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1.2.4. 20. Jahrhundert

Im 20. Jahrhundert kann kein Rückgang innerhalb der Popularität des Narrativs des Islams als Politische Religion im deutschen Sprachraum festgestellt werden. Dabei bleiben die Autoren dem bereits im 17. Jahrhundert transportierten Begriffsverständnis von Politischer Religion im Zusammenhang mit dem Islam treu, indem sie dem Islam eine überwiegend politische Ausrichtung attestieren und damit in den Hintergrund tretende oder gar fehlende religiöse Aspekte anprangern. Beispielsweise konstatiert der protestantische Theologe und Orientalist Julius Wellhausen (1844-1918) in seiner 1901 veröffentlichten Studie zu religiös-politischen Oppositionsparteien im alten Islam, dass der „Islam eine politische Religion" sei, weil in ihm „die Prophetie als Mittel zum Zweck der Herrschaft benutzt" werde und folglich „ein islamischer Prophet nach der Herrschaft streben"[1] müsse.

Ebenfalls wenig ausführlich äußert sich der Islamwissenschaftler Martin Hartmann (1851-1918) in seiner posthum 1921 veröffentlichten Geschichte des Islam in China, worin es heißt, dass der

„Islam mit seiner starren Einheitslehre, der keine Konzession macht und durch den herausfordernden, übermütigen Ton seiner Bekenner abstößt, vor allem aber, im Gegensatze zum Buddhismus, grundsätzlich eine politische Religion ist [,..]."[2]

Sein Schüler Richard Hartmann (1881-1965) bleibt dieser Charakterisierung des Islams durch seinen Lehrer in einem 1941 veröffentlichten Artikel über den Mufti Amin el-Husain treu und ermahnt seine Lesenden nicht zu vergessen, dass „der Islam seinem Ursprung und Wesen nach eine politische Religion"[3] sei. Ein Jahr später leitete Hartmann einen Vortrag, gehalten während
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[1] Julius Wellhausen: Die religiös-politischen Oppositionsparteien im alten Islam. Berlin 1901, S. 88: „Man kann ihm [al-Muchtär ibn Abi 'Ubaid; Anm. Verf.in] vorwerfen, dass er die Prophetie als Mittel zum Zweck der Herrschaft benutzt habe; doch träfe dieser Vorwurf auch Muhammad zu und man muss berücksichtigen, dass der Islam eine politische Religion war und dass ein islamischer Prophet nach der Herrschaft streben musste."
[2] Martin Hartmann: Zur Geschichte des Islam in China. Leipzig 1921, S. 88: „Der Islam mit seiner starren Einheitslehre, der keine Konzession macht und durch den herausfordernden, übermütigen Ton seiner Bekenner abstößt, vor allem aber, im Gegensatze zum Buddhismus, grundsätzlich eine politische Religion ist, konnte sich in dem Lande nur festsetzen unter dem Schutze einer starken Hand. Diese starke Hand erstand ihm erst in den Herrschern des von Cingiz Chän gegründeten Mongolenreiches."
[3] Richard Hartmann: Der Mufti Amin el-Husaini, in: Zeitschrift für Politik 31.7 (1941), S. 430-439, Zitat S. 431: „Man darf aber nicht vergessen, daß der Islam seinem Ursprung und Wesen nach eine politische Religion ist." Ähnlich formulierte der evangelische Pfarrer Walter Braun (1892-1973) in einem Aufsatz: „In Tunis, Marokko und Algier wird die Religion, die ihrem Ursprung und Wesen nach eine politische Religion ist, gleichsam zu einem Schutzschild, hinter dem die Bevölkerung ihr Streben nach Befreiung von der Herrschaft der Fremden besser zum Ausdruck bringen kann" (Walter Braun: Das religiöse Gesicht Afrikas, in: Junge Kirche. Halbmonatsschrift für reformatorisches Christentum 9.5 (1941), S. 133-138, Zitat S. 134).

einer öffentlichen Sitzung der Göttinger Akademie der Wissenschaften, getreu seiner Charakterisierung des Islams mit den folgenden Worten ein:

„Der Islam gilt mit Recht als eine in eminentem Sinne politische Religion. Das erklärt sich sehr einfach aus seiner Entstehung. Schon die erste Organisation, die Muhammed seiner Gemeinde gab, war gar nicht eine besondere religiöse - wenn man so sagen darf: kirchliche - Organisation, sondern eine politische: Die Gemeinde war ein Staat."[1]

Folglich habe der Islam einen vielmehr politischen statt religiösen Gründungshintergrund und sei somit bereits in seinen Ursprüngen politisch ausgeprägt. Man dürfe den Islam allerdings nicht als ein rein politisches Werk Mohammeds werten, da die politische Mission „nur ein Ausfluß seiner religiösen Aufgaben" gewesen sei, eine Art Nebenprodukt der eigentlichen Teleologie in Mohammeds Religion.

In den 1930er Jahren erhielt die Polemisierung des Islams eine neue Färbung durch einen Vergleich oder gar eine Gleichsetzung mit dem Nationalsozialismus. Diesem neuen Narrativ bedient sich der katholische Publizist Edgar Alexander Emmerich (1902-1970) in seiner 1937 veröffentlichten Schrift Der Mythus Hitler, worin er den Nationalsozialismus als „die neue Form eines politischen und weltanschaulichen Mohammedanismus"[2] interpretiert. Seine Kritik gilt insbesondere

„dem Totalitätsanspruch der ,alleinseligmachenden' politischen Religion des nationalsozialistischen Mohammedanismus und dem Götzendienst um die Person des neudeutschen Mohammed Hitler."[3]

Emmerich setzt nicht nur den Islam mit dem Nationalsozialismus in ein Verhältnis zueinander, sondern überträgt gleichzeitig den zur Polemisierung des Islams verwendete Begriff Politische Religion auf den von ihm als eine neue Form von „Mohammedanismus"[4] charakterisierten Nationalsozialismus. Die nationalsozialistische Bewegung im Sinne „einer weltanschaulichen und religiösen Reformation" verstehend sei es Hitler unter anderem gelungen,

„den politischen und sozialen Haß der einzelnen Gruppen und Schichten - seine gewaltsame Einbeziehung in den Bereich einer neuen politischen Religion - zum religiösen Haß umzuformen."[5]

Die Kritik richtet sich gegen die Vermengung von politischer und religiöser Ebene durch die
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[1] Richard Hartmann: Islam und Politik. Vortrag gehalten in der öffentlichen Sitzung am 5. Dezember 1942, in: Jahrbuch der Akademie der Wissenschaften in Göttingen für das Geschäftsjahr 1942/43. Göttingen 1943, S. 68-93, Zitat S. 68.

[2] Edgar Alexander [Emmerich]: Der Mythus Hitler. Zürich 1937, S. 25. Zu Emmerich und seiner Schrift siehe Uwe Puschner: Edgar Alexander, Der Mythus Hitler, in: Michael Hüttenhoff, Lucia Scherzberg (Hg.): Auseinandersetzungen mit dem Nationalsozialismus im deutsch- und französischsprachigen Europa (19191949). Bd. 5.1: Protestanten und Katholiken aus dem deutschsprachigen Europa. Bruxelles 2021, S. 301-318.​

[3] Alexander: Mythus Hitler, S. 255. Den Begriff „nationalsozialistischer Mohammedanismus" verwendet Emmerich an mehreren Stellen seiner Schrift (bspw. ebd., S. 6, 30).
[4] Als wesentliches Merkmal von „Mohammedanismus" nennt er einen „blindwütenden Fanatismus, der nichts kennt und anerkennt als die kompromißlose Durchsetzung seiner eigenen phantastischen Ziele und sei es auch auf Kosten der Verkennung selbst aller primitivsten Menschenrechte und mit den Mitteln brutalster Gewalt" (ebd. S. 26).
[5] Ebd., S. 227.

nationalsozialistische Bewegung, welche die politische Idee des Nationalsozialismus um eine kultisch-religiöse Dimension erweitert und der nationalsozialistischen Ideologie einen ersatzreligiösen Charakter verleiht.[1] Dementsprechend beschreibt Emmerich das „Bekenntnis zur Totalität der politischen Religion des Nationalsozialismus" als einen „alleinseligmachenden Glauben an sie und den ,gottgesandten Führer' Adolf Hitler"[2], den er an anderer Stelle als „ein klassisches Zeitbeispiel für das Streben des religiösen Indifferentismus nach einer Art von Ersatzreligion"[3] charakterisiert.

Schon im 17. Jahrhundert wurde Politische Religion als Negativbegriff gegen die gesamte islamische Religion verwendet statt einzelne Versatzstücke oder Figuren des Islams dergestalt zu charakterisieren, wie im vorangegangenen Unterkapitel zum Judentum herausgearbeitet werden konnte. Im Gegensatz zur Kontextualisierung mit der jüdischen Religion erfuhr der Begriff Politische Religion im Zusammenhang mit dem Islam eine recht stringente Linie der Begriffsverwendung und des Begriffsverständnisses. Es lassen sich kaum Abweichungen in der Verwendungs- und Argumentationsstruktur sowie der verwendeten Semantik des Begriffs Politische Religion in den Texten erkennen, die den Begriff zum Islam kontextualisieren. Im Grundkonsens der Autoren wird der Begriff Politische Religion zur Kritik an einer fehlenden Trennung zwischen Religion und Staat herangezogen; die Verflechtung zeige sich bereits im Anspruch des Islams, eine umfassende Ordnung aller weltlichen Belange zu liefern, worin auch der Anspruch eines politischen Mitgestaltungsrechts vonseiten religiöser Institutionen enthalten sei. Dieses Narrativ des Islams als Politische Religion hat sich bis in die Gegenwart erhalten und kann sowohl in wissenschaftlichen als auch nicht-wissenschaftlichen Publikationen verschiedenster Formate belegt werden.[4] Darüber hinaus wurde in der ersten Hälfte des 20. Jahrhundert die Polemik des Islams als Politische Religion auf den Nationalsozialismus übertragen, dessen Erfolgsrezept als Massenphänomen innerhalb der deutschen Bevölkerung insbesondere von kritischen Stimmen in der Verknüpfung der politischen und religiösen Ebene gesehen wird.


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[1] Nach Emmerich fälsche „der Nationalsozialismus die Politik zur Religion" und deute gleichzeitig „die politischen Pflichten des deutschen Volkes in religiöse Verpflichtungen" und „die absolute religiöse Pflicht in eine ebenso absolute politische Verpflichtung" um (ebd., S. 227).
[2] Ebd., S. 255: „Hier ist das unumwundene Bekenntnis zur Totalität der politischen Religion des Nationalsozialismus; zu dem alleinseligmachenden Glauben an sie und den ,gottgesandten Führer' Adolf Hitler, ,der als Erlöser schreitet in sein Volk, weil er vom Glauben ganz besessen ist'. Der neue Mohammedanismus und der neue Mohammed sind hier im ,Glauben des Dritten Reiches' und in der Person seines Führers Hitler zur geschichtlichen Wirklichkeit geworden."
[3] Ebd., S. 89.
[4] Siehe hierzu die im Einleitungskapitel vorgebrachten Publikationsbeispiele.