden lassen. Gleiches gilt für die beruflichen Felder. Zwar lassen sich quantitative Ungleichgewichte innerhalb einzelner Kapitel erkennen, doch ist es wohl wenig überraschend, dass religionsphilosophische bzw. theologische Thematiken eher von Theologen bearbeitet werden, wohingegen sich beispielsweise den revolutionären Ereignissen eher politisch aktive oder interessierte Personen widmen. Doch auch auf beruflicher Ebene existiert eine Vielfalt bei den Verfassenden, die eine zunächst erwartete Exklusivität bestimmter Berufsfelder in Bezug auf eine Kontextualisierung des Begriffs Politische Religion im Untersuchungsergebnis zerstreut und die interdisziplinär sowohl in theologischen oder religionswissenschaftlichen, als auch etwa in geisteswissenschaftlichen, politischen oder belletristischen Texten zum Ausdruck kommt. Erstaunlich ist die bereits im 17. Jahrhundert vorhandene internationale Verwendung des Begriffs, die sich in den nachfolgenden Jahrhunderten weiter durchsetzt. Eine Erforschung der einzelnen Sprachräume auf komparativer Ebene könnte daher viele vertiefende oder gar neue Erkenntnisse bereithalten.

Über die möglichen Lesenden können Aussagen einzig anhand der Verfassenden und der unterschiedlichen Publikationen, ihrer Formen und damit zusammenhängend ihrer Reichweite und Zielgruppen formuliert werden. Schon im 17. Jahrhundert sind die Publikationen recht unterschiedlich, in denen der Begriff Politische Religion verwendet wurde, so dass von interdisziplinär gebildeten Lesenden ausgegangen werden kann. Auch in Anlehnung an die Verfassenden kann früh auf eine gewisse Heterogenität des Kreises der Lesenden auf religiöser oder sozialer Ebene geschlossen werden. Im 18. Jahrhundert kann durch die Verwendung des Begriffs in Nachschlagewerken, wie zum Beispiel Zedlers Universal-Lexikon, in Beiträgen regionaler oder auch überregionaler Periodika und in belletristischen Veröffentlichungen davon ausgegangen werden, dass die Reichweite der Rezeption des Begriffs Politische Religion über Gelehrtenkreise hinausging und von einem weitaus größeren und diverseren Kreis von Lesenden, als bisher angenommen, wahrgenommen wurde.

Nicht allein aufgrund der bis in die Frühe Neuzeit zurückreichenden semantischen Vielfalt ist der Begriff Politische Religion schwer greifbar und als terminus technicus bzw. zur Bezeichnung eines heuristischen Analyseinstruments ungeeignet. Ungeachtet der von der im Einleitungskapitel kurz angerissenen Unbestimmtheit des Religionsbegriffs mitgetragenen defini- torischen Problematik steht mit Blick auf die sehr unterschiedlichen Semantiken des Begriffs die Frage im Raum, ob der Begriff Politische Religion tatsächlich eine Religion oder ein nichtreligiöses Phänomen umschreibt, denn sowohl Religionssysteme oder religiöse Haltungen als auch politische oder philosophische Ideen wurden in der Frühen Neuzeit und darüber hinaus als Politische Religion bezeichnet. Diese Diskrepanz findet sich auch in gegenwärtigen Veröffentlichungen, wenn beispielsweise sowohl die islamische Religion als auch totalitäre Herrschaftssysteme des 20. Jahrhunderts wie Kommunismus oder Nationalsozialismus als Politische Religion charakterisiert werden. Dieser Zwiespalt im Versuch einer semantischen Annäherung an den Begriff Politische Religion zieht sich im problematischen Religionsbegriff weiter fort. Denn selbst bei einer Einigkeit darüber, dass der Begriff Politische Religion ein tatsächlich als Religion zu charakterisierendes Phänomen beschreibt, sorgen die divergierenden Definitionen des Religionsbegriffs für Streitigkeiten darüber, ob das als Politische Religion bezeichnete Phänomen tatsächlich als Religion bewertet werden kann oder nicht. Besonders anschaulich entlädt sich dieser Konflikt in der interdisziplinären Debatte um eine Anwendbarkeit des Begriffs Politische Religion als Deutungsansatz für totalitäre Herrschaftssysteme des 20. Jahrhunderts wie Kommunismus, Faschismus und Nationalsozialismus, die durch den unbestimmten Religionsbegriff noch zusätzlich an Momentum gewinnt, was insbesondere in der Unterscheidung zwischen einer substantialistischen und einer funktionalistischen Religionsdefinition zu Tage tritt, wie im Abschluss des vierten Hauptkapitels kurz angerissen wurde. Ein weiterer Punkt schließt an die Eurozentrismus-Kritik zum Religionsbegriff an, die das Verständnis des Begriffs Politische Religion gleichermaßen betrifft. In der Formulierung ist die Grundannahme enthalten, dass Politik und Religion - analog zur Dichotomie von Diesseits und Jenseits - zwei voneinander zu trennende Bereiche seien und diese Grenzziehung durch das als Politische Religion bezeichnete Objekt negiert bzw. aufgehoben werde. Die vorausgesetzte unüberbrückbare Kluft zwischen Immanenz und Transzendenz und das daraus abgeleitete Postulat der Trennung von Staat und Kirche ist eng mit der christlich-europäischen Tradition verbunden. Dieses christlich geprägte Verständnis muss berücksichtigt werden, wenn der Frage nachgegangen wird, ob beispielsweise nicht-christliche Religionen wie etwa der Islam als Politische Religionen charakterisiert werden können. Zwar wurde der Islam bereits im 17. Jahrhundert nachweisbar als Politische Religion apostrophiert, doch geschah dies aus dem Blickwinkel einer explizit christlich-europäischen Perspektive heraus. In einer Gesamtbetrachtung kann geschlussfolgert werden, dass keine allgemeingültige begriffliche Bestimmung des Begriffs Politische Religion erzielt werden kann, solange der Begriff Religion dieser definitorischen Problematik unterliegt, womit der Begriff als terminus technicus vor allem für komparative Studien ungeeignet ist.

Es bleibt abschließend festzuhalten, dass der Begriff seit seinem Bestehen einen großen Bedeutungswandel durchlaufen hat, wobei die verschiedenen Semantiken des Begriffs Politische Religion nicht aufeinander folgen, sondern oft nebeneinander existierten und zum Teil gegenwärtig weiterhin existieren. An einigen Stellen konnte dieses Nebeneinander herausgearbeitet werden, so beispielsweise im Zeitalter der Aufklärung und der Revolutionen, mit denen neue Begriffsdeutungen in der Verwendung des Begriffs aus einem weltlichen, oftmals staatsphilosophischen Kontext hervorgingen, alte Deutungsvarianten aus dem oftmals theologischen Bereich jedoch weiterhin in Gebrauch blieben. Die dem BegriffPolitische Religion in aktuellen Publikationen zugrundeliegenden definitorischen wie semantischen Probleme sowie die ihm innewohnenden verschiedenen semantischen Möglichkeiten konnten bereits in Quellen des 17. Jahrhunderts nachgewiesen werden und sind somit nicht seiner Wiederentdeckung Ende des 20. Jahrhunderts bzw. der damit verbundenen gesteigerten Verwendung zuzuschreiben. Auch im Rückblick auf die in dieser Studie untersuchten Quellenbelege einer frühen Verwendung des Begriffs Politische Religion und den verschiedenen Facetten eines möglichen Begriffsverständnisses wird die Notwendigkeit deutlich, dass Nutzerinnen und Nutzer des Begriffs zur Vermeidung von Missverständnisses stets eine Definition mitgeben sollten. Denn wie die vorliegende Untersuchung herausarbeiten konnte, ist das (bislang) bekannte Bedeutungsspektrum des Begriffs Politische Religion sehr weitläufig. Es reicht von der Bezeichnung einer individuellen Grundhaltung einerseits bis zur Umschreibung eines totalitären Herrschaftssystems andererseits. Die Schwächen des Begriffs Politische Religion konnten in dieser Studie auf verschiedenen Ebenen offenbart werden, allen voran seine semantische Wandelbarkeit und de- finitorische Unnahbarkeit, die ein eindeutiges Begriffsverständnis und damit eine einheitliche Begriffsverwendung erschweren und den Terminus Politische Religion in der Konsequenz als eine Art Leerstellenbegriff kennzeichnen.