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1.2.1. 17. Jahrhundert

Als erstes Fundstück für die Verwendung des Begriffs Politische Religion im Kontext der islamischen Religion soll das 1659 anonym veröffentlichte Werk Al-Koranum Mahume- danum[1] vorgestellt werden, dem die 1616 von dem protestantischen Prediger Salomon

Schweigger (1551-1622) unter dem Titel Alcoranus Mahometicus[2] publizierte erste deutsche Koran-Übersetzung zugrunde liegt. Derartige Übersetzungen des Korans dienten im 17. Jahrhundert nicht der Verbreitung des Islams, sondern vielmehr als Warnung vor einer Bedrohung der christlichen Welt durch den Islam während der sogenannten Türkenkriege und zur Diffamierung der islamischen Religion.[3]

Auf den Übersetzungstext von Schweigger folgt in der erweiterten Neuausgabe von 1659 erstmalig nach jedem Kapitel eine „Censura", eine ausführliche Erörterung des jeweils voranstehenden Korantextes sowie eine anhand von biblischen und anderen christlich-religiösen Texten argumentierende Widerlegung der islamischen Lehre.[4] Das erste Kapitel des dritten Buches handelt von mehreren Erzählungen über Propheten,[5] zu denen im Islam auch Ismael gezählt wird, der erstgeborene Sohn Abrahams mit Hagar, einer ägyptischen Magd von Abrahams Frau Sara. So heißt es in Schweiggers Koran-Übersetzung:

„Es solle auch deß Ißmaels nicht vergessen werden / welcher seinem Volck viel geweissaget / und befohlen hat / daß sie emsiglich betten / und Almosen geben sollen / dadurch er Gott sehr angenehm worden."[6]

In der darauffolgenden „Censura" hinterfragt der Verfasser des Erläuterungstextes unter anderem Ismaels Stellung als Gesandter Gottes, die der christlich-biblischen Erzähltradition entgegensteht:

„Daß Ißmael viel geweissaget habe / findet sich auch nicht [bei Moses; Anm. Verf.in]: daß er grossen Lust zum betten gehabt / und dasselbe den seinigen anbefohlen / das ist nicht aus seinem Leben zuvermuthen. [...] Und was soll Ißmael geweissagt haben / der sich von seinem Vatter Abraham / und von seinem Bruder Isaac abgethan / und ein verworrene politische Religion geschmiedet / nur die Beschneidung behalten / nicht auf den achten Tag sondern in dem dreyzehen- den Jahr / wie er auch wär beschnitten worden."[7]


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[1] [Anon.]: Al-Koranum Mahumedanum: Das ist / Der Türcken Religion / Gesetz / und Gottslästerliche Lehr / Mit einer schrifftmässigen Widerlegung der Jüdischen Fabeln / Mahumedischen Träumen; närrischen und verführischen Menschentands: Dabey zum Eingang deß Mahumeds Ankunfft / erdichte Lehr / und Ausbreitung derselben: Darnach die Gesetz und Ceremonien deß Alkorans; samt dem erdichteten Paradeiß: Endlich ein Anhang von der jetzigen Christen in Griechenland Leben/ Religion und Wandel: Benebenst einem nothwendigen Register/ zufinden. Nürnberg 1659. 1664 wurde eine zweite, unveränderte Auflage dieser erstmals 1659 veröffentlichten Schrift von den gleichen Verlegern, Johann Andreas und Wolffgang Endters dem Jüngeren, in Nürnberg herausgegeben.
[2] Salomon Schweigger: Alcoranus Mahometicus, Das ist: der Türcken Alcoran / Religion und Aberglauben. Auß welchem zu vernemen / Wann unnd woher ihr falscher Prophet Machomet seinen ursprung oder anfang genommen / mit was gelegenheit derselb diß sein Fabelwerck / lächerliche und närrische Lehr gedichtet und erfunden / Auch von seinen Träumen und verführischem Menschentand / Benebens von der Türcken Gebett / Allmosen / Fasten / sampt andern Gottesdiensten und ceremonien. Nürnberg 1616. Schweiggers Übersetzungstext fußt allerdings nicht auf einer Originalfassung des Korans im Arabischen, sondern auf einer italienischen Übersetzung (ebd., Vorrede [S. 2f.]).
[3] Zu dt. Übersetzungen des Korans siehe Mahmud Muhammadju Haggag: Deutsche Koran-Übersetzungen und ihr Islambild, in: Religiöser Text und Soziale Struktur 31 (2001), S. 175-196.
[4] Dass Schweigger nicht selbst der Verfasser dieser „Censurae" ist, ergibt sich aus dem Umstand, dass diese kritischen Erweiterungen das erste Mal in der Neuauflage von 1659 - also 37 Jahre nach dem Tod Schweig- gers - zur deutschen Koranübersetzung hinzugefügt wurden.
[5] Zu diesem von Schweigger übersetzten Koranabschnitt vgl. Sure III, 38ff.
[6] [Anon.]: Al-Koranum Mahumedanum, S. 558. Mit kleinen unwesentlichen Abweichungen die Schreibweise einzelner Wörter betreffend im Original siehe Schweigger: Alcoranus Mahometicus, S. 179.
[7] [Anon.]: Al-Koranum Mahumedanum, S. 564f.

