6. Eine Politische Religion der inneren Gesinnung
Erste Schritte in die Innerlichkeit
In seinem kurzen Forschungsbeitrag verweist der deutsche Theologe Christian Johannes Neddens auf diese neue Semantik, verortet ihre Genese allerdings erst ins 19. Jahrhundert.[1] Erste Ansätze dieser neuen Interpretation des Begriffs Politische Religion fielen jedoch bereits unter anderem in den Auseinandersetzungen zu den neuen Ideen der Aufklärung auf fruchtbaren Boden, die das Individuum von seinen Fesseln der Bevormundung durch religiöse Institutionen befreite und ihm eine persönliche Beziehung zu Gott ermöglichte, die keines Mittlers, wie zum Beispiel Priester, mehr bedurfte. Dieser Paradigmenwechsel öffnete den Religionsbegriff für die Innerlichkeit des Individuums und verschob den Fokus auf das Subjekt.
In einer 1758 publizierten deutschen Übersetzung der wöchentlich herausgegebenen Schrift En Ärlig Swensk (1755/56),[2] gegründet von dem schwedischen Philosophen und
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[1] Neddens: Politische Religion, S. 313.
[2] En Ärlig Swensk (Ein ehrlicher Schwede) war eine der ersten offen politischen Periodika in der sogenannten schwedischen Freiheitszeit (1719-1772), in der die schwedische Politik bzw. der schwedische Reichstag von zwei sich rivalisierenden, ständeübergreifenden Gruppierungen, den Hattarne (Hüte) und den Mössoma
(Mützen), dominiert wurde. En Ärlig Swensk diente den Hattarne für rund anderthalb Jahre als nichtoffizielles Sprachrohr mit anonym veröffentlichten Beiträgen prominenter Vertreter der Hattarne; siehe hierzu Volker Seresse: Imagebildung und Herrschaftslegitimation durch Geschichte im Schweden der Freiheitszeit (1719-1772), in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 56.9 (2008), S. 714-727.
Literaturprofessor Niklas von Oelreich (1699-1770), findet sich eine erste Fundstelle dieser neuen Deutungsform des Begriffs Politische Religion. Die für die Untersuchung relevante Textstelle ist als ein Gespräch zwischen den Figuren Cautus, Callidus und Honestus über den Freiheitsgedanken und die schwedische, freiheitszeitliche Verfassung aufgebaut, in dem der Letztere seine Haltung verteidigt, dass jede Person, die den Ideen der Freiheit entgegen tritt statt für sie zu kämpfen, kein Mitglied der Reichsstände mehr sein solle. Auf den von Callidus dargebrachten Vorbehalt, dass ein Großteil des schwedischen Volkes seine Rechte weder kenne noch verstehe, entgegnet Honestus mit der Notwendigkeit der Aufklärung eines jeden Schweden über seine Rechte sowie den gerechten Charakter des Freiheitsgedankens:
„Es ist eine nöthige Sache, daß die Jugend des Reichs darinnen rechtschaffen unterrichtet werde, so daß ein jeder Reichsuntersasse seine politische Religion so gut verstehen lerne, als seine kirchliche, und wisse, worinnen seine wahre Freyheit mit allen ihren Gerechtsamen und Vortheilen bestehe."[1]
Der Begriff Politische Religion wird in diesem Textbeispiel nicht auf ein bestimmtes religiöses Glaubenskonzept oder eine spezifische politische Idee, etwa den Freiheitsgedanken, bezogen. Stattdessen legt der Verfasser den semantischen Fokus auf das Subjekt Mensch sowie dessen Innerlichkeit und nutzt den Begriff Politische Religion im Sinne einer individuellen, inneren Geisteshaltung, eines politischen Glaubensbekenntnisses, ohne den Charakter dieser Mentalität zu umschreiben oder gar von vornherein zu werten. Diese neue Subjektbezogenheit wird durch die Hinzufügung des Possessivs „seine" verdeutlicht und betont: Jeder Schwede solle über seine Politische Religion, jene staatspolitische Idee, zu der er sich bekenne und die er verteidige, genauestens unterrichtet sein.[2] Der genaue Inhalt, der Charakter dieser (staats-)politischen Idee ist im Rahmen dieser Begriffsdeutung irrelevant. Jedes dieser politischen Glaubensbekenntnisse, jede Politische Religionen kann eine ganz andere Färbung, eine ganz andere Gestalt besitzen, ohne die Voraussetzungen zur Charakterisierung als Politische Religion zu verlieren; substantielle Prämissen bzw. eine Zuschreibung von Merkmalen im Sinne einer Gegenstandsbeschreibung ist in diesem Deutungsfeld des Begriffs Politische Religion nicht mehr vorhanden. Aufgrund dieser fehlenden Objektbezogenheit im semantischen Feld unterliegt der Begriff per se keiner Wertung und wird somit seines über ein Jahrhundert anhaltenden, polemisierenden Charakters entkleidet.
Im Jahr 1788 veröffentlichte der evangelisch-reformierte Theologe und Publizist Johann
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[1] [Anon.]: Eigentliche Staatsverfassung des Reichs Schweden unter seiner gesetzmäßigen Freyheit beschrieben und wider Uebelgesinnte gerettet von dem Ehrlichen Schweden. Stralsund, Greifswald 1758, S. 52. In der deutschen Übersetzung wird nicht angegeben, in welcher Ausgabe des Periodikums En Ärlig Swensk der übersetzte Urtext veröffentlicht wurde; die Texte sind fließend nacheinander übersetzt. Die korrespondierende Ausgabe bzw. Textstelle des schwedischen Originaltextes konnte für einen Vergleich nicht eingesehen werden.
[2] Die Hinzufügung von Possessiva zum Begriff Politische Religion konnte bereits in älteren Quellenbelegen beobachtet werden, allerdings wurde der Begriff polemisierend auf eine bestimmte Form von Religion oder Religionsausübung (etwa als Kritik einer Vermischung von religiösem und politischem Bereich) mit einer deutlichen Objektbezogenheit angewandt.
Andreas Riem (1749-1814) anonym die Schrift Ueber Aufklärung,[1] in welcher er die gegenaufklärerischen Bemühungen des im gleichen Jahr erlassenen Wöllnerschen Religionsedikts[2] stark angreift. Denn im aufklärerischen Kampf gegen „Propheten der Lüge, Lehrer des Aberglaubens und Verbreiter alter Dummheit"[3] könne der Mensch aus der geistigen Knechtschaft der Priester befreit werden und im Lichte eines „gereinigten Christenthume"[4] der Aufklärung erstrahlen. Schnell fanden sich nicht nur lobende Worte weiterer Anhänger neologischer Theologien zu Riems Ausführungen, sondern auch Kritik von deren Gegnern: Der Aufklärer Friedrich Wilhelm von Schütz (1758-1834) publizierte noch im gleichen Jahr seine Erwiderung Ueber Wahrheit und Irrthum. Ein nothwendiger Nachtrag zu der Schrift: Ueber Aufklärung, um durch die Widerlegung von Riems Ausführungen zu verhindern, „daß die rühmlichen Absichten eines gnädigen Landesvaters von einigen Untertanen mißverstanden würden."[5]
Mit dieser Widerlegungsschrift von Schütz beschäftigte sich drei Jahre später eine Rezension in der Allgemeinen Literatur-Zeitung, worin der Rezensent bei Schütz den Mangel eines gefestigten persönlichen Standpunktes zur Sache diagnostiziert, was ursächlich für das Scheitern seines kläglichen Versuchs sei, die Einführung des Religionsediktes zu verteidigen und mit bestehenden Missverständnissen in der Bevölkerung aufzuräumen. In seiner Auseinandersetzung mit den Argumenten von Schütz fasst der Rezensent unter anderem zusammen:
„Ein Religionsedict soll dem Priesterdespotismus und dem Despotismus der Journalisten und Re- censenten Einhalt thun: denn solchen Leuten darf man die Aufklärung nicht überlassen, vielmehr muss der Regent, der Politiker darauf acht haben, weil sonst das Wohl der Staaten und die Sicherheit der Fürsten in Gefahr kommt, (d. h. wir müssen eine politische Religion haben und diese nur für die Politik, nicht aber für die innere Bestimmung des menschlichen Geistes, erhalten und cul- tiviren.)"[6]
Der Verfasser der Rezension gibt an dieser Stelle die Gedanken von Schütz sinngemäß wieder, ohne ihn direkt zu zitieren. In seiner in Klammern gesetzten, bald spöttisch-ironisch klingenden Bemerkung zu den zuvor zusammengefassten Gedanken von Schütz bedient sich der Rezensent
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[1] [Johann Andreas Riem]: Ueber Aufklärung. Ob sie dem Staate - der Religion - oder überhaupt gefährlich sey, und seyn könne? Zwei Fragmente. Berlin 1788. Kurz nach Veröffentlichung der anonymen Schrift wurde gegen Riem ein Verfahren aufgrund seines aufständischen Verhaltens eingeleitet, das zum Verlust seiner kirchlichen und akademischen Ämter führte und 1795 in seine Ausweisung in das Kurfürstentum Sachsen mündete.
[2] Am 9. Juli 1788 wurde unter dem preußischen König Friedrich Wilhelm II. ein von dem preußischen Pastor und Staatsmann Johann Christoph von Woellner (1732-1800) forciertes Religionsedikt erlassen, um den Vorstoß aufklärerischen Gedankenguts einzudämmen, das auch in die theologischen Diskussionen Preußens und den Positionierungen preußischer Theologen Einlass fand. Dieses Religionsedikt gestand den drei in Preußen vertretenen christlichen Konfessionen - reformierte, lutherische und katholische Kirche - Religionsfreiheit zu, verpflichtete ihre Anhänger jedoch zur Beibehaltung der tradierten Liturgie und der christlichen Lehre als Offenbarungsreligion. Vertreter neologisch orientierter Theologien sollten aus pädagogischen und kirchlichen Ämtern ferngehalten werden, um der Verbreitung aufklärerischer Religionsansätze wie Deismus oder Naturalismus Einhalt zu gebieten. Diese gegenaufklärerische Maßnahme des neuen preußischen Königs, die den Bruch mit der staatlichen Toleranzpolitik des vormaligen Königs Friedrich II. einläutete, stieß auf eine breite Ablehnung und löste in der Publikationslandschaft eine rege Debatte aus (siehe hierzu Christina Stange-Fayos: German an Lichtfreund. Die Hyperboreischen Briefe und das preußische Religionsedikt (9.7.1788), in: Cahiers d'Etudes Germaniques 70 (2016), S. 83-98).
[3] [Riem]: Ueber Aufklärung. Erstes Fragment, S. 57.
[4] Ebd., S. 55.
[5] [Friedrich Wilhelm von Schütz]: Ueber Wahrheit und Irrhtum, ein nothwendiger Nachtrag zur Schrift Ueber Aufklärung. Hamburg, Leipzig 1788, Vorwort, unpag. [S. 3].
[6] [Anon.]: Rez. "Ueber Wahrheit und Irrthum", in: Allgemeine Literatur-Zeitung, Nr. 10, 10.01.1791, Sp. 75f., Zitat Sp. 76.
dem Begriff Politische Religion im Sinne einer (inneren, geistigen) Überzeugung, eines philosophischen oder politischen Glaubensbekenntnisses, worunter auch Ideen der Aufklärung subsumiert werden können. Ähnlich zum vorangegangenen Beispiel wird der Begriff Politische Religion nicht im Rahmen einer Objektivierung genutzt, sondern als ein sich im Subjekt vollziehendes Ereignis, eine aufkeimende und sich festigende politischen Überzeugung, die alle weltlichen Bereiche des Lebens beeinflusst. Der Rezensent kritisiert die Forderung von Schütz, eben diesen allseitigen Einfluss auf bestimmte Bereiche unnatürlich zu begrenzen und der Aufklärung auf der Schwelle zu Religion und Theologie Einhalt zu gebieten. Aufgrund der Loslösung von einer objektbezogenen Zuschreibung von Merkmalen verliert der Begriff - ähnlich zum Quellenfund in dem Periodikum En Ärlig Swensk - eine ihm in anderen semantischen Ansätzen a priori innewohnende konnotative Ausrichtung. Erst durch den Sog des textlichen Umfeldes sowie der Bewertung als Politische Religion begriffenen (politischen) Haltung durch die Verfassenden gerät der Begriff in den Strudel einer Konnotation. Nach der Lektüre der Ausgangsschriften für die Rezension sollte nicht unerwähnt bleiben, dass weder Riem noch Schütz den Begriff in ihren oben genannten Schriften verwendeten - der Verfasser der Rezension wurde somit nicht durch die ihm für die Rezension zugrundliegenden Schriften zur Verwendung des Begriffs Politische Religion inspiriert.
Im Kontext der Ideen der Aufklärung konnte eine Neuerung im semantischen Feld des Begriffs Politische Religion eruiert werden, die - im Gegensatz zu den Schriften des 16. und 17. Jahrhunderts - mit einer wertfreien bis positiv konnotierten Begriffsverwendung einhergeht. Dem Wandel des Begriffs Politische Religion zu dieser wertfreien bis positiven Lesart liegt ein neues Begriffsverständnis zugrunde: der Begriff Politische Religion im Sinne einer politischen Überzeugung, eines politischen Glaubens. In diesem neuen Verständnis wird der Begriff Politische Religion von seiner bisherigen Objektbezogenheit, seinem Narrativ des Äußeren gelöst und auf die Innerlichkeit des Subjekts übertragen.
Die im zweiten Hauptkapitel betrachtete Verwendung des Begriffs Politische Religion als Umschreibung einer äußeren Religion, einer religio externa versus einer religion interna wurde weiterentwickelt und aus seinem semantischen Abhängigkeitsverhältnis in dieser antagonistischen Wechselbeziehung zur inneren Religion herausgehoben. Nicht nur entwickelte sich der Begriff Politische Religion aus diesem Deutungsfeld heraus zu einer Eigenständigkeit, auch wurde er durch den Wegfall des Vergleichs mit der religio interna seiner pejorativen Charakteristik entkleidet. Die Wechselbeziehung zur Religion blieb weiterhin bestehen, an die Stelle von Antagonismus und Abhängigkeit trat ein bald selbstverständliches Neben- und Miteinander, in dem beide als den Körper und Geist miteinander verbindende und komplementierende Elemente fungierten und durch ihre Harmonisierung eine Einheit zwischen körperlicher und geistiger Ebene schufen.
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