1.1. Politische Religion im Kontext von Deismus und Vernunftreligion
Die sich mit dem beginnenden 18. Jahrhundert sukzessive entwickelnden Ideen der Aufklärung, die sich auf verschiedenen Ebenen ausbreiteten, wirkten sich auch auf den religiösen Bereich bzw. religionsphilosophische Ideen aus. Im Zuge der Aufklärung wurde das Konzept der natürlichen Religion oder Vernunftreligion entwickelt, das - im Gegensatz zu Offenbarungsreligionen - die Offenbarung Gottes nicht mehr als notwendige Erkenntnisstufe der Religion betrachtet und den Menschen in eine unmittelbare Beziehung zu Gott auf der Grundlage einer rein natürlichen Erkenntnis stellt.
Um die Mitte des 16. Jahrhunderts finden sich erste Quellenbelege für die Formulierung religio naturalis, die - im Gegensatz zu der von Gott gegebenen religio revelata - das Vermögen, Gott zu erkennen, der Vernunft zuschreibt; dieses neue Verständnis von Religion hatte Einfluss auf die langsam voranschreitende Entwicklung des Religionsbegriffs zu einem Ober- begriff.[1] Die natürliche Religion (auch Vernunftreligion) wurde als ursprüngliche und vernunftgeleitete Religiosität fernab der Unterordnung unter eine institutionalisierte kirchliche oder priesterliche Macht sowie deren Dogmen verstanden und diente insbesondere religionsphilosophischen Konzepten der Aufklärung als Gegenbegriff zur kritisierten Offenbarungsreligion oder auch positiven Religion. Kritische Stimmen merkten zur natürlichen Religion wiederum an, dass im Gegensatz zur Offenbarungsreligion, die als übernatürliche Religion von Gott gestiftet sei, jene natürliche Religion lediglich menschliches Machwerk sei und keine göttliche Sinnstiftung zur Grundlage habe.[2] Eine Verknüpfung des Begriffs natürliche Religion mit dem der Politischen Religion findet sich erst in Schriften des 18. Jahrhunderts in einem kritischen Verwendungskontext als Vorwurf eines Götzendienstes oder eines Pantheismus.
Eng daran anknüpfend ist der Begriff des Deismus zu verstehen, der im 18. Jahrhundert ebenfalls für gewöhnlich einem polemisch gefärbten Gebrauch unterworfen war. Besonders für das 17. und 18. Jahrhundert ist eine begriffliche Definition dessen, was unter dem Begriff Deismus zu subsumieren ist, kaum möglich. Im Überwiegenden kann hierunter wohl eine theologische Position verstanden werden, die den Glauben an einen Schöpfungsgott teilt, welcher jedoch nicht nennenswert in die weltlichen Belange oder die diesseitige Natur eingreift oder
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[1] Feil: Religio II, S. 269-333; ders.: Bestimmungs- und Abgrenzungsproblematik, S. 21; Wagner: Religion II, S. 525; Kehrer: Religion, S. 420.
ligion" auch die entsprechenden Einträge in: RGG, 4. Aufl., Bd. 6 (2003), Sp. 109-114 und Sp. 117-120. diese lenkt.
1717 veröffentlichte der Jurist und aufklärerische Philosoph Theodor Ludwig Lau (1670-1740) die deistische Schrift Meditationes philosophicae de Deo, Mundo, et Homine, die kurz nach Erscheinen in Frankfurt wegen spinozistischen Inhalts und vermeintlicher Gotteslästerei konfisziert worden war. Im ersten Teil seiner Meditationes thematisiert Lau theologische Fragen zur Existenz Gottes sowie zu Religionen und vertritt den Standpunkt der natürlichen Reli- gion.[1] Dieser stellt er am Ende des ersten Teils seiner kurzen Abhandlung den Begriff Politische Religion und den Ausdruck Religion der Gesellschaft zur Seite, denn er sei nicht nur Mensch, sondern auch Bürger und Untertan und müsse Gott nach den theologischen Vorgaben verehren, die sein Fürst oder der Staat ihm befehlen.
„Est tamen mihi, praeter hanc Religionem Naturalem: Religio Politica quoque & Societatis. Civis enim sum & Subditus. Hinc uti in reliquis Vitae, ita & in Fidei actionibus extrinsecis & transcuntibus, non mei, sed alieni Juris. Colo ergo Deum talem, qualem Princeps vel Respublica me jubet. Sic Turca, Alcoranum: Sic Judaeus, V.T. Sic Christianus, N.T. veneror, pro-Lege & Reli- gionis meae Norma."[2]
Nachdem Lau aufgrund der Konfiszierung Protest einlegte, wurde unter anderem der deutsche Jurist und Philosoph Christian Thomasius (1655-1728), ein Wegbereiter der Frühaufklärung in Deutschland und Direktor der Universität in Halle sowie ehemaliger Lehrer von Lau, beauftragt, ein Gutachten zum fraglichen atheistischen Inhalt des Traktats zu erstellen. In seiner drei Jahre später veröffentlichten Sammlung von freigeistigen Abhandlungen Ernsthaffte / aber doch Muntere und Vernünfftige Thomasische Gedancken u. Erinnerungen über allerhand au- ßerlesene Juristische Händel resümiert Thomasius im 24. Kapitel des ersten Bandes unter der Überschrift vom „Elende[n] Zustand eines in die Atheisterey verfallenen Gelehrten" diesen Vorfall und seinen gutachterlichen Respons unter anderem mit Verweis auf jene soeben zitierte Stelle aus Laus Werk. Diese Textstelle deutet er mit einer Unterstellung gegen Lau, dass sich dieser
„nach der Politischen (nemlichen der Atheistischen und simulirten) Schein-Religion bey den Türcken sich zur Türckischen, bey Juden zur Jüdischen, und bey den Christlichen Secten sich zu einer jeden Secte, Religion bekenne."[3]
Lau sei folglich religiös indifferent und würde seine Religion somit nicht nach Glaubensfragen, sondern den örtlichen Umständen wählen und einrichten. Im weiteren Verlauf der Auseinandersetzung verwendet Thomasius den Begriff im Zusammenhang mit einer näheren Beschreibung der nach außen gerichteten Geisteshaltung von Lau, „seiner politischen Religion"[4], wonach die örtlich vorherrschende Religion über Leib und Gewissen der Untertanen und Bürger
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[1] [Theodor Ludwig Lau]: Meditationes philosophicae de Deo, Mundo, et Homine. [o. O.] 1717; zur Veröffentlichung von Lau siehe Feil: Religio Bd. IV, S. 129-133; für eine Kurzbiographie siehe Martin Mulsow: Theodor Ludwig Lau (1670-1740), in: Aufklärung 17 (2005), S. 253-255.
