6. Politische Religion ante Voegelin - ein Ausblick ins 20. Jahr-hundert
In den vorangegangenen Kapiteln konnte anhand verschiedener Quellenfunde, die bis ins 16. Jahrhundert zurückreichen, ausführlich belegt werden, dass Eric Voegelin nicht als Schöpfer
der Politischen Religion im Sinne eines stehenden Begriffs betrachtet werden kann. Man könnte an dieser Stelle entgegnen, die Besonderheit in Voegelins Werk von 1938 liege darin, dass er diesen Begriff erstmals mit einem spezifischen Begriffsverständnis versehen zur Charakterisierung der neuen politischen Herrschaftssysteme der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts herangezogen habe, die bereits in zeitgenössischen Schriften als religionsähnliche oder -ersetzende Erscheinungen wahrgenommen wurden. Doch auch diese Darstellung kann mit Quellenbeispielen widerlegt werden, denn schon vor 1938 kam der Begriff bei Autorinnen und Autoren aus verschiedenen Sprachräumen zum Einsatz, um totalitäre Herrschaftssysteme wie Kommunismus, Faschismus und Nationalsozialismus begrifflich fassen und umschreiben zu können.
Einige Studien verweisen bereits auf die Beiträge von Lucie Varga (1904-1941) und Hans-Joachim Schoeps (1909-1980), die schon im Jahr 1937 zur Charakterisierung totalitärer Herrschaftsformen auf den Begriff Politische Religion zurückgriffen. Die in der Forschung bestehende Fixierung auf Eric Voegelin als vermeintlichen Vater der Politischen Religion erstaunt vor diesem Hintergrund umso mehr.[1] Wesentlich seltener werden Schriften erwähnt, die den Begriff noch deutlich früher in diesem Kontext nutzten, wie zum Beispiel der im sechsten Kapitel bereits vorgestellte Paul Schütz, der sein Manuskript Die Politische Religion von 1935 allerdings nicht veröffentlichte, oder der evangelische Theologe Günter Jacob, dessen Schriften im weiteren Verlauf dieses Kapitels untersucht werden. Die folgende Quellenauswahl enthält neben dem Werk von Jacob drei weitere Texte, in denen der Begriff zur Umschreibung der neuen Herrschaftssysteme in Europa herangezogen wird. Es sind drei Stimmen, die einen Querschnitt zwischen Anhänger- und Gegnerschaft des Nationalsozialismus bilden, aber aufgrund der eingangs kurz angeschnittenen Voegelin-Fixierung von der Forschung bislang nur wenig oder gar keine Beachtung erhielten.[2] Dieser Abschluss mit einem Verweis auf mehrere ante Voegelinsche Quellenbelege ist unter anderem als ein Versuch zu verstehen, die Aufmerksamkeit auf andere Verfassende zu richten und weitere Forschungen zu Schriften anzustoßen, in denen der Begriff Politische Religion bereits vor Voegelin angewendet wurde.
Theoriegeschichtliche Studien konzentrieren sich auf Veröffentlichungen von Personen, die den totalitären Herrschaftssystemen ablehnend gegenüberstanden und in denen der Terminus Politische Religion als Negativbegriff etwa zur analytischen Annäherung an den Nationalsozialismus angeführt wird. Es entsteht der Eindruck, dass es ein von Opponentinnen und Opponenten des Nationalsozialismus vereinnahmter Polemikbegriff gewesen und der Ursprung seiner Verwendung hinsichtlich des Nationalsozialismus in oppositionellen Kreisen zu finden sei.[3] Nur wenige Forschende machen darauf aufmerksam, dass der Begriff Politische Religion
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[1] Lucie Varga: La genese du national-socialisme. Notes d'analyse sociale, in: Annales d'histoire economique et sociale 9.48 (1937), S. 529-546; dies.: Sur la jeunesse du Troisieme Reich, in: Annales d'histoire economique et sociale 9.48 (1937), S. 612-614. Zu Lucie Varga siehe dies.: Zeitenwende. Mentalhistorische Studien 1936-1939. Hrsg., übersetzt und eingeleitet von Peter Schöttler. Frankfurt am Main 1990; Peter Schöttler: Das Konzept der politischen Religion bei Lucie Varga und Franz Borkenau, in: Michael Ley, Julius H. Schoeps (Hg.): Der Nationalsozialismus als politische Religion (= Studien zur Geistesgeschichte, 20). Bodenheim 1997, S. 186-205. Hans-Joachim Schoeps: Der Nationalsozialismus als verkappte Religion, in: Eltheto 93 (1939), S. 93-98.
[2] Nicht unerwähnt bleiben sollte an dieser Stelle der amerikanische Journalist Edgar Ansel Mowrer (18921977), der schon 1930 in der Schrift Sinon. Or, the Future of Politics vom sowjetischen Kommunismus und italienischen Faschismus als Politische Religion charakterisiert (Edgar Ansel Mowrer: Sinon. Or, the Future of Politics. London 1930, S. 7 und 58). Unter dem Pseudonym Karl Sturzenegger veröffentlichte der österreichische Schriftsteller Herbert Stourzh (1889-1941) seine Schrift Humanität und Staatsidee, worin er den Nationalsozialismus als eine „politische[] Religion der von Eitelkeit, Herrschsucht und Hass Geeinten" im Sinne eines „Religionsersatzes" definiert (Karl Sturzenegger [Herbert Stourzh]: Humanität und Staatsidee. Eine Philosophie der Politik. Luzern 1938, S. 32).
[3] Der Religionshistoriker Stanley Stower geht zusätzlich davon aus, dass hauptsächlich nur Opponenten des Nationalsozialismus diesen als religiös oder Religion deuteten (Stanley Stower: The Concept of ,Religion', ,Political Religion' and the Study of Nazism, in: Journal of Contemporary History 42.1 [2007], S. 9-24, hier S. 10). Darauf aufbauend kritisiert er, dass einige Forschende - etwa Emilio Gentile - zur Beschreibung der nationalsozialistischen Bewegung religiöses Vokabular heranziehen würden, welches Nationalsozialisten selbst nicht verwendet hätten, wodurch ein schiefes Bild der nationalsozialistischen Selbstwahrnehmung entstehe (ebd., S. 16).
auch von Sympathisierenden der nationalsozialistischen Weltanschauung verwendet wurde. In diesem Zusammenhang verweist der Historiker Michael Burleigh auf eine aus dem Jahr 1933 stammenden Aussage eines SA-Scharführers über dessen Beweggründe, sich dem Nationalsozialismus anzuschließen.
„Unsere Gegner irrten sich daher grundsätzlich, wenn sie uns als Partei, der Wirtschaftspartei, den Demokraten oder den marxistischen Parteien gleichsetzten. Alle diese Parteien waren nur Interessenverbände, ihnen fehlte die Seele, das geistige Band. Adolf Hitler kam mit einer neuen
politischen Religion. Diese Religion ist geboren aus der Erhebung des deutschen Volkes am 14. August 1914 und dem großen Ringen unseres Volkes von 1914-1918."[1]
Der Begriff taucht nur an dieser Stelle auf und wird nicht weiter erläutert, doch seine positive Lesart in Abgrenzung zu den allein von nüchternen Interessen geleiteten Parteien ist nicht zu verkennen.
Im gleichen Jahr veröffentlichte der Freireligiöse Alois Hompf (1877-1956)[2] seine Schrift Reich und Religion. Meinem deutschen Volke als
„Weckruf [...] zum Erwachen aus konfessioneller Hypnose zur heilsamen Pflege der sieghaften deutschen Einheitsreligion."
Denn um den „Neubau des Staates [...] aus echt germanischer Einstellung" heraus zu gewährleisten, seien die Überwindung „ausländischen Kult und [...] wahrheitswidrige[r] Konfes- sion"[3] und eine „religiös-sittliche Erneuerung" des deutschen Volkes eine notwendige Voraussetzung auf dem Weg zu einer „uns einzig angemessene[n] und heilvolle[n] deutsche[n] Einheitsreligion." Hompf hebt seine politische und innere Einstellung zur nationalsozialistischen Bewegung im Vorwort deutlich mit den Worten hervor: „Wir wollen vollblütige Nationalsozialisten sein politisch und religiös!"[4] Bereits an dieser Stelle wird den Lesenden schnell bewusst, dass der Nationalsozialismus in diesen Ausführungen nicht nur als politische Bewegung
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[1] Zitiert nach Michael Burleigh: Die Zeit des Nationalsozialismus. Eine Gesamtdarstellung. Frankfurt am Main 2000, S. 144; Neddens: „Politische Religion", S. 326.
[2] Aus einem katholischen Elternhaus in Bayern stammend, besuchte Alois Hompf ab 1894 das Missionsseminar der Benediktiner in St. Ottilien. 1902 trat er in das Priesterseminar in Dillingen ein und immatrikulierte sich zum Studium der Theologie und Philosophie an der Königlichen Bayerischen Ludwig-Maximilians- Universität in München. Nach eigenen Angaben wuchsen in ihm die Zweifel an der christlichen Kirche im Verlauf seines Studiums an, dennoch absolvierte er 1905 die Priesterweihe und wurde 1908 an der Theologischen Fakultät der Julius-Maximilians-Universität in Würzburg promoviert. Kurz darauf wurde er aber wegen Ungehorsam von der katholischen Kirche suspendiert und verließ Bayern. 1911 übernahm er die Direktion einer Realschule in Danzig und wirkte in der ortsansässigen Freireligiösen Gemeinde als Geistlicher sowie im Deutschen Monistenbund als Leiter der Danziger Ortsgruppe. Danach widmete er sich den Rest seines Lebens der Arbeit in Freireligiösen Gemeinden (Alois Hompf: Mein Weg von der römisch-katholischen Konfession zur Menschheitsreligion. Görlitz 1927; Pia Oberacker: Art. Alois Hompf, in: Lexikon freireligiöser Personen. Hrsg. v. Eckhart Pilick. Rohrbach 1997, S. 235-238).
[3] Alois Hompf: Reich und Religion. Meinem deutschen Volke! Stuttgart 1933, S. 4. Von der „Mannigfaltigkeit der rassenverschiedenen Völker [als] eine weltgeschichtliche Tatsache" (ebd., S. 129) ausgehend lehnt Hompf die Etablierung von „sogenannten Weltreligionen wie Buddhismus, Mosaismus, Christentum, Mo- hamedanismus" aufgrund ihrer auf den Einheitsgeist eines Volkes zersetzenden Wirkung kategorisch ab (ebd., S. 109f., Zitat S. 109).
[4] Ebd., S. 4.
sondern auch als religiöse Einstellung eine tragende Rolle spielt. Im Zuge seiner freireligiösen Glaubensvorstellung versteht Hompf den Menschen als ein religiöses Wesen, als homo religiosus, in dessen Seele Religion geboren werde und aus dessen Seele Religion hervorgehe. Daraus folgernd sei Religion
„nichts anderes als das Wissen um unsere tatsächliche Bedingtheit, das Erkennen unserer Abstammung, unserer Abhängigkeit, unseres einstigen Zurückgehens ins All. [...] So stellt sich das religiöse Erlebnis als ein Wissen des Menschen dar um seine geschichtliche Abhängigkeit und Zugehörigkeit."[1]
Die Erkenntnis und das Erleben dieses Wissens um die eigene biologische Natur müsse als ein Prozess der Menschwerdung in Abgrenzung zu nicht-menschlichen Wesen verstanden werden.
Jenen „seelisch unterentwickelten Wesen," denen der Zugang zu diesem Wissen verwehrt oder nur in „vielleicht unterentwickeltem Zustande des Ahnens und Empfindens" zugänglich ist, dürfe man folglich „den Namen eines Menschen nicht zuerkennen."[2] Die definitorische Nähe des Grundkonzepts von Hompf zum funktionalistischen Religionsverständnis im Ansatz von Thomas Luckmann ist kaum zu übersehen. Dennoch unterscheiden sich die beiden Ansätze in einem sehr wesentlichen Punkt: Indem Hompf ein qualitatives Mindestmaß an Wissenserkenntnis zur Menschwerdung voraussetzt und jenen das Mensch-Sein aberkennt, die nicht über die Stufe einer Ahnung oder Empfindung hinauskommen, könnte dieser Religionsbegriff durchaus auch als ein religiöses Argument zur Legitimierung eugenischer Zuchtmaßnahmen herangezogen werden. Zudem ist zu beachten, dass nicht jede im Sinne des Hompfschen Religionsverständnisses als Mensch definierte Person als „wertvoller Mensch" in der Volksgemeinschaft gedeutet werden dürfe. So stehe der „Schwachreligiöse" - im Gegensatz zu „Durchschnittsmenschen" und „den Starkreligiösen" - dem Tier sehr nahe, da „seine Verflochtenheit mit Volk und Welt nur schwach entwickelt ist und deshalb wenig wirkt."[3]
Da Religion nach Hompf aus der Seele des Menschen entspringe und es demnach keinen Bereich des menschlichen Lebