Skip to main content

1.1. 17. Jahrhundert

1606 erschien die zum Forschungsthema bereits bekannte Schrift Vindex Veritatis. Ad- versus Iustum Lipsium libro duo[1] des schottischen Calvinisten George Thomson (Lebensdaten unbekannt),[2] die bislang in der Forschungsliteratur als erster Quellenfund für eine frühe Verwendung des Begriffs Politische Religion bzw. religio politica galt. In der Schrift Vindex Veri- tatis kritisiert George Thomson die religiöse Inkonsequenz und den christlich-konfessionellen Indifferentismus des flämischen Philosophen Justus Lipsius (1547-1606), welcher seine konfessionelle Zugehörigkeit zwischen Katholizismus, Luthertum und Calvinismus mehrmals durch Konversion - laut Thomson aus Karrierebestreben - wechselte.[3] Bekanntlich taucht der Begriff religio politica im Untertitel des ersten Teils der Vindex Veritatis auf: Prior insanam eius religionem politicam, fatuam nefariamque; de Fato, sceleratissimam de fraude doctrinam refellit. In der Forschungsliteratur bisher unerwähnt ist die weitere Verwendung des Begriffs auf
[HR=3][/HR]
[1] George Thomson: Vindex veritatis. Adversusu Iustum Lipsium libri duo. Prior insanam eius religionem po-
liticam, fatuam nefariamque de Fato, sceleratissimam de fraude doctrinam refellit. London 1606. Vgl. hierzu Seitschek: Frühe Verwendungen, S. 109; Mulsow: Mehrfachkonversion, S. 144ff.
[2] Über die Person George Thomson existieren kaum gesicherte Fakten; einige wenige biographische Informationen finden sich im Fußnotentext eines Eintrags zu Justus Lipsius in The Encyclopaedia Britannica: [o.V.]: Art. Lipsius, Justus, in: The Encyclopaedia Britannica, or, Dictionary of arts, sciences, and general literature. Bd. 13. Edinburgh 71842, S. 371-375, hier S. 373, Anm. 5; siehe auch John Durkan: The Identity of George Thomson, Catholic Controversialist, in: The Innes Review 31.1 (1980), S. 45f.
[3] Eine etwas ältere Betrachtung der Quelle Thomsons und weiterer Schriften über Justus Lipsius wurde ohne Angaben zum Verfasser des Beitrags 1770 im Literarischen Wochenblat veröffentlicht, [o. V.]: Von einigen schriften wider und für den Justus Lipsius, in: Literarisches Wochenblat. Sechzehendes Stück, 1770, S. 233248. Der Begriff Politische Religion erfährt hier keine Beachtung.

der zweiten Seite der direkt an Lipsius gerichteten Praefatio:

„Tuum fuit Lipsi studere, placere bonis quam plurimis. At cui nisi tibi, tuique similibus placuit ista religio politica? Cui Fatum? cui fraudes? Imo cui bono non valde ista displicuere?"[1]

Thomson unterstellt Lipsius in diesem Ausschnitt der Vorrede zunächst den Drang, möglichst vielen guten Menschen gefallen zu wollen und damit ein von opportunistischen Beweggründen geleitetes Handeln des Mehrfachkonvertiten. Daraufhin fragt er, wem außer Lipsius selbst und seinesgleichen diese religio politica gefallen respektive welchem guten Menschen sie nicht missfallen habe. Thomson kritisiert mit dem Begriff die religiös bzw. konfessionell indifferente Haltung Lipsius' und dessen Opportunismus in Religionssachen. Demnach habe Lipsius seine konfessionelle Zugehörigkeit nach dem Politikum der Region statt nach religiöser Überzeugung für die einzig wahre Religion gewählt. Den Begriff Politische Religion könnte man hier im Sinne einer von den individuellen opportunistischen Beweggründen abhängigen Identifikation mit der zur Erreichung gesetzter diesseitiger Zwecke am besten geeignete Religion- oder Konfessionsgruppe interpretieren, was eine indifferente Haltung in religiösen oder konfessionellen Fragen voraussetzt. Schon anhand dieser ersten Quelle wird der Unterschied zu dem zuvor vorgestellten Begriffsverständnis deutlich, in dem der Begriff durch die Verfassenden zur Kritik an einer Konfession oder Glaubensgruppe verwendet wurde. Demgegenüber bezieht sich die Kritik des Begriffs Politische Religion im Kontext eines religiösen Indifferentismus nicht auf eine Religion oder Konfession, sondern auf eine religiöse Haltung, auf eine innere Einstellung des Individuums in theologischen oder religiösen Fragen.

Mehrfachkonversionen und konfessioneller Indifferentismus waren im beginnenden 17. Jahrhundert insbesondere im Gelehrtenstand kein seltenes Phänomen. Konversionen wurden in der Wende zum 17. Jahrhundert besonders bei Gelehrten und auf fürstlicher Ebene eine zunehmende Praxis, um die berufliche und persönliche Karriere oder den Aufstieg in Ämterposten zu begünstigen oder gar erst zu ermöglichen. Ursächlich waren unter anderem eine vergleichsweise hohe Mobilität von Gelehrten beginnend mit einer Ausbildung an verschiedenen Lehrstätten bis hin zu oft wechselnden Arbeitgebern in konfessionell unterschiedlich geprägten Territorien sowie eine im 16. Jahrhundert beginnende und im 17. Jahrhundert zunehmend praktizierte Konversionspolitik.[2] Diese Verbindungslinie zwischen einem religiösen oder konfessionellen Indifferentismus und dem Vorwurf, einer Politischen Religion anhängig zu sein, kann auch in späteren Werken des 17. Jahrhunderts beobachtet werden. Hier scheint ein Zusammenhang zwischen einer Begriffsverwendung und begrifflichen Konjunktur und einem seit spätestens Anfang des 17. Jahrhunderts feststellbaren Anstieg des Phänomens der (Mehrfach-

)Konversion aus Opportunismus, Karrierewillen oder anderen diesseitsgerichteten Gründen zu bestehen.


[HR=3][/HR]
[1] Thomson: Vindex Veritatis, unpag. [S. 7] [Hervorhebungen im Original]. Thomson verweist an dieser Stelle auf ein Zitat des römischen Komödiendichters Terenz aus dessen Komödie „Eunuchus" (161 v. Chr.): „Si quisquamst qui placere se studeat bonis quam plurimis et minime multos laedere, in is poeta hic nomen profitetur suom" (Terenz: Eunuchus, Prolog, Erster Satz).
[2] Zur Konversionspolitik im 17. Jahrhundert siehe bspw. Kim Siebenhüner: Glaubenswechsel in der Frühen Neuzeit. Chancen und Tendenzen einer historischen Konversionsforschung, in: Zeitschrift für historische Forschung 34.2 (2007), S. 243-277; Martin Scheutz: Glaubenswechsel als Massenphänomen in der Habsburgermonarchie im 17. und 18. Jahrhundert - Konversionen bei Hof sowie die „Bekehrung" der Namenlosen, in: Rudolf Leeb et al. (Hg.): Geheimprotestantismus und evangelische Kirchen in der Habsburgermonarchie und im Erzstift Salzburg (17./18. Jahrhundert). Wien 2009, S. 431-456; Wolfgang Behringer et al. (Hg.): Konversion zum Katholizismus in der Frühen Neuzeit. Institutionen, Interaktionen und Internationalisierung. Berlin 2019.

Im deutschen Sprachraum findet sich ein erster Hinweis auf dieses Begriffsverständnis von Politische Religion in einer Schrift des evangelisch-lutherischen Theologen und Hochschullehrers Johannes (auch Johann) Schmidt (1594-1658). 1630 veröffentlichte er unter dem Titel Christliche Gott wolgefällige Buß eine Zusammenstellung von 32 Predigten, die laut weiterführendem Titel zuvor im Münster von Straßburg gehalten wurden.[1] In der fünften Predigt „Von der Beicht und Bekantnuß der Sünden" spricht Schmidt zunächst von der Sündhaftigkeit des Menschen mit einem besonderen Augenmerk auf das Laster der Lüge, um im Anschluss über die verschiedenen Formen der Beichte und des Bekenntnisses der eigenen Sünden zu referieren.

„Was endlich anlangt die confession und Beicht / da eine Person allein dem Kirchen-Diener in geheim bekennet / daß sie mit allerley sünden behafft / auch eine oder die andere missethat / damit das Gewissen sonderlich genaget und gedruckt wird / entdecket und offenbahret / so wird zwar dieselbe von etlichen der politischen Religion Zugethanen als ein Päpstlicher Sawerteig gäntzlich verdammt unnd verworffen: Aber das heisset das Kind mit dem Bad außgeschüttet / und den mißbrauch sammt dem nutzlichen Werck selbst auffgehoben wider alle Vernunfft."[2]

Schmidt warnt davor, die Beichte des Privatmenschen bei einem Kirchendiener generell abzulehnen wie es eine Großzahl jener tue, die der Politischen Religion befürwortend gegenüberstünden. Allerdings kritisiert er im weiteren Verlauf der Predigt den Zwang zur regelmäßigen Beichte innerhalb der katholischen Theologie, der aus der Haltung resultiere, dass eine Sünde - und mag sie noch so klein sein - nur durch die Beichte bei einem Priester gesühnt werden könne, der als Mittler zwischen Gott und dem irdischen Untertan fungiere.

Der Terminus Politische Religion wird im gesamten Werk nur an dieser Stelle verwendet. Aus dem Kontext erschließt sich nicht eindeutig, ob Schmidt diesen Begriff in dieser Passage in einen pejorativen Zusammenhang - wie beim Großteil der Autoren des 17. Jahrhunderts - setzt oder in diesem Fall den Begriff ohne einen ihm anhängenden wertenden Charakter verwendet. Ein Hinweis könnte im Anfang dieser Predigt liegen, worin Schmidt über die fehlende Nächstenliebe „bey den heutigen Weltleuten / die sich Politicos nennen lassen"[3], referiert. Diese „heutigen halbheidnischen Politicos und Welt-Leute", so heißt es in der dreizehnten Predigt, vertreten den religiös indifferenten Standpunkt:

„zum Christlichen Glauben gehöre nicht viel Wissenschafft / es sey genug / wenn man glaube / daß ein Gott / daß Christus der Heiland und Erlöser sey: wer das schlecht oben hin verstehe / unnd [sic] darneben einen erbarn Wandel führe / der sey ein guter Christ / das ubrige sey Pfaffen- Gezänck / was von Christi Majestät nach seiner Menschheit / von der Tauffe / vom H. Abendmal und andern Articuln disputirt und gestritten werde."[4]

Dieser hier zu Tage tretende christlich-konfessionelle Indifferentismus, der theologische Standpunkt, man könne in jeder christlichen Konfession selig werden, solange man an Gott und Christus als Heiland und Erlöser glaube, wird in einigen Schriften des 17. und 18. Jahrhunderts
[HR=3][/HR]
[1] Johannes Schmidt: Christliche Gott wolgefällige Buß / Was sie sey / worinn sie bestehe / von wem / wie / wo / zu welcher Zeit sie zu üben / auch was für grosse Krafft und Nutzen sie habe: In zwei und dreissig Predigten / Nach Anleitung der ernstlichen Prophetischen Wort Joelis 2. cap. verS. 12 & seqq. Erklärt und ausgelegt. Hiebevor gehalten zu Straßburg im Münster / und itzo auff Begeren in Truck gegeben Durch Johannem Schmidt / der H. Schrifft Doctorem. Professorem, Predigern / und des Kirchen-Convents Praesi- dem daselbst. Straßburg 1630.
[2] Ebd., S. 97f. „Confession" wird dabei nicht als Oberbegriff für die verschiedenen christlichen Glaubens- und Bekenntnisformen, sondern in Sinne von Beichte begriffen. Zum besseren Verständnis verweist der Autor auf den Begriff „Confessionem fraudis" bei Augustinus (ebd. S. 90).
[3] Ebd., S. 86.
[4] Ebd., S. 270.

in eine deutliche Verbindung zum Begriff Politische Religion gesetzt. Ob Schmidt den Begriff Politische Religion tatsächlich zur Bezeichnung eines religiös oder konfessionell bedingten In- differentismus heranzog, kann auch unter Zuhilfenahme der zweiten hier zitierten Textstelle nicht zweifelsfrei geklärt werden. Schmidts selbstverständliche Verwendung des Begriffs Politische Religion innerhalb seiner vor der Gemeinde gehaltenen Predigt lässt vermuten, dass der Begriff aufgrund einer verbreiteten Anwendung und daraus resultierenden gewissen Bekanntheit keiner weiteren Präzisierungen bedurfte oder der Autor zumindest von einer Kenntnis des Begriffs bei den Zuhörenden ausgehen zu können glaubte, welche größtenteils theologische Laien gewesen sein dürften. Daraus könnte geschlossen werden, dass der Begriff Politische Religion auch außerhalb theologischer Gelehrtenkreise bekannt war und sogar in den Sprachgebrauch theologischer und geisteswissenschaftlicher Laien Eingang gefunden hatte.

Während die Textpassage von Schmidt eher als ein möglicher erster Anklang dieses Begriffsverständnisses im deutschen Sprachraum gedeutet werden kann, wird der Begriff Politische Religion in der Schrift Speculum Veritatis aus dem Jahr 1633, die im Namen von Markgraf Christian Wilhelm von Brandenburg (1587-1665) veröffentlicht wurde, zweifelsfrei im Sinne eines religiösen Indifferentismus verwendet. Wie bereits der Untertitel verrät, diente die Schrift als eine Rechtfertigung zur Konversion Christian Wilhelms zum Katholizismus.[1] Gleichzeitig könnte der Veröffentlichung womöglich auch die Funktion einer Propagandaschrift zugedacht worden sein im Bestreben um eine Rekatholisierung der Bevölkerung des Erzstiftes Magdeburg.