[2] [Lau]: Meditationes philosophicae, S. 17.
[3] Christian Thomasius: Ernsthaffte / aber doch Muntere und Vernünfftige Thomasische Gedancken u. Erinnerungen über allerhand außerlesene Juristische Händel. Halle im Magdeburgischen 1720, S. 255.
[4] Ebd., S. 257: „[...] auch er selbst cap. I. § ult. p. 17. in dieser Schrifft lehret /und für einen Satz seiner politischen Religion ausgiebet / daß die herrschende Religion nicht nur über den Leib sondern auch über das Gewissen der Unterthanen / so ferne nemlich solches Gewissen in die Sinne falle / herrsche." Dieser besonderen Anwendungsform der Politischen Religion in Verbindung mit einem Possessiv wird im achten Kapitel genauer untersucht.
herrsche, der Mensch nach außen hin somit den religiösen Gegebenheiten der Region unterliege bzw. sich diesen unterwerfen müsse. Somit sei auch das Bekenntnis von Lau zur Lutherischen
Kirche nichts Anderes als ein „Streich seiner so genandten und gerühmten Politischen Reli- gion"[1] und könne nicht als ein religiöses Bekenntnis aus tiefster Glaubensüberzeugung verstanden werden. Der Begriff Politische Religion bezeichnet dieses nach außen getragene Religions- oder Konfessionsbekenntnis, das mit den inneren religiösen Überzeugungen nicht übereinstimmen müsse, da es aus rein opportunistischen Beweggründen motiviert sei.
Einerseits steht der Begriff Politische Religion in beiden Texten in einem kontextuellen Zusammenhang mit der natürlichen Religion, doch andererseits erweitert Thomasius den Verwendungshorizont in seinem Text zur Umschreibung von äußeren oder politischen Grundeinstellungen einer Person zu weltlichen Fragekomplexen. Von einem religiösen Indifferentismus kann insofern gesprochen werden, als dass Lau die Wahl der Religion von jeweiligen regionalen Bedingungen abhängig macht, womit eine jede Religion auch als moralisch richtig und gottgewollt erscheinen muss. Im Gegensatz zu dem für gewöhnlich geäußerten Vorwurf eines vom Opportunismus geleiteten religiösen Indifferentismus seien im Fall von Lau regionale Abhängigkeiten ursächlich für die Wahl der Religion. Doch im Gegensatz zu Lau, der dem Begriff eine positive Lesart verlieh, ist der Begriff Politische Religion von Thomasius klar mit einer negativen Konnotation versehen worden.
Laus Schrift erweckte auch das Interesse anderer Publizisten und Autoren, die sich mit seinen Gedanken und insbesondere auch der oben zitierten Stelle auseinandersetzten: Ein mittelbarer Verweis auf die Meditationes philosophicae findet sich in dem anonym[2] im Hallenser Universitätsverlag von Johann Christian Hendel 1722 herausgegebenen, achtbändigen Werk Gespräche in dem Reiche Derer Welt-Weisen, ein Kompendium aus 37 als Unterhaltung angelegten Texten, in denen unterschiedliche Fragen und Standpunkte anhand der Philosophie verschiedener Geisteswissenschaftler dargelegt und diskutiert werden. An das zehnte Gespräch über die Pedanterie von Gelehrten schließt der Verfasser seine Leichsinnigen Gedancken über einige Stellen aus der Veröffentlichung Spinozismus detectus[3] von dem Geistlichen Volckmar Conrad Poppo (1695-1753) an, worin es unter anderem heißt:
„Wenn er gescheut ist, so wird er die Bibel zu Erweisung der Wahrheit der Christlichen Religion nicht brauchen dürfen noch wollen, Conf. § 22. p. 48. seines Spinozismi: Ergo habe ich nach seinem Vorspiel überflüßiges Recht zu schliessen: M. Poppo statuiert lauter natürliche und politische Religion, folglich, keine Offenbarung."[4]
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[1] Ebd., S. 261: „Daß er aber daselbst als eine unstreitige Probe / daß er kein Ketzer und Atheiste sey / angiebet / weil er sich zur Lutherischen Kirche bekenne / und daselbst zum Abendmahl gienge / fället dadurch gäntz- lich hinweh, weil er §. ult. capitis primi p. 17 mit deutlichen Worten dieses als einen Streich seiner so ge- nandten und gerühmten Politischen Religion rühmet / und daß er ein gleichmäßiges auch bey den Türcken thun werde / ungemartert anstrebet."
[2] Im 58. Band von Johann Heinrich Zedlers Großem vollständigen Universal Lexicon Aller Wissenschafften und Künste wird als Verfasser der Schrift Balthasar Heinrich Tilesius genannt ([Anon.]: Art. Wolfische Philosophie, in: Zedlers Universal Lexicon. Bd. 58. Leipzig, Halle 1748, Sp. 883-1232, hier Sp. 962 und 971).
[3] Volckmar Conrad Poppo: Spinozismus detectus, Oder Vernünfftige Gedanken Von dem wahren Unterschied der Philosophischen und Mathematischen Methode oder Lehr-Art. Weimar 1721.
[4] [Anon.]: Gespräche in dem Reiche Derer Welt-Weisen. Anderer Theil [Bd. 2]. Halle 1722, S. 94. Der Verfasser bezieht sich hier auf das vierte Kapitel der Spinozismus detectus mit der Überschrift Von dem Schaden / so von der verkehrten Application der Mathematischen Methode auf die Philosophischen Objecta in sonderheit in der Welt-Weißheit entstanden ist. Das erwähnte Zitat aus Laus Meditationes philosophicae befindet sich am Ende des § 21 dieses Kapitels (Poppo: Spinozismus detectus, S. 48).
Der Begriff Politische Religion wird in diesem Quellenbeispiel in eine Reihe mit der natürlichen Religion gestellt, die der Verfasser deutlich von Offenbarungsreligionen unterscheidet; ob er natürliche und Politische Religion miteinander gleichsetzt, wird an dieser Stelle nicht ersichtlich. Es ist Poppo, der die oben zitierte Stelle aus den Meditationes philosophicae in seinen Spinozismus detectus aufnimmt, ohne allerdings selbst auf den Begriff Politische Religion in seinen eigenen Ausführungen zurückzugreifen. Dennoch scheint der Rezensent von Poppos Schrift die Interpretation der religio politica bei Lau im Verweis auf Poppos Schrift beibehalten zu haben. Eine genauere Untersuchung scheitert auch für diese Fundstelle an der singulären Verwendung in der Rezension.
Eine weitere deutschsprachige Fundstelle ist in den 1745 erschienen Betrachtungen über die in der Augspurgischen Confeßion enthaltene Sittenlehre Jesu Christi des Leipziger evangelisch-lutherischen Theologen Christoph Wolle (1700-1761) enthalten. Mit den Betrachtungen beabsichtige der Autor - so seine Darlegung im Vorwort - eine seit Bekanntgabe der Augsburger Konfessionen im Jahr 1530 existierende Lücke in der Landschaft theologischer Auseinandersetzungen zu füllen und einen Vergleich bzw. Abgleich der Sittenlehre der heiligen Schrift mit der Sittenlehre der Augsburger Konfession zu erarbeiten, wobei der Schwerpunkt auf eine Untersuchung der „innerlichen Verderbnisse der menschlichen Seele" gelegt werde.[1]
In seiner dennoch recht umfangreichen Untersuchung bedient sich Wolle des Begriffs Politische Religion an mehreren Stellen, wodurch in diesem Fall ein Vergleich der verschiedenen Fundstellen möglich ist: Beide Fundstellen liegen im zweiten von drei Hauptkapiteln, in dem sich Wolle laut Überschrift den verderbten Kräften der menschlichen Seele insonderheit[2] widmet. In § XI des Unterkapitels Von der Unwissenheit göttlicher Dinge in der Christenheit stellt Wolle eine Behauptung über die innerhalb der Christenheit vorzufindende Unwissenheit um den Offenbarungscharakter der heiligen Schrift auf,[3] den er im daran anschließenden Abschnitt zum Teil unter Einbeziehung mathematischer Argumente zu erläutern und zu beweisen versucht. Innerhalb seiner Darlegungen, dass neben dem Christentum „keine Religion unter der Sonne zu finden [sei], die ein reineres Herz, und reinere Sitten erfordert" und jene Personen, die sich der verpflichtenden Heiligkeit entziehen und ihren unchristlichen Lüsten hingeben, „Schandflecke des Christenthums" seien,[4] wendet Wolle seinen Blick kurz auf antike, nicht monotheistische Religionskonzepte:
„Der größte Theil der weisen Heiden hatte nicht die natürliche, sondern nur eine politische Religion, bey der die Lüste, wenn sie einmal ausbrachen, sich eben so wenig, als wie ein Damm aufhalten ließen."[5]
Der Großteil der antiken polytheistischen Religionskonzepte wird von Wolle in jener Interpretationsrichtung als Politische Religion definiert, die bereits im vorangegangenen Kapitel dieser Arbeit eine große Aufmerksamkeit aufgrund der zahlreichen Quellenbelege genoss. Hierbei weicht er nicht von der Lesart dieser Autoren ab, die den Begriff Politische Religion im Kontext
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[1] Christoph Wolle: Betrachtungen über die in der Augspurgischen Confeßion enthaltene Sittenlehre Jesu Christi, von den innerlichen Verderbnissen der menschlichen Seele. Leipzig 1745, Vorwort, unpag. [S. 4].
[2] Ebd., S. 333ff.
[3] „§. XI. Wir wenden uns hierauf zu dem dritten Grundsatze: es findet sich in der Christenheit eine Unwissenheit der göttlichen besondern in der heiligen Schrift geoffenbarten Religionswahrheiten"; die umfangreiche Erläuterungen und Beweisführungen für den Offenbarungscharakter der heiligen Schrift folgt im Anschluss an die Eingangsbehauptung (Ebd., S. 366-377).
[4] Ebd., S. 374.
[5] Ebd.
mit nicht-christlichen Religionen als eine aus laizistischer Perspektive geäußerte Kritik an einer Vermengung zwischen weltlichen und transzendenten Bereichen im Glaubenskonzept und der religiösen Praxis zu deuten. Er unterscheidet den Begriff Politische Religion hier deutlich von der natürlichen oder auch vernünftigen Religion, die er an anderer Stelle als „die erste und letzte Religion" definiert, demgegenüber die „geoffenbarte Religion [...] in der heiligen Schrift ent- halten"[1] sei.
Während sich der negative Anstrich des Begriffs Politische Religion im ersten Zitat noch etwas scheu versteckt, aber zu erahnen ist, kommt er an der zweiten Fundstelle im Unterkapitel zur falschen Gewissensruhe der Heuchler zweifelsfrei zum Vorschein: Der § XXI thematisiert laut Ankündigung zunächst die Frage, ob menschliche Vernunft als „einzige und höchste Regel" für ein sittliches Handeln genüge.[2] Das im anschließenden Erläuterungs- und Beweisabschnitt den überwiegenden Platz einnehmende Ziel dieses Paragraphen ist die Widerlegung der 1738 anonym herausgegebenen Schrift Lettres sur la religion essentielle a l'homme von der Genfer Übersetzerin und Anhängerin des Rationalismus Rousseaus, Marie Huber (16951753).[3] Laut Huber liege die Quelle wahrer Religion nicht in Offenbarungen; Religion sei vielmehr ein natürliches Verhältnis zwischen zwei vernünftigen Wesen - Gott und dem Menschen. Da sich dieses Verhältnis auf der Natur Gottes und des Menschen gründe, seien alle Lehren und Meinungen, die diesen natürlichen Wesen von Gott und Mensch entgegenstehen, falsch und nicht Grundstein wahrer Religion. Wolle warnt seine Lesenden vor den Lettres, denn:
„Diese nurgedachten Sittenbriefe von der Religion, die dem Menschen wesentlich ist, zeigen ihren Lesern den Weg zur Gottesverleugnung, und zu einer erdichteten politischen Religion."[4]
In diesem Abschnitt wird eine Attribuierung des Begriffs Politische Religion hervorgehoben, die sich aus ihrer diametralen Stellung zu Offenbarungsreligionen als logische Konsequenz ergebe: Eine erdichtete, damit im Prinzip fiktionale, folglich unechte Religion, die im Gegensatz zur geoffenbarten, göttlichen Religion stehe. Durch diese Hinzufügung wird der abwertende
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[1] Ebd., S. 738.
[2] „§. XXI. Wir sind gesonnen, noch eine wichtige Frage, die zur Sittenlehre gehöret, zu beantworten, ehe wir dieses Hauptstück beschließen. Sie ist diese: Kann man denn, mit Grunde der Wahrheit, das Gewissen eines Menschen für die einzige und höchste Regel seiner sittlichen Handlungen ausgeben*? Die fanatischen Sittenlehrer unserer und der vorigen Zeiten legen dem Gewissen, unsers Erachtens, dergleichen unverdiente Lobsprüche bey. Wir können dieses aus den Schriften des Verfassers des bekannten französischen Buchs von der Religion, die dem Menschen wesentlich ist, vor andern beweisen. Und wir wollen bey dieser Gelegenheit, sowohl jene, als dieses absonderlich, widerlegen, und die elende Blöße des boshaften Schriftstellers entwaffnen**. Wir kennen diesen ungenannten neuen Religionsverfasser nicht; aber wir wollen sehen, ob wir im Stande sind, denselben durch vernünftige Muthmassungen zu errathen" (Ebd., S. 729-751, hier S. 729f.)
[3] [Marie Huber]: Lettres sur la religion essentielle a l'homme, Distinguee de ce qui n'en est que l'Accessoire.
Amsterdam 1738. Wolle zweifelt die Urheberschaft Hubers an und sinniert am Ende des Abschnitts über die mögliche Identität des tatsächlichen Verfassers (Wolle: Betrachtungen, S. 749-751). Einer deutschen Übersetzung der Schrift Le sisteme des Theologiens anciens & modernes concilie par l 'exposition des differens sentimens sur l 'eiat. des ames separees des corps. En XIIII lettres, die 1739 anonym in London erschien und ebenfalls Marie Huber zugeschrieben wird, fügte Johann Heinrich Meene (1710-1782) einleitende Worte hinzu, in denen er an einer Stelle auf die Auseinandersetzung von Christoph Wolle verwies ([Marie Huber]: Das Lehrgebäude der alten und neuern Gottesgelehrten in eine Uebereinstimmung gebracht durch die Erklärung und Auslegung der verschiedenen Meinungen von dem Zustande der von den Körpern abgeschiedenen Seelen. In vierzehn Briefen abgefasset. In die deutsche Sprache übersetzet, und an dem Ende in einigen Betrachtungen bescheiden geprüfet von einem aufrichtigen Freunde der Warheit. Helmstädt 1748, S. 23). Eine weitere Erwähnung der Wolleschen Rezension zu Hubers Lettres sur la religion findet sich im Freydenker- Lexicon von Johann Anton Trinius (1722-1784) in einem Eintrag zur Person Marie Huber (Art. „Mademois. Hubert", in: Johann Anton Trinius: Freydenker-Lexicon, oder Einleitung in die Geschichte der neuern Freygeister ihrer Schriften, und deren Widerlegung. Leipzig, Bernburg 1759, S. 315-321, hier S. 316).
[4] Wolle: Betrachtungen, S. 737.
Charakter des Begriffs Politische Religion - hier im Speziellen die auf Rationalismus fußenden Ansätze Hubers hinsichtlich einer natürlichen Religion - als Negativbegriff in diesem Quellenbeleg offenbar, der die Verfasserin in ein konträres Verhältnis zur hier positiv konnotierten Offenbarungsreligion stellt.
Christoph Wolle, der die Autorinnenschaft Hubers anzweifelt, urteilt im weiteren Verlauf seiner Widerlegung der Lettres sur la religion essentielle a l'homme über die Urheberin:
„Wir verstehen unsern Deisten gar wohl, wenn er vorgiebt, der Zweck der Religion sey, die Menschen zu ehrlichen Leuten zu machen, und hierzu werde der Glaube als ein Mittel erfordert. Er redet von einer politischen und bürgerlichen Religion, womit sich ein Deiste, wenn er will, noch breit machen kann."[1] [2]
Wie schon bei Lau zu beobachten war, stellt auch Wolle den Begriff Politische Religion an dieser Stelle in eine Reihe mit dem Ausdruck gesellschaftliche oder bürgerliche Religion, einer Religionsform, deren Schwerpunkt auf der Beförderung sozialer Strukturen und Ordnung liege - die soziale und sozialpolitische Richtung innerhalb der Bevölkerung verbreitend und schützend - sowie in der Anleitung des Menschen zur Erlangung seiner Glückseligkeit innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft. Ob der Begriff Politische Religion mit dem Ausdruck bürgerliche Religion nach Meinung Wolles gleichzusetzen sei, es sich folglich um Synonyme handle, kann anhand dieser einzigen Fundstelle zu beiden Begriffen innerhalb der gesamten Betrachtungen nicht abschließend geklärt werden. Jedoch ähneln sich beide Phänomene in ihrer immanenten, diesseitsbezogenen Zweckgerichtetheit, die einen höheren Stellenwert einnimmt als im Gegenzug mögliche transzendenzbezogene Aspekte.
Während Marie Huber den Begriff religion politique nicht in ihr Werk einbaute, konnte in einer anderen französischsprachigen Schrift eine Fundstelle ermittelt werden, die sich einer ähnlichen Begriffsdeutung bedient, wie sie in den Betrachtungen von Christoph Wolle anzutreffen ist. Der katholische Theologe Abbe Nicolas Sylvestre Bergier (1718-1790), ein erklärter Gegner des Deismus und Materialismus, veröffentlichte 1765 die gegen Jean-Jacques Rousseau (1712-1778) gerichtete, antiaufklärerische Schrift Le deisme refute par lui-meme.650 Hierin wendet er sich im Besonderen gegen Jean-Jacques Rousseaus Schrift Du contrat social ou Principes du droit politique (1762), die er in Ausschnitten zum Teil sehr ausführlich zitiert und Passage für Passage mit seinen Argumenten zu widerlegen versucht.
Im zweiten Teil seiner Widerlegungsschrift schwenkt Bergier sein Augenmerk unter anderem auf Rousseaus Ausführungen in De la religion civile, denen er sich im Kapitel Sur l'ac- cord du Christianisme avec la saine Politique ausgiebig zuwendet. Nach Rousseau ließen sich die existierenden Religionen in drei Formen einteilen: Die innere menschliche oder natürliche Religion, die Religion des Staatsbürgers und eine dritte, nicht benennbare Religionsform, die beispielsweise im Katholizismus betrieben werde.[3] Von einem politischen Standpunkt aus
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[1] Ebd., S. 745.
[2] Nicolas-Sylvestre Bergier: Le Deisme refute par lui-meme, ou Examen des principes d'incredulite repandus
dans les divers Ouvrages de M. Rousseau en forme de Lettres. Paris 1765.
betrachtet, seien alle drei Religionsformen nicht ohne Makel, die Rousseau daraufhin aufzählt. Am Ende dieser Aufzählung im Rousseauschen Text fasst Bergier mit zynischer Zunge die Erkenntnisse des französischen Aufklärers wie folgt zusammen:
„La Religion des Pretres ne vaut rien, elle impose des devoirs contradictories; la Religion nationale, sociale, civile, politique, tout comme il vous plaira, ne vaut rien, elle est fondee sur l'erreur & le mensonge; la Religion humaine & naturelle ne vaut pas mieux, elle detache les craurs des citoyens de l'Etat, elle est contraire a l'esprit social: donc le mieux est de n'en point avoir du tout."[1]
Wie zuvor schon bei Wolle zu beobachten war, stellt Bergier den Begriff religion politique in eine Reihe ähnlicher Wendungen wie religion nationale oder religion civile, die auf den politischen und sozialen Charakter von Religion und auf die Fokussierung eines Glaubenssystems auf die Diesseitigkeit abstellen. Sie verschmelzen diesseitige Werte zu einem Glaubenssystem und distanzieren sich von der institutionell gegebenen Religiosität. Bergier verwendet die Begriffe mit einer gewissen Synonymie zueinander; ob er dennoch Unterschiede zwischen den Objekten sieht, die mittels der einzelnen Wendungen bezeichnet werden, kann infolge fehlender weiterer Fundstellen innerhalb seiner Widerlegungsschrift nicht untersucht werden. Zwar definiert Begier diese Glaubensformen als auf Irrtum und Lügen gegründet, doch scheinen diese Termini bei ihm nicht unbedingt per se als Negativ- oder Kritikbegriffe zu stehen. Sowohl der Begriff religion politique als auch religion nationale, sociale und civile scheinen hier weniger der Polemik, sondern vielmehr als deskriptive Wendungen zur Umschreibung der so bezeichneten Objekte der Auseinandersetzung und Kritik zu dienen - in diesem Fall einer dem Wesen nach vordergründig gesellschafts- und politikbezogenen Herangehensweise an und Verwendung von Religion. Dass Bergier zwischen diesen begrifflichen Alternativen keinen wesentlichen Unterschied macht, akzentuiert er mit dem Zusatz „tout comme il vous plaira", einem Ausdruck von Gleichgültigkeit darüber, wie diese Religionsform genannt werde - letztlich entscheidet sich Bergier an mehreren Stellen seiner Argumentation für eine Verwendung des Ausdrucks religion national.[2]
Dieses Verwendungsfeld des Begriffs Politische Religion kann auch in Schriften aus dem englischen Sprachraum nachgewiesen werden: Der englische Theologe und Moralphilosoph William Paley (1743-1805) veröffentlichte 1785 erstmals sein wohl bekanntestes Werk The
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[1] Bergier: Le Deisme, Teil 2, S. 88. Diese Zusammenfassung folgt nach der zitierten Erkenntnis Rousseaus
zum Makel der Religion des Mensch: „Mais cette Religion, n'ayant nulle relation particuliere avec le corps politique, laisse aux loix la seule force qu'elles tirent d'elles-memes sans leur en ajouter aucune autre, & par la un des grands liens de la societe particuliere reste sans effet. Bien plus; loin d'attacher les creurs des Citoyens a l'Etat, elles les en detache comme de toutes les choses de la terre: je ne connois rien de plus contraire a l'esprit social" (Rousseau: Contrat Social, S. 237f.).
Eine deutsche Übersetzung erschien 1779 in zwei Teilen unter dem Titel Der Deist widerlegt durch sich selbst. Das Vorwort gerichtet an Maria Theresia von Österreich wurde von einem gewissen Franz Anton von Meyer gezeichnet: Nicolas-Sylvestre Bergier: Der Deist widerlegt durch sich selbst, oder Briefe, worinn die Grundsätze des Unglaubens untersucht werden, die in verschiedenen Werken des Herrn Rousseau ausge- streuet sind. Aus dem Französischen des Hrn. Bergier, der Gottesgel D. Erster Theil. Wien 1779, Vorwort, unpag. [S. 6]. Der Übersetzer hat das Französische religion politique aus Bergiers Schrift mit dem entsprechenden deutschen Begriff Politische Religion wiedergegeben: „Die Religion der Priester taugt nichts, sie bürdet widersprechende Pflichten auf; die national, die gesellschaftliche, die bürgerliche, die politische Religion, wie es Ihnen immer gefallen mag, taugt nichts, Sie ist auf Irrthum und Lügen gegründet; die menschliche und natürliche Religion hat keinen bessern Werth: sie entzieht die Gemüther der Bürger dem Staate, sie ist dem gesellschaftlichen Geiste zuwider: es ist also besser, ganz und gar keine zu haben" (Bergier: Der Deist, S. 97).
[2] Rousseaus religion civile kommt in einer Passage vor, allerdings im Rückgriff auf eine zuvor zitierte Verwendungsstelle aus Rousseaus Werk (Bergier: Le Deisme, Teil 2, S. 92); demgegenüber Bergiers Verwendung der religion nationale vgl. Bergier: Le Deisme, Teil 1, S. 227, 237, 253 und Teil 2, S. 86, 96.
Principles of Moral and Political Philosophy,[1] eine überarbeitete Zusammenstellung seiner Vorlesungen am Christ's College in den Jahren zwischen 1768 bis 1776, das zu einem der einflussreichsten Werke der englischen Aufklärung avancierte. In diesem Universallehrbuch zur Moralphilosophie und zum Staatswesen wirft Paley als rationalistischer Theologe auch theologische Fragen auf - so wird unter anderem auch die Beziehung zwischen Religion und Politik immer wieder thematisiert. Im zehnten Unterkapitel mit dem Titel Of Religious Establishments and of Toleration[2] diskutiert Paley das Für und Wider der Etablierung einer kirchlichen Verfassung und einer Nationalreligion bzw. -kirche. Hierbei unterscheidet er strikt zwischen christlicher Religion an sich und christlichen Institutionen wie der Kirche, die lediglich als Mittel zur Erhaltung und Verbreitung der christlichen Lehre dienen.[3] Damit einhergehend legt er ein besonderes Augenmerk auf die Frage nach dem Verhältnis zwischen weltlichen und geistlichen Mächten sowie dem Grad einer ein- oder gegenseitigen Einflussnahme und Einmischung in die Angelegenheiten des Gegenübers. Wie weit dürfe der Eingriff religiöser Institutionen in weltliche Belange und auch andersherum weltlicher Herrschaft in religiöse Angelegenheiten reichen? Zur Beantwortung legt Paley im Voraus zwei Grundsätze als Hilfestellung zur Urteilsfindung fest:
„The first is, that any form of Christianity is better than no religion at all; the second, that of different systems of faith, that is the best, which is the truest."[4]
Auch wenn der erste Grundsatz den Anschein erweckt, verwendet Paley den Religionsbegriff in seinem Werk nicht exklusiv für das Christentum bzw. christliche Glaubensformen, wobei in seiner Moralphilosophie unzweifelhaft das Christentum als einzig genuine Religion definiert wird.[5] Der zweiten Grundsatz fußt auf Paleys Überlegung, dass die wesentliche Bedeutung von Religion in ihrem Einfluss auf das künftige Schicksal des Menschen beruhe. Diese Einflussmöglichkeit sei jedoch einzig der Religion zu eigen, die von Gott komme. Im weiteren Verlauf erläutert Paley:
„A political religion may be framed, which shall embrace the purpose, and describe the duties of political society perfectly well; but if it be not delivered by God, what assurance does it afford, that the decisions of the divine judgement will have any regard to the rules which it contains?"[6]
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[1] William Paley: The Principles of Moral and Political Philosophy. London 1785. Paleys Ziel war es, den Mangel innerhalb der wissenschaftlichen Publikationslandschaft zur Moralphilosophie mit einem Universallehrbuch zu Moral und Politik auszugleichen. Im Jahr nach der Veröffentlichung wurden The Principles zum Teil der Prüfungen an der Universität Cambridge, was wenig verwunderlich ist, da Paley selbst bis 1782 dort lehrte. The Principles waren als Universallehrbuch so beliebt, dass das Werk noch zu seinen Lebzeiten - er verstarb zwanzig Jahre nach Veröffentlichung - fünfzehn Auflagen erfuhr. Dieser Erfolg fand auch in anderen Ländern wie Deutschland große Aufmerksamkeit; 1787 erschien eine erste kommentierte deutsche Übersetzung von Christian Garve (1742-1798): William Paley: Grundsätze der Moral und Politik. Aus dem Englischen übersetzt. Mit einigen Anmerkungen und Zusätzen von Christian Garve. 2 Bde. Leipzig 1787.
[2] Ebd., S. 554-586.
[3] Einleitend zu diesem Abschnitt führt Paley ohne Nennung der Quelle folgendes Zitat an (ebd., S. 554): „A Religious establishment is no part of Christianity, it is only the means of inculcating it."
[4] Ebd., S. 576.
[5] Im ersten Grundsatz formuliert Paley, dass jegliche Form von Christentum besser sei als keine Religion zu haben. Im Umkehrschluss könnte gefolgert werden, dass jegliches Glaubenskonzept außerhalb einer Form christlicher Lehre nicht als Religion bezeichnet werden könne. Paley bezieht sich hier allerdings auf die Etablierung einer Nationalkirche in einem christlich tradierten Staat und der Frage, welcher Form der im Volke und vom Staatsführer praktizierten christlichen Lehre Vorrang gegeben werden sollte. Zudem bezeichnet er an anderen Stellen etwa das Judentum als Religion.
[6] Ebd., S. 576. In der deutschen Übersetzung greift Garve dem Originaltext treubleibend auf den Begriff Politische Religion zurück: „Man kann vielleicht eine politische Religion ausdenken, welche die Pflichten des bürgerlichen Lebens vollkommen richtig beschreibt, und die Absichten desselben erfüllt" (Paley: Grundsätze, S. 353).
Paleys political religion umschreibt an dieser Stelle ein Glaubenskonzept mit Fokussierung auf diesseitige Werte der Gemeinschaft, auf „duties of political society", demgegenüber transzendente Fragen und göttliche Offenbarung nur Nebenrollen einnehmen. Die Zweckbestimmung betreffend steht nicht die Substanz im Vordergrund, sondern die Funktionalität der Religion im Gemeinschaftsgefüge. Paley gibt in dieser Passage zu bedenken, dass vielleicht eine political religion zur Regelung eines vollkommenen staatlichen und gesellschaftlichen Miteinanders geschaffen werden könne, doch wenn die political religion ihren Ursprung nicht von Gott habe, könne sie keine Garantie im Urteil Gottes über ihre Anhänger und die Befolgung der von Gottes Wort unabhängig geschaffenen Regeln der political religion geben. Der Schwerpunkt des Begriffsverständnisses der political religion Paleys liegt auf diesseitigen Gegebenheiten, doch schließt der auf die Verwendung des Begriffs anknüpfende Konditionalsatz durch die Konjunktion „if" einen Rückgriff auf Elemente göttlichen Ursprungs nicht kategorisch aus, die allerdings im Fall der political religion vermutlich zweckentfremdet und für andere, nicht-transzendente Ziele instrumentalisiert werden.
Wie schon die Mehrzahl der zuvor betrachteten Autoren streut auch Paley wie aus dem Nichts und ohne große Annotationen den Begriff political religion an einer einzigen Stelle seines Textes ein, von den Lesenden erwartend, dass die Bedeutung des Begriffs geläufig ist und keiner weiteren Erläuterung bedarf, wodurch die Erschließung einer eindeutig vom Autor intendierten Semantik, also des Wesens der political religion, nur rudimentär und auf sehr interpretativem Wege möglich ist. Eine Begriffsdeutung der von Paley verwendeten political religion wird zusätzlich durch den Einsatz einer ähnlichen Begriffskomposition erschwert, auf die Paley - wie schon der Abbe Bergier vor ihm - in seiner Abhandlung im Vergleich zur political religion deutlich häufiger zurückgreift: national religion.[1] National religion definiert Paley im weiten Sinne als jene Religion oder Konfession, der innerhalb eines Staates der Vorzug gegeben wird.[2] Jegliches Glaubenssystem - ganz gleich ob es sich um eine
Offenbarungsreligion oder eine Vernunftreligion handelt - kann durch den Menschen zu einer national religion, einer Nationalreligion erkoren werden, sofern sie die erforderlichen Voraussetzungen mitbringen. Zu diesen Unabdingbarkeiten für die Etablierung einer Nationalreligion zählt Paley:
„- a clergy, or an order of men secluded from other professions to attend upon the offices of religion; - a legal provision for the maintenance of the clergy; - and the confining of that provision
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[1] Während Paley die political religion im gesamten Werk nur an einer einzigen Stelle verwendet, greift er deutlich häufiger auf den Begriff national religion zurück. Paleys erste Verwendungsstelle von national religion, die dem Begriff zunächst keine weitere Erläuterung beifügt und eher eine Beiläufigkeit anhängt (Paley: The Principles, S. 152), wird von Garve mit dem deutschen Pendent „Nationalreligion" übersetzt (Paley: Grundsätze, Bd. 1, S. 193). In der nächsten Fundstelle (Paley: The Principles, S. 555) nimmt sich Garve mehr Freiheiten heraus und übersetzt national religion eine Definition vorwegnehmend als „die herrschende Religion eines Staates" (Paley: Grundsätze, Bd. 2, S. 326). Mit der darauffolgenden Verwendungsstelle kehrt Garve schließlich zu einer Verwendung des deutschen Pendants „Nationalreligion" zurück (ebd., S. 328 und weitere).
Werden diese Prämissen nicht erfüllt, kann dem zur Debatte stehenden Glaubenskonzept nicht das Etikett einer national religion angeheftet werden.[1] Eine Gegenüberstellung von Paleys political und national religion offenbart Probleme in der Charakterisierung ihres Verhältnisses zueinander, die sich in erster Linie aus dem singulären Gebrauch des Begriffs political religion im gesamten Werk ergeben. Dass auch Paley - ähnlich wie Abbe Bergier - eine Synonymie zwischen beiden Begriffskomposita intendierte, kann weder eindeutig be- noch widerlegt werden. Je nachdem, wie man die oben zitierte Textstelle interpretiert, können durchaus Anzeichen semantischer Unterschiede gefunden werden, die gegen eine Bedeutungsgleichheit sprechen. Die oben gewählte Interpretation gibt der political religion wesentlich mehr Substanz, denn während der Begriff national religion lediglich ein mit beliebigem Inhalt füllbares Gefäß beschreibt, das aber selbst keinen charakteristischen Inhalt, keine eigene Substanz hat, scheint der Begriff political religion eine allein auf das politische und bürgerliche Wohl gerichtete und aus dem bürgerlichen Körper heraus gestiftete Religion zu beschreiben, die ausschließlich dem Zweck dient, den staatlichen und gesellschaftlichen Körper in seiner Vollkommenheit zu lenken und zu bewahren. Entsprechend könnte die political religion den Status einer national religion verliehen bekommen und das Vakuum mit ihrem Wesen füllen. Darüber hinaus sollte der Umstand gewürdigt werden, dass Paley auf den Begriff political religion an einer einzigen Stelle seines gesamten Werkes zurückgreift, ohne ihn in eine textliche Nähe zum Begriff national religion zu bringen, wie etwa in der oben zitierten Aufzählung bei Bergier. In dieser Lesart beschreibt der Begriff political religion eine von Paley kritisierte Form von Religion, die sich allein an diesseitigen Bedürfnissen und Zielen orientiere und jenseitsgerichtete Pflichten vernachlässige oder vollständig ablehne. Dennoch bleibt bei einer Betrachtung aller Interpretationsmöglichkeiten des Begriffs political religion die Annahme einer von Paley intendierten Synonymie zur national religion nicht völlig abwegig. Das Resultat dieser Interpretationsrichtung wäre ein per se wertfreier Begriff. Dem Begriff national religion gleich wäre die political religion selbst ein leeres Gefäß, ein Mantel ohne Träger, ein Begriff ohne bewertbare eigene Substanz. Eine konnotative Ausrichtung läge dann nicht in der Begrifflichkeit selbst, sondern in der Bewertung des Subjekts, das den Namen, das Etikett national religion oder political religion erhält. Sie wäre entsprechend variabel einsetzbar.
Im Gesamten betrachtet nutzte der überwiegende Teil der Autorenschaft - mit Ausnahme von Theodor Ludwig Lau - den Begriff Politische Religion in einer negativen, wenn auch zum Teil von einer Polemik entschärften Lesart, zur Kritik am Deismus oder der natürlichen Religion. Allerdings unterscheiden sie sich in dem von ihnen angewandten Begriffsverständnis: Ist der Begriff bei Thomasius noch vornehmlich im Zusammenhang eines religiösen Indifferentis- mus zu verstehen, verschieben sich die semantischen Facetten der anderen Autoren hin zu einer Kritik an einer zu engen Vermischung von Politik und Religion sowie zu einer Synonymie oder zumindest semantischen Ähnlichkeit mit Begriffen wie bürgerliche oder nationale Religion, ohne jedoch den negativen Anstrich einzubüßen. Bemerkenswert ist dabei, dass der Begriff in
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[1] „If any one of these three things be wanting, if there be no clergy, as amongst the Quakers; or if the clergy
have no other provision than what they derive from the voluntary contribution of their hearers; or if the provision which the laws assign to the support of religion be extended to various sects and denominations of Christians; there exists no national religion, or established church, according to the sense which these terms are usually made to convey" (ebd.).
diesem Verwendungsfeld sowohl von befürwortenden als auch kritischen Stimmen der Aufklärung genutzt wurde, ohne dass dabei gruppenspezifische Unterschiede im Begriffsverständnis erkennbar sind.
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