Der Verfasser dieser „Censura" bezeichnet an dieser Stelle nicht wörtlich den Islam als eine „verworrene politische Religion", sondern verweist auf eine von Ismael gestiftete Religion, die von der Glaubenslehre seines Vaters Abraham lediglich den Brauch der Zirkumzision bei männlichen Nachkommen beibehalten, den Tag der Beschneidungszeremonie allerdings vom achten Tag nach der Geburt auf das dreizehnte Lebensjahr verlegt habe. Dennoch wird beim Lesen der Zeilen schnell deutlich, dass diese Verunglimpfung gegen die islamische Religionslehre gerichtet ist. Die negative Konnotation des Begriffs Politische Religion wird in diesem Fall durch die Voranstellung des Wortes „verworren" unterstrichen und intensiviert.

Eine genauere Bestimmung der hier verwendeten Definition des Begriffs Politische Religion durch den Verfasser der „Censura" oder eine Begründung zur Verwendung des Begriffs bezogen auf den Islam kann aus dem Kontext und aufgrund fehlender weiterer Verwendungsstellen im Text nicht ermittelt werden. Allgemein betrachtet wird der Eindruck erweckt, dass der Verfasser den Begriff Politische Religion im Sinne eines polemischen Oberbegriffs verwendet, der für verschiedene Religionen anwendbar ist und worunter er auch den Islam subsumiert.

Der Al-Koranum Mahumedanum war nicht die einzige Schrift im 17. Jahrhundert, die den Begriff Politische Religion zur Charakterisierung des Islams nutzte, wie etwa die 1685 anonym erschienene Schrift Der hohen Christlichen Alliirten und des Türckischen Gross-Sultans neu eröffneter geheimer Kriegs- und StaatsRath[1] belegt. Bei dieser Quelle handelt es sich nicht um eine theologische Schrift, sondern um eine kritische Betrachtung der politischen Lage und militärischen Entscheidungen aller Parteien im so genannten Großen Türkenkrieg (1683-1699), der im Zuge des Entsatzes der vom Osmanischen Heer belagerten Stadt Wien im September 1683 eingeleitet wurde und zum Entstehungszeitpunkt der Schrift noch andauerte.[2]


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[1] [Anon.]: Der hohen Christlichen Alliirten und des Türckischen Gross-Sultans neu eröffneter geheimer Kriegs- und StaatsRath / Worinnen der hohen Alliirten gewaltige Armatur / Dero bey gegenwärtigem FeldZuge vermuthliches Vornehmen / nebst ihren victorieusen Progessen wider den Erbfeind; Hingegen dessen und seines gantzen Reichs Furcht / Bestürtzung und geschwächte Macht / die gefährlichen Factiones an seinem Hofe / die Empörung der Unterthanen / u. nach denen neuesten Begebenheiten vorgestellet werden. Nebenst angefügter Curieusen Beschreibung der Welt beruffenen Dardanellen oder Hellespontischen MeerSchlösser / Worinnen von der Stadt Constantinopel drey considerablen Seltenheiten; Vornehmlich aber der Dardanellen Nahmen / Ursprung / und Situation, zu welcher Zeit / und von wem sie erbauet / von dero Fortification, mächtigen Geschütz / und andern denckwürdigen Zufällen ausführlich und Lesens würdig gehandelt wird. Franckfurt und Leipzig 1685. Eine zweite, unveränderte Auflage erschien nur ein Jahr später im gleichen Verlag von Christian Weidmannen.
Aus der behandelten Thematik des 60-seitigen Textes kann geschlossen werden, dass der Verfasser sehr wahrscheinlich ein Staatsmann oder Militärstratege war, der Zugang zu höchst aktuellen militärischen und politischen Informationen über das Kriegsgeschehen hatte. Am Ende des Textes finden sich die Buchstaben S. D. G. ([Anon.]: Christlichen Alliirten, S. 60), die nicht als Initialen des Autors fehlinterpretiert werden dürfen; hierbei handelt es sich um die Abkürzung für die lateinische Wendung Soli Deo Gloria.
[2] Die Beschreibungen der militärischen Handlungen in diesem Krieg reichen bis Ende April / Anfang Mai 1685. Über den genaueren Entstehungszeitpunkt der Schrift informiert der Verfasser die Lesenden in zwei Textpassagen: „Dieses seyn also meine unvorgreifflichen Gedancken / so ich bereits M. April ietzt lauffenden 1685. Jahres / über der Venedischen Flotte / so damals noch nicht in See gelauffen / hauptsächliches Dessein entworffen habe" (ebd., S. 37). Der Verfasser verweist an dieser Stelle auf eine 36-seitige Schrift, die er im gleichen Jahr veröffentlichte; doch auch hier wird den Lesenden nichts zur Person des Autors verraten: [Anon.]: Curieuse und eigentliche Beschreibung Der Welt-beruffenen Dardanellen, Oder Hellespontischen Meer-Schlösser / Mit vielen Lebens-würdigen Umständen männiglich vor Augen gestellet. Franckfurt und Leipzig 1685. An der erwähnten zweiten Textstelle erwähnt der Verfasser eine militärische Offensive gegen die Osmanen, „welches bey Ausgang des Maji geschehen soll" ([Anon.]: Christlichen Alliirten, S. 42); hier ist der Monat Mai des Jahres 1685 gemeint. Ferner geben die berichteten Kriegsgeschehen Aufschluss darüber, dass der Text vor Sommer 1685 entstanden sein muss, da weder die Schlacht bei Gran noch die Belagerung und Einnahme von Neuhäusel im Sommer 1685 in den sonst recht ausführlichen Darstellungen des Krieges Erwähnung finden.

Schon im ersten Satz seines Textes stellt der Verfasser fest, dass es die militärisch-politische Lage betreffend sehr schlecht um das Osmanische Reich stehe und das „von Raub und Christen-Blut aufgeschwellete Reich niemals / von dessen Ursprung an / so vielen und mächtigen Feinden / zu einer Zeit"[1] gegenüberstand. Des Weiteren spricht der Verfasser von vermeintlich schlechten Omina wider dem Osmanischen Reich, womit die zu jener Zeit schwache Position der Osmanischen Herrschaft in Europa auf einer religiösen Ebene mitargumentiert und unterstrichen werden soll.[2] In diesem Rahmen beginnt der Verfasser das zwanzigste Kapitel mit folgender Prophezeiung innerhalb der Mohammedanischen Lehre:

„Es haben die Türcken eine Tradition oder Prognosticon, daß die Mahometanische Lehre 1000. Jahre stehen / nach der Zeit aber gantz untergehen / oder doch einen grossen Anstoß leiden solle; Nun seynd vor 60. und mehr Jahren die tausend verflossen / massen in dem 6. Seculo diese politische Religion aufkommen; Also wäre die Zeit der Veränderung schon erfüllet / und könte das Prognosticon bey diesen Conjuncturen noch wohl wahr gemachet werden."[3]

Im Gegensatz zur vorangegangenen Quelle wird die islamische Lehre in dieser Fundstelle explizit benannt und als eine Politische Religion charakterisiert. Aufgrund der auch in dieser Schrift singulären Verwendung des Begriffs Politische Religion und einer fehlenden Definition ist eine Untersuchung des Begriffsverständnisses kaum möglich. Die negative Konnotation wird in diesem Quellenbeispiel aus dem textlichen Umfeld deutlich und von dem vermutlich christlichen Kontext des Verfassers unterstrichen: Nimmt man für dieses Quellenbeispiel an, dass der Begriff Politische Religion eine Kritik an der Vermischung von Religion und Politik umschreibt, so wird mit der Verwendung des Begriffs vom Standpunkt christlicher Denktraditionen wie der Zwei-Schwerter-Lehre, der Zwei-Welten-Lehre oder dem Laizismus aus betrachtend eben diese fehlende Trennung der religiösen und politischen Bereiche in der islamischen Gemeinschaft kritisiert. In diesem Verständnisrahmen wäre die Anwendung des Begriffs Politische Religion klar definiert und reglementiert auf eben jene Religionen oder Glaubenskonzepte, denen eine mangelnde oder gar fehlende Trennung von politischen und religiösen Wirkungsbereichen unterstellt wird; eine exklusive Verwendung des Begriffs Politische Religion in Bezug auf den Islam kann dem Text nicht entnommen werden. Dass es sich bei der Schrift nicht um einen theologischen Text, sondern um Beschreibungen aktueller politischer und militärischer Ereignisse im Großen Türkenkrieg handelt, ist in diesem Fall eine zusätzliche Erschwernis in Hinblick auf eine Untersuchung des Begriffsverständnisses von Politische Religion, da
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[1] Ebd., S. 3: „Wenn man die Türckischen Historien ein wenig genau durchgehet / so wird man leicht gestehen müssen / daß das Ottomannische von Raub und Christen-Blut aufgeschwellete Reich niemals / von dessen Ursprung an / so vielen und mächtigen Feinden / zu einer Zeit / und auf einmal unterworffen / dahero auch seinem Stürzfall so nahe / und dessen Inwohner in solcher Furcht gewesen / als bey diesem noch anhaltenden Ungarischen Türckenkriege." Dieser Umstand müsse von der Heiligen Liga, einer im März 1684 gegründeten Allianz zwischen dem Heiligen Römischen Reich und anderen europäischen Mächten (u. a. Polen-Litauen und die Seerepublik Venedig), gegen das Osmanische Reich genutzt werden, um sich der osmanischen Herrschaft und Bedrohung auf europäischen Territorium endgültig und auf Dauer zu entledigen. Denn es bestehe die Gefahr, dass sich das Osmanische Heer nach Kriegsende und der Auflösung der Heiligen Liga wieder formieren und einen Rachefeldzug gegen die feindlichen Parteien der ehemaligen Allianz anführen könnte. In dem Fall könne ein solch internationales Bündnis gegen das Osmanische Reich vermutlich nicht wieder so schnell geschaffen werden: „Denn eine solche Alliance und Verfassung wider den Erbfeind dürffte wohl in vielen Zeiten nicht wiederum zu gewarten sein; Hingegen wird der Barbarische Raub-Vogel seine Gelegenheit schon ersehen / wenn er nach geendigtem Kriege / sich recolligiret, denen Alliirten, einem nach dem andern Revanche zu geben / und noch ein mehrers vom Halse zu reissen" (ebd., S. 53).
[2] „Wozu denn bereits ein guter Anfang gemacht / auch verschiedene Omina denen Türcken wenig Gutes vor- gespielet haben" (ebd., S. 53).
[3] Ebd., S. 54.

theologische Begriffe, wie zum Beispiel Religion oder Glaube, kaum Verwendung finden. Die wenigen Fundstellen - es überrascht, dass der Terminus politisch sogar nur an einer

Stelle verwendet wird - legen nahe, dass Religion in diesem Beitrag im Sinne eines wertfreien Oberbegriffs zur Bezeichnung von verschiedenen Glaubenslehren anwendet wird, zum Beispiel zur Benennung der „Griechischen Religion"[1], dem eine konnotative Färbung erst in (semantischen) Kombinationen mit anderen Wörtern anhängig wird.


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[1] Ebd., S. 51.