Neben Ausführungen über den falschen Glaubensweg der evangelischen Lehren und einer Fürsprache für die katholische Theologie wird in der Schrift auch die Frage eines christlichkonfessionellen Indifferentismus thematisiert. So etwa im elften Kapitel des dritten Abschnittes mit der Überschrift „Ob nun ausserhalb dieser waren Kirchen Christi / Jemandt auff der Welt Seelig werden könne?"[2] - gemeint ist hier die katholische Kirche. In diesem Abschnitt wird vor der in konfessionellen Belangen indifferenten Haltung bzw. der Auffassung gewarnt, man könne „sowohl in der Lutherischen oder Calvinischen als Catholischen Kirchen zu Seeligkeit gelangen"[3], weil allein der Glaube an Christus von Bedeutung sei und zur Sicherung des eigenen Seelenheils genüge. Dieser Indifferentismus in christlich-konfessionellen Fragen sei allerdings ein „hochschädlicher Irrthumb", der

„[...] vil Leuthe ins verderben führet / alle Gottes Forcht unn Liebe im Menschen außleschet / unn alß das vornemmste principium einer Politischen Religion und newen Ketzerey / mehlig und mehlig den Atheismum einführet und demselben Thür und Thor auffthut / dannen hero wir der
[HR=3][/HR]
[1] Christian Wilhelm von Brandenburg: Speculum Veritatis. Unser von Gottes Gnaden / Christian Wilhelm Margraven zu Brandenburg / in Preüssen / zu Stettin / Pommern der Cassuben und Wenden / auch in Schlesien zu Crossen und Jegerndorff Hertzogs / Burgraven zu Nürnberg / und Fürsten zu Rügen. In welchem der Historische und gründtliche Verlauff / auch Christliche penetrirende Motiven und Ursachen verfasset / so durch sonderbare Gnad und Gütte deß Allerhöchsten / der Lutherischen Religion, darinn Wir von Kindheit aufferzogen / zu valediciren / und dagegen zu der Römischen Catholischen Kirchen zutretten / Unser Gewissen angestrengt. Zur Ehr Gottes / auch beförderung aller annoch irrenden der Warheit begierigen Christen / Seelen Heyl und Seligkeit / von Uns in Druck verferttiget worden. Wien 1633.
Christian Wilhelm von Brandenburg wurde im lutherischen Bekenntnis erzogen und regierte von 1608 bis 1631 als Administrator des Erzstifts Magdeburg. Während der sogenannten Magdeburger Bluthochzeit im Jahr 1631 wurde er verwundet und ins gegnerische Lager von Gottfried Heinrich Graf zu Pappenheim (15941632) gebracht. In Gefangenschaft trat er 1632 zum katholischen Glauben über.
[2] Ebd., S. 504-522.
[3] Ebd., S. 504: „und köndte einer sowohl in der Lutherischen oder Calvinischen als Catholischen Kirchen zu Seeligkeit gelangen, were allein genug / daß er an Christum Glaube / oder dem 12. Articul deß Apostolischen symboli beypflichte / das übrige were nur Pfaffengedicht."

Nothturfft zu seyn erachtet / auß Gottes Wort und H. Vättern mit unwidertreiblichen Grundt darzuthun und zuerweisen / (damit sonderlich die anjetzo noch verführte arme Seelen / die wichtigkeit dieser Sachen erwögen möchten)."[1]

Religiös oder konfessionell indifferente Haltungen werden von dem Verfasser dieser Textpassage als das „vornemmste principum einer Politischen Religion"[2] bewertet. Durch die Verwendung des Wortes „vornehm" im Superlativ und des unbestimmten Artikels „einer" innerhalb dieser Formulierung erweckt er den Eindruck, dass nach seinem Begriffsverständnis weitere, von ihm nicht näher benannte Formen von Politischen Religionen existieren, folglich religiöser bzw. konfessioneller Indifferentismus zwar als Politische Religion zu charakterisieren sei, allerdings nicht jede Politische Religion einen religiösen bzw. konfessionellen Indifferen- tismus beschreibe. Da es sich um die einzige Stelle im gesamten Werk handelt, an der vom Verfasser der Begriff Politische Religion genutzt wird, kann über das Wesen weiterer Erscheinungsformen nur spekuliert werden.

Gewähre man religiös oder konfessionell indifferenten Positionen, diesem „vor- nemmste[n] principum" von Politischen Religionen, Einlass in die christlich-religiöse Lehre und Praxis, führe das letztendlich zum Atheismus.[3] Die Begriffe Atheismus und Politische Religion sind allerdings nicht als Synonyme zu verstehen; Atheismus ist vielmehr eine mögliche Konsequenz von Politischer Religion, nicht eine Erscheinungs- oder Ausprägungsform. Der Begriff Politische Religion steht an dieser Stelle zwar in einem engen Zusammenhang mit Umschreibungen eines konfessionellen Indifferentismus, aber scheint der Begriff nicht allein als ein Negativbegriff zur Charakterisierung einer Gleichgültigkeit in Religions- oder Konfessionsfragen, sondern auch als ein Oberbegriff zur Diffamierung einer von der Glaubenseinstellung des Autoren abweichenden Glaubensmeinung zu fungieren. Dabei ist die pejorative Verwendung des Begriffs Politische Religion nicht auf eine bestimmte religiöse Glaubensrichtung beschränkt, sondern kann - ähnlich dem Begriff Ketzerei - jeder beliebig zu kritisierenden religiösen Haltung zum Charakteristikum angelastet werden.

Der in eine protestantische Pastorenfamilie geborene und später zum römisch-katholischen Glauben konvertierte Gelehrte, Merkantilist und Alchimist Johann Joachim Becher (1635-1682) veröffentlichte 1668 sein ökonomisches Hauptwerk Politischer Discurs,[4] dem bereits 1673 eine zweite, überarbeitete und erweiterte Auflage folgte. Im zweiten Kapitel der erweiterten Auflage werden die „Qualitäten und Correlationen derer so regiren und den Regenten dienen"[5] erläutert. Becher bespricht zunächst in zwölf Punkten essenzielle, tugendhafte
[HR=3][/HR]
[1] Ebd., S. 504f.
[2] Ebd., [Hervorhebung durch Verf.].
[3] Zum Begriff Atheismus im 17. Jahrhundert siehe Michael Titzmann: Antichristliche und antireligiöse Diskurse in Früher Neuzeit und Aufklärung, in: Thorsten Burkard et al. (Hg.): Natur - Religion - Medien. Transformationen frühneuzeitlichen Wissens. Bad Langensalza 2013, S. 135ff.

[4] Johann Joachim Becher: Politischer Discurs. Von den eigentlichen Ursachen / deß Auf- und Abnehmens der Städt / Länder und Republicken / in specie, Wie ein Land Volckreich und Nahrhaft zu machen / und in eine rechte Societatem civilem zu bringen. Auch wird von dem Bauren-Handwercks und Kaufmannsstand / derer​

Handel und Wandel / item Von dem Monopolio, Polypolio und Propolio, von algemeinen Land-Magazinen / Niederlagen / Kaufhäusern / Montibus pietatis, Zucht- und Werckhäusern / Wechselbäncken und dergleichen / außfürlich gehandelt. Franckfurt 1668.
[5] Johann Joachim Becher: Politische Discurs. Von den eigentlichen Ursachen / deß Auff- und Abnehmens der
Städt / Länder und Republicken / in specie, Wie ein Land Volckreich und Nahrhafft zu machen / und in eine rechte Societatem civilem zu bringen. Auch wird von dem Bauren-Handwercks und Kauffmannsstand / derer Handel und Wandel / Item, Von dem Monopolio, Polypolio und Propolio, von allgemeinen Land-Magazinen / Niederlagen / Kauffhäusern / Montibus Pietatis, Zucht- und Werckhäusern / Wechselbäncken und dergleichen / außführlich gehandelt. Zweyte Edition. Mit Vier Theilen vermehret /worinnen viel nutzliche / wichtige und curiose Sachen begriffen. Franckfurt 1673, S. 20. Während die Erstausgabe von 1668 mit Titelblatt rund 260 Seiten umfasste, wuchs die Neuauflage mit rund 1300 Seiten auf das Fünffache des ursprünglichen Umfangs an.

Wesenszüge, die seines Erachtens einen guten Regenten als „speculum & specula populi"[1] auszeichnen. Dabei sei es notwendig, dass nicht nur der Regent, sondern auch seine Entourage und Dienerschaft diese für eine gute Regentschaft vorausgesetzten Tugenden verinnerlichen und ihr Leben danach ausrichten. Entsprechend müsse ein Regent bei der Anstellung eines neuen Dieners vor allen anderen Dingen prüfen, „ob er seiner Religion seye / ob er ein Gewissen habe / und eines unsträfflichen Wandels seye"[2], denn wie könne man einem Diener Vertrauen schenken, der sich selbst gegenüber untreu ist, oder den Hof mit dessen Anwesenheit bereichern, wenn sein Wesen voller Laster ist. In Sachen der Religion und Konfession sei es laut Becher ratsam, dass Regent und Diener einer gemeinsamen Religion anhängig sind. Denn ein Untergebener könne schwerlich seinen Herren lieben und ihm treu ergeben sein, wenn dieser anderer, „widriger Religion ist" und der Untertan folglich glaube müsse, „daß er [der Herr; Anm. Verf.in] in die Hölle komme / und selber krafft seiner Religion verdammet."[3] Die zu seinem Regenten disparate Glaubenszugehörigkeit versetze den Diener in eine Art schizophrenen Zustand, in welchem er dem Regenten aufgrund seiner Stellung Liebe und Treue entgegenbringen solle, ihn auf religiöser Ebene jedoch als Anhänger einer falschen Religion oder Konfession stigmatisiere und aufgrund der religiösen Gegensätzlichkeit seine Seele verdamme. Deswegen sei es wichtig, dass der Herrscher seine zukünftigen Diener in religiösen oder konfessionellen Angelegenheiten genau betrachte, um sicherzustellen, dass beider Religionen bzw. Konfessionen miteinander korrespondieren und harmonieren, um alle Minderungs- und Hinderungsgründe für ein absolutes Vertrauens- und Loyalitätsverhältnis zu beseitigen. Die religiöse Haltung betreffend solle der Regent eine ebenso große Vorsicht und Sorgfalt dahingehend walten lassen,

„daß er keine Diener annehme / die die politische / oder staatisten Religion haben / quorum marsupium Deus est, die weder kalt / noch warm seyn / dann solche Leut alles umb des Gelts willen thun & quo se fortuna, eo etiam se eorum affectus vertit, suumque Dominum, ut praedam sequuntur, darumb er sich nichts auff sie zu verlassen hat / wann sie auch kein Gewissen haben / so gehen sie mit den Unterthanen übel umb / mit einem Wort / sie nutzen gar nichts."[4]

Der Begriff Politische Religion umschreibt in dieser Quelle eine nicht nur auf den religiösen Bereich begrenzte indifferente Haltung, vor der sich der Regent bei der Wahl der Mitglieder seines Hofstaates in Acht nehmen solle. Denn der einzige Gott, dem religiös indifferente Personen untergeben sind und treu dienen, sei der Geldbeutel oder die Geltungssucht. Folglich würden religiöse oder konfessionelle Standpunkte allein nach Kalkül auf der Grundlage weltlicher Motivationen, etwa dem Vermehren von Vermögen oder dem Vorantreiben der beruflichen Karriere, eingenommen werden und seien dementsprechend nur temporär bedingt statt von Dauerhaftigkeit geprägt. Die opportunistischen Beweggründe könnten unterschiedlicher
[HR=3][/HR]
[1] Ebd., S. 29: „Mit einem Wort / ein Regent soll Tugendhafft seyn / dann er ist speculum & specula populi, der Spigel / und Wart des gemeinen Volcks / worauff alle sehen / und sich darnach richten."
[2] Ebd., S. 30: „das erste ein Herr vor allen Dingen consideriren, wann er einen Diener annimbt / ob er seiner Religion seye / ob er ein Gewissen habe / und eines unsträfflichen Wandels seye / dann wie kan ein Diener seinem Herrn treu seyn / der sich selber untreu ist / und wie kan er dessen Hoff zieren helffen / der sich selber sein lassen und Thun verunehret".
[3] Ebd., S. 30: „Ja wie kan er seinen Herrn lieben / den er / weil er widriger Religion ist / glaubet / daß er in die Hölle komme / und selber krafft seiner Religion verdammet".
[4] Ebd.

Prägung sein, doch tragen sie im Kern eine gemeinsame Gefahr für den Regenten: Illoyalität und Verrat durch die Dienerschaft, die von Konkurrenten oder Feinden des Regenten mit Geld oder Karriereversprechungen gekauft bzw. anderweitig abgeworben werden könne.

Politisch steht bei Becher nicht in einer Gleichsetzung oder synonym zu weltlich,, sondern verweist auf einen Teilbereich des Weltlichen, im Speziellen auf den Staat und das öffentliche Gemeinwesen. Das Wort weltlich taucht in Bechers Politischen Discurs überwiegend mit dem Terminus geistlich in einer Gegensatzpaarung für zwei voneinander zu unterscheidende Regierungsformen auf: die geistliche Herrschaft der Kirche oder des Papstes und die weltliche Regierung des Kaisers.[1] Politisch hingegen bezieht sich speziell auf den Staat und das öffentliche Staats- und Gemeinwesen, was sich in der alternativ zu respektive neben dem Begriff Politische Religion stehenden begriffliche Kombination „staatisten [auch: statisten; Anm. Verf.in] Religion"[2] manifestiert - beide begriffliche Varianten treten in der gesamten Schrift nur an der oben zitierten Stelle auf. Der Ausdruck „Staatist" (auch „Statist")[3] steht in diesem Text abwertend für einen Staatsmann oder Politiker, die Becher in seinem Text unter anderem als „Suppenfresser"[4] diffamiert, denen weniger an einer Beratung zur guten Staats- und Volksleitung gelegen sei, als vielmehr zum eigenen Nutzen und zur persönlichen Bereicherung. In der Politischen Religion Bechers kommt noch ein zweiter Verständnishorizont des Wortes politisch zum Tragen, indem der Begriff im Sinne von berechnend, kalkulierend oder listig verwendet wird.[5] So könnten eben auch jene Anhänger einer „politische[n] / oder staatisten Religion"[6] ihrem Wesen nach als berechnend oder listig zu ihren eigenen Gunsten im Staatsdienste handelnd charakterisiert werden. Denn anstatt dem Staat zu dienen und die zur Sicherung und Erhaltung des Gemeinwohls geschaffenen Gesetze zu wahren, bedienen sich jene Personenkreise mit Kalkül allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln, um entgegen jeder Moral ihre Macht- und Geldgier zu stillen.

Ein weiterer Konvertit, der Lyriker und römisch-katholische Theologe Johannes Scheffler (1624-1677; auch: Angelus Silesius),[7] nahm den Terminus Politische Religion in der 1677
[HR=3][/HR]
[1] Zur Unterscheidung zwischen geistlicher und weltlicher Obrigkeit siehe ebd., S. 12ff.
[2] Ebd., S. 30. Dieser Begriff tritt in ähnlicher Manier auch bei anderen Autoren des 17. Jahrhunderts auf. So richtete bspw. der Theologe und Philologe Joachim Frisich (auch: Frisichius) (1638-1684) an einer Stelle seiner Sammlung von Reimsätzen Poetisches Blumenfeld über „Des Statisten Religion" mit folgendem Paarreim: „Religio gilt dir so viel als eine Kuh // Die so die fetteste / die eignetu dir zu. // Die Ehr und Schätze giebt / der giebestu dein Hertz // Jetzt ist die dir ein Ernst / bald wiederumb ein Schertz" (Joachim Frisich: Poetisches Blumenfeld. Bestehend in Vier hundert Epigrammatischen Reim-Sätzen. Franckfurt an der Oder 1672, S. 232f.).
[3] Zur Bedeutung des Wortes Statist / Staatist vgl. den Eintrag im Deutschen Wörterbuch (DWB), Bd. 17, Sp. 949f.
[4] „Theils Staatisten / oder vielmehr Suppenfresser / geben der Obrigkeit in allem recht / und sagen / wann die Obrigkeit Böß befilcht / so sollen zwar die Unterthanen nicht folgen / aber doch nicht wider die Obrigkeit sich empören / sondern sich in ihrer Unschuld lieber zu tod schlagen lassen" (Becher: Politische Discurs, S. 44). Das Schimpfwort Suppenfresser war bereits im 16. Jahrhundert zur Bezeichnung von Nutznießern, Schmarotzern und Schmeichlern gebräuchlich; vgl. hierzu DWB, Bd. 20, Sp. 1235f.
[5] Siehe hierzu den Eintrag politisch in: DWB, Bd. 13, Sp. 1379f.
[6] Becher: Politische Discurs, S. 30.
[7] Scheffler, dessen Eltern ihn nach der Geburt evangelisch taufen ließen, konvertierte am 12. Juni 1653 öffentlich und aufsehenerregend in der Breslauer Kirche Sankt Matthias zum römisch-katholischen Glauben, nannte sich fortan als äußeres Zeichen des Konfessionswechsels Angelus Silesius und erhielt 1661 die Priesterweihe. Seit dem Übertritt zur römisch-katholischen Konfession rechtfertigte und verteidigte Scheffler bzw. Angelus Silesius seine Entscheidung und diffamierte zugleich evangelische Glaubenskonzepte und Kirchen in zahlreichen Veröffentlichungen; so auch in den unter seinem bürgerlichen Namen herausgegebenen Traktaten seiner Ecclesiologia.

veröffentlichten Ecclesiologia oder Kirche-Beschreibung auf, eine Sammlung von 39 polemisch-theologischen Traktaten.[1] Scheffler unterscheidet in seinen Traktaten zwischen einer „falschen" und einer „wahren Religion"[2], wobei er unmissverständlich die Lehren der römisch-katholischen Religion als die einzig „wahre Religion" herausstellt.[3] Der Begriff politisch bzw. politica wird von ihm an einer Stelle im Zusammenhang mit gegnerischen Diffamierungen der Päpstlichen Kirche mit den Worten „dem äuserlichen schein nach"[4] definiert, jedoch wird dem Adjektiv in der gesamten Ecclesiologia nur wenig Raum gewährt. Eine etwas größere Beachtung finden hingegen die personalisierte Substantivierung im Sinne von der oder die „Politische(n)"[5] respektive an manchen Stellen die lateinische Variante „Politicus", worunter jene Personen zusammengefasst werden, die an der weltlichen Lenkung des Volkes und Bürgers in unterschiedlichem Maße Anteil haben. Der „Politicus" sei nicht von Grund auf schlecht, wird doch selbst der christliche Gott von Scheffler als „der erste und höchste

Politicus"[6] bestimmt; erst in den Handlungen des Politicus, die oft von eigenen Interessen bestimmt zu sein scheinen, erfährt diese Wesenszuschreibung ihren negativen Beigeschmack, wodurch jeder Politicus im Voraus unter Generalverdacht gestellt wird. Des Weiteren verwendet Scheffler in seiner Schrift auch den Ausdruck „Politicismus", welcher „dem Sinn der gantzen Welt Christi und Gottes" zuwiderlaufe.[7] Das 37. Kapitel Kurtze Wiederlegung des Politicismi als der allerschädlichsten Ketzerey leitet mit der Feststellung ein, dass sich seinerzeit viele
[HR=3][/HR]
[1] Johannes Scheffler: Der H. Römischen Kirchen Pristers Ecclesiologia Oder Kirche-Beschreibung. Bestehende In Neun und dreyssig unterschiedenen außerlesenen Tractätlein von der Catholischen Kirche und dero wahren Glauben / wie auch von den Uncatholischen Gelachen und dero falschem Wahn / so theils vorhin absonderlich gedrukt worden / theils aber noch nie das Tageslicht gesehen behaltene allerhand schöne Materien alsbald erkennt werden können. Neuß und Glaz 1677. Diese 39 Traktate sind eine Auswahl aus 55 ab 1666 entstandenen und zum Teil im Druck veröffentlichten Texten Schefflers. Eine Neuauflage von Schefflers Ecclesiologia erschien 1735, laut Titelblatt auf Betreiben eines Abtes des Zisterzienser-Kloster in Grüssau; dieses Amt hatte zum Zeitpunkt der Veröffentlichung Benedikt II. Seidel inne. Zur Schrift siehe Feil: Religio III, S. 284-286.
[2] So disputiert er zum Beispiel in einer kritischen Beurteilung des Islams im Vergleich zum Christentum über die Stellung von wahrer zu falscher Religion: „Daß nemlich [...] 2. Die wahre Religion allzeit älter ist / alß die falsche; eben wie die Warheit an sich selbst älter ist / alß die Lügen. [...] so kan man nicht sagen / daß die wahre Religion der falschen gleich sey; sondern man muß sagen / daß die falsche der wahren / so weit sie nehmlich ihr nachahmet / gleich sey" (Scheffler: Ecclesiologia, Sp. LIXf.). An anderer Stelle heißt es: „WIe nun die Heiligkeit der Urheber ein unfehlbares Zeichen der wahren Religion bleibt / so ist im gegentheil die unheiligheit derselben ein gewisses Zeichen der falschen;" (ebd., Sp. 1129).
[3] „Es seind keine grössere reichthümer / keine grössere Schätze / keine grössere Ehren / kein grösseres vermögen in der Welt / als der Catholische Glaube / welcher die sündige Menschen heilet / die Blinden erleuchtet / die Schwachen heilet/ die Catechisten tauffet / die glaubigen gerecht macht / die büssenden zu recht bringt / die Gerechten vermehret / die Märtyrer krönet / die Kleriker ordinirt / die Prister weihet / zum Himmelreich bereitet / und in der Ewigen Erbschafft mit den H. Engeln gemeinschafft hat" (ebd., Sp. CCXXVII); „Ich weiß nunmehr wol daß du in deinem Verstande überwunden bist / und bey dir selbst zuegeben must / daß die Römische Kirche die wahre unverfälschte Kirche Christi ist" (ebd., Sp. 231).
[4] Ebd., Sp. 87: „Wil die Bäpstische Kirche den Titul der einigkeit führen / so wird sie nicht mit unrecht Satanica (das Reich des Teuffels zuvermehren) politica (dem äuserlichen schein nach) Pecuina (wegen der unwissenden die fide implicita glauben) Ischariotica (an Geld-Geiz) Tyrannica (wegen deß Bapstszwang) und dann Herodiana (weil sie wieder Christum gerichtet ist) genennt werden."
[5] Ebd., Sp. 1215: „Sehet solche schädliche Leute seind diese Politischen!"
[6] Ebd., Sp. DCCVII: „Ich vermeine / man solte glauben / daß GOtt auch ein Politicus und zwar der aller klugeste sey. [...] seind wir klüger als die Ewige Weisheit? verständigere Politici als der stiffter und urheber aller Policey / der erste und höchste Politicus."
[7] Ebd., Sp. 1216: „Der Politicismus läufft dem Sinn der gantzen Welt Christi und Gottes zuwider." Dem „Po- liticismus" wendet sich Scheffler insbesondere in den letzten zwei Abschnitten des 28. Traktats dieser Sammlung mit dem Titel Spiegel der Ketzerey zu (Scheffler: Spiegel der Ketzerey. Und des alten immerwehrenden wahren Glaubens. Allen rechtglaubigen zu Trost und irrigen zur Warnung fürgehalten. Mit einer kurtzen Wiederlegung des Politicismi als der allerschädlichsten Ketzerey, in: ders., Ecclesiologia, Sp. 1182-1221).

Menschen gefunden hätten, „welche man Politicos oder politischer Religion nennt," aber tatsächlich der „allerschädlichsten Ketzerey"[1] beschuldigt werden müssten. Die Begriffe „Politicos" und Politische Religion werden in ein sehr enges semantisches Verhältnis gestellt, indem jene, die man Politicos nennt, generell verdächtigt werden, einer Politischen Religion anhängig zu sein. Schefflers gewählte Formulierung „welche man [...] nennt" weist auf eine Bekanntheit des Terminus Politische Religion und seine begriffliche Verbindung mit dem Ausdruck „Politicos" zu seiner Zeit hin, die neben ihm auch von anderen Autoren beschrieben wurde. Dass es sich hierbei um eine pejorativ konnotierte Anwendung handelt, wird in der darauffolgenden näheren Umschreibung dieser Charakterisierungen deutlich:

„Denn es sagen diese Ketzer / es sey gar keine Ketzerey / es sey nur ein unnöthiges PfaffenGezänk und Narrentheidung / daß man umb die Religion streite / wenn man nur im Grunde einige sey / und an Christum glaube / so dürffe man sich des andern nicht annehmen / man könne gleich wolseelig werden: Halten es derowegen nach gelegenheit von aussen bald mit dieser bald mit jener Religion; im Hertzen aber verlachen sie alle."[2]

Eine Gleichstellung aller christlichen Konfessionen und eine neutrale Haltung in konfessionellen Streitigkeiten um theologische Lehrmeinungen und religiöse Dogmen mit dem Argument, dass es sich im Grunde um nichtige Abweichungen innerhalb des Glaubens an einen gemeinsamen christlichen Gott handle, gefährde nach Scheffler die „wahre Christliche Kirche".[3] Denn durch eine innere Neutralität gegenüber religiösen Bekenntnissen, eine religiös indifferente Haltung und der daraus resultierenden, allein auf persönlich-weltlichem Kalkül basierenden Hinwendung zu einer beliebigen Konfession sowie einer Ignoranz gegenüber dem Eifer theologischer Köpfe im Kampf um den Erhalt der einzig wahren Lehre Gottes gewähre man falschen Glaubenssätzen Einlass und nähre den Boden für Heidentum oder gar Gottlosigkeit. Die politische Religion wird auch von Scheffler mit einer indifferenten Haltung in Glaubensfragen umschrieben, ohne jedoch den Begriff Indifferentismus oder begriffliche Ableitungen in textlicher Nähe zu verwenden, obwohl er sich des Begriffs mit einer negativen Konnotation in anderen Traktaten seiner Ecclesiologia bemächtigt.[4]

Im Jahr 1690 erschien anonym die als „Politischer Discurs"[5] angelegte Publikation Der Occidentalische Erb-Feindt, eine Hetzschrift gegen den französischen König, der „mit allem Fleiß des Türckischen Tyrannen Regierungs-Manier durchgehend zu imitieren trachte."[6]
[HR=3][/HR]
[1] Ebd., Sp. 1214f.: „Es finden sich Leute / und Leider itziger Zeit gar sehr viel / welche man Politicos oder politischer Religion nennt."
[2] Ebd., Sp. 1215.
[3] Ebd.
[4] „Welche [...] der Syncretisten eigentliche höchstschädliche Lehre ist / mit welcher sie alle Religionen in einen klumpen schmieden wollen / und der verdammlichen Religions Politicismum und indifferentismum des Atheismi progenitorem infallibilem einführen" (Scheffler: Ecclesiologia, Sp. DCCCLXXIII).
[5] [Anon.]: Der Occidentalische Erb-Feindt / Das ist Die Frantzösische heut zu Tag übliche underschidliche
Staats-Maximen und Regierung / so wohl in Geist- als Weltlichen / und deren Vergleichung / mitdenen Türckischen Staats-Grundt-Reglen / Dabey auch Uber die heutige annoch währende weit außsehende Frantzösische Proceduren / auch incidenter wegen der unvermuthet vorgenommenen Fridens- und Stillstands-Ruptur. Und Bißdahero verübter Frantzösisch-Barbarischen Grausamkeiten / einige Reflexiones und Politische Anmerkungen bedencklich zu lesen. [o. O.] 1690, Zitat S. 60.
[6] Ebd., S. 67: „Also daß es scheinet / als ob der dißmahlige König mit allem Fleiß des Türckischen Tyrannen Regierungs-Manier durchgehend zu imitieren trachte / wie schon längstens die in aller Welt nur allzu wohl bekandte Königin in Franckreich Catharina de Medices drauff angetragen gehabt / und mit ihr selber zu Rath gangen / wie sie nach derselben [Türckischen Form] auch ihre Regierung bey denen Frantzosen einrichten möchte? [.] So halten wir dafür / daß ermeldtem König in Franckreich das Praedicat des Occidentalischen Erb-Feinds / gleich wie jenem des Orientalischen / wegen beyderseitigen fast gleichförmigen RegierungsManier wohl beygelegt werden könne."

Zwei Jahre zuvor hatte Ludwig XIV. (1638-1715) den als so genannten Pfälzischen Erbfolgekrieg bekannten Konflikt mit dem Heiligen Römischen Reich bzw. der ein Jahr später gegen Ludwig XIV. formierten Wiener Großen Allianz provoziert. Die Anschuldigungen gegen die französische Staatsmacht unter Ludwig XIV. versucht der Verfasser seiner Leserschaft in sieben Vergleichspunkten darzulegen, welche die Gemeinsamkeiten zwischen der französischen und der osmanischen Regierungs- und Staatsführung belegen sollen. Im dritten Punkt thematisiert der Verfasser den Umgang mit anderen, der eigenen Religion fremden Glaubensrichtungen durch den osmanischen und den französischen Herrscher. So hätten beide Oberhäupter neben dem eigenen Glauben fremde Religionen oder Konfessionen - im Speziellen werden für die osmanische Seite das Christentum und für die französischen Herrscher die Hugenotten angeführt - zunächst geduldet, jedoch alsbald unter dem Deckmantel der Wahrung und Sicherung der jeweils eigenen Religion unterdrückt und verfolgt sowie mit der Aussicht auf berufliche Karriere die betreffenden Untertanen zur Konversion verleitet oder gar gedrängt. Nach Ansicht des Autors stehe in Wirklichkeit nicht die Wahrung der eigenen Religion im Vordergrund derartiger Handlungsweisen der Obrigkeiten, sondern die Sicherung der eigenen Vormachtstellung im Reich mithilfe der Religion als gemeinschaftsbildendes Element.[1] So seien die gegenreformatorischen Maßnahmen der französischen Krone nicht etwa Ausdruck einer übersteigerten Ehrerbietung gegenüber der römisch-katholischen Lehre und Kirche als religiöse Wahrheit,

„sondern eintzig und allein auß erdeuteter Staats-Maxim entsprungen / dahero auch gar wohl zu glauben / weil eine große Anzahl under ihnen sich äusserlich nach des Königs auch äusserlich führendem Schein Intention sich bequemmet / es werde ein guter Theil derselben auch eine solche politische Religion angenommen haben / die des Königs und viler grosser Herren in Franckreich und der vornembsten Königlichen Ministren Religion zimlich ähnlich."[2]

Der Verfasser unterstellt in diesem Textabschnitt unter anderem dem französischen König sowie seinem Hofstaat, einer Politischen Religion anhängig zu sein, da sie sich der (römischkatholischen) Religion lediglich als Mittel zum Zweck ihrer Herrschaftssicherung bedienen. Dementsprechend hoffe der König in seinem gegenreformatorischen Kampf mit dem Ziel, die „Uncatholische[n] Catholisch zumachen"[3], insgeheim bei seinen Adressaten auf eine religiös indifferente Einstellung zu stoßen und in ihnen den Wunsch auf Befriedigung (neu entdeckter) opportunistischer Begierden zu wecken, um sie für die Konversion zur römisch-katholischen Religion gewinnen zu können. Im weiteren Verlauf des Abschnittes wird diese als Politische Religion bezeichnete religiöse Haltung näher umschrieben und ihren Anhängern unterstellt,

„daß sie nemlich innerlich und im Hertzen glauben was sie wollen / und äusserlich sich anstellen / wie sie es bequem und vortheilhafft gedunckt / bevorab weil sie freyer handlen und wandlen dörffen / auch zu allerhand einträglichen Aembtern und Ehrenstellen zugelangen Hoffnung haben können; das ist alsdann eine treffliche Religion / welche endlich dahin außlaufft / daß ein gantzer Atheismus darauß wird."[4]


[HR=3][/HR]
[1] Siehe hierzu ebd., S. 14: „Aber die rechte haupt-Intention wahr ein pur lauter / dabey schon angeregter massen gesuchter Staats-Vortheyl / nemblich sie zuschwächen / weil ihre Zahl schon über etlich mahl 100000. Köpff sich erstrecket / und er schon Vestigia voriger zeiten für sich gefunden / die ihme gezeiget / was so viel unrühige Köpff von ungleicher Religion für Unheyl anstellen könnten?"
[2] Ebd., S. 14f.
[3] Ebd., S. 14.
[4] Ebd., S. 15.

Die Wahl der Religion oder Konfession sei demnach im Falle der Politischen Religion keine Herzens- oder Glaubensentscheidung, sondern werde aus opportunistischen Motiven getroffen. Im Speziellen wird im Text die Hoffnung auf eine Beförderung in „einträgliche[] Aembter[] und Ehrenstellen" etwa im Staatsdienst oder einer akademischen Laufbahn formuliert. Denn innerlich seien die betreffenden Personen von einem religiös oder konfessionell indifferenten Wesen und „glauben was sie wollen", ohne sich im Herzen auf eine bestimmte Religion oder Konfession festzulegen. Aufgrund dessen sei es ihnen in der Außendarstellung ohne Gewissenskonflikte möglich, die zur Erreichung der angestrebten weltlichen Ziele vorteilhafteste Religion bzw. Konfession anzunehmen. Genau darin liege die große Gefahr der Politischen Religion, deren indifferentes Wesen sich letztendlich im Atheismus vervollkommnen könne - die Ähnlichkeit insbesondere zu den Ausführungen Brandenburgs und Schefflers sind kaum zu übersehen. Die Charakterisierung der Politischen Religion als religiöser bzw. konfessioneller Indifferentismus tritt an dieser Textstelle deutlich zu Tage, jedoch verwendet der Verfasser den Begriff Indifferentismus oder Ableitungen davon an keiner Stelle im gesamten Text.

Der Begriff politisch taucht in dieser Schrift nur an sehr wenigen Stellen auf, wohingegen eine Verwendung von weltlich einen größeren Raum einnimmt. Der Religionsbegriff wird auch in dieser Quelle im Sinne eines Kollektivsingulars für verschiedene, auch nichtchristliche Glaubenslehren, wie zum Beispiel die „Mahometanische[] Religion"[1], und an manchen Textstellen im Plural verwendet. Was die eigene Religions- bzw. Konfessionszugehörigkeit anbelangt, gibt der Verfasser sein Bekenntnis in seiner Schrift mit keinem Wort preis. Dass im Text überwiegend die Rede von der römisch-katholischen Religion und Kirche ist, wohingegen die evangelischen Kirchen nur an zwei Stellen erwähnt werden, vollzieht sich im Kontext der Thematisierung des französischen Königs und dessen Religionspolitik. Dennoch fällt auf, dass der Verfasser der römisch-katholischen Kirche mit keiner Polemik begegnet und zum Teil den Eindruck einer positiven Haltung zum Päpstlichen Stuhl erweckt. Ein Vergleich der gewählten Formulierungen in Bezug auf die evangelischen Konfessionen ist nicht möglich, da sie aufgrund der fehlenden Relevanz für den Kontext nur an wenigen Stellen erwähnt werden. In der Konklusion seines „Politische[n] Discurs[es]"[2] als Warnung vor dem König von Frankreich ruft der Verfasser sogar zu einer Befriedigung der Konflikte zwischen christlichen Konfessionsgruppen auf, damit diese „conjunctis Viribus ohne Unterscheid [sic] der Religion [dann dieselbe ist nur bey ihme ein Spiegel-fechten] wider ihn zu Felde ziehe."[3] Jede positive Darstellung einer der christlichen Konfessionen könnte somit lediglich im Licht dieser Forderung nach einer (zeitlich begrenzten) Versöhnung der christlichen Konfessionen auf deutschen Territorium stehen, um als Einheit in den Kampf gegen die französische Krone zu ziehen, und spiegelt nicht unbedingt ein tatsächlich inneres religiöses Bekenntnis des Autors wider.

Auch in niederländischen Publikationen finden sich Belegstellen einer Kontextualisie- rung der Politischen Religion im Deutungsfeld eines religiösen oder konfessionellen Indiffe- rentismus: Der niederländische Theologe David Knibbe (1639-1701) nutzte im Sendbrief des
[HR=3][/HR]
[1] Ebd., S. 8: „Der Türckische Kayser haltet zwar in verschiedenen Stucken sehr vest über seiner Mahometani- schen Religion und dessen Alcoran, umb seinen Eyfer vor seinen Underthanen zu zeigen / underdrucket die andere Christliche Religionen und darunder ohnzahlbahr viel sich einschleichende Secten."
[2] Ebd., S. 60.
[3] Ebd., S. 68: „Dabey ich meinem lieben Teutschen Vatterland wünschte / daß es zu Vorkommung gäntzlichen Verderbens in Zeiten noch disem Occidentalischen Erb-Feind sich standhafft widersetze / und conjunctis Viribus ohne Unterscheid [sic] der Religion [dann dieselbe ist nur bey ihme ein Spiegel-fechten] wider ihn zu Felde ziehe."

Apostels Pauli Aan den Colossensen (1686-88) die niederländische Entsprechung innerhalb einer kritischen Auseinandersetzung mit dem römischen Redner Ecebolius (4. Jh. n. Chr.), welcher seine eigene Religionszugehörigkeit an der Religion des jeweils aktuell herrschenden römischen Kaisers orientiert habe. Unter Kaiser Constantius II. zunächst der frühchristlichen Position des Arianismus verschrieben, habe sich Ecebolius unter Kaiser Julian der römischen und griechischen Religion zugewandt, sei jedoch nach dem Tod des Kaisers unter dessen Nachfolger Jovian zum Christentum zurückgekehrt. Hieran anknüpfend stellt Knibbe im weiteren Verlauf der Textstelle fest, dass gegenwärtig viele Menschen wie Ecebolius zu finden seien, die nach außen kundtun, „een Politijke Religie" zu haben und umschreibt mit dem Begriff unverkennbar einen religiösen Indifferentismus:

„Och hoe veele sulke Ecebolii sijnder / die het niet verscheelt / wat sy gelooven of belijden / die met de Religie spelen, en haar daar van bedienen na den tijd, en toonen alleen te hebben een Politijke Religie!"[1]

Im Vergleich zur oben erwähnten niederländischen Fundstelle in Oliger Paullis Triumph den afgehauwen Steen sonder Handen verwendet Knibbe den Begriff politiki religie in einer von Paulli zu unterscheidenden Bedeutungsebene als eine von äußeren Umständen abhängige individuelle Religionszugehörigkeit, einen religiösen Indifferentismus. Somit kann nicht nur in deutsch- oder französischsprachigen Schriften, sondern auch in den Werken niederländischer Autoren bereits im 17. Jahrhundert eine Begriffsverwendung mit verschiedenen Verwendungsfeldern und Bedeutungsnuancen festgestellt werden.

Die Kontextualisierung des Begriffs Politische Religion innerhalb eines religiösen bzw. konfessionellen Indifferentismus war im 17. Jahrhundert recht verbreitet und fand Eingang in weiteren Schriften, deren Untersuchung in anderen Kapiteln erfolgen wird. Dennoch an dieser Stelle nicht unerwähnt bleiben sollen die Schriften von Johann Konrad Dannhauer und Konrad Tiburtius Rango, die das Begriffsverständnis von Politischer Religion als religiösen Indifferen- tismus um die Komponente Synkretismus erweitern und auf nichtchristliche Religionen beziehen.


[HR=3][/HR]
[1] David Knibbe: Den Sendbrief des Apostels Pauli Aan den Colossensen. Bd. 1. Leiden 1686, S. 450. Eine deutsche Übersetzung der Schrift erschien 1708, in der es an entsprechender Stelle heißt: „Ach wie viele Ecebolii werden heutiges Tages gefunden / denen es gleich viel ist / was sie glauben oder bekennen / die mit der Religion Spötterey treiben / und sich mit derselbigen in der Zeit schicken / und dadurch kund thun / daß sie eine Politische Religion haben!" (David Knibbe: Die Epistel des Apostels Pauli an die Colosser. Übers. v. Alrico Plesken. Franckfurt am Mayn 1708, S. 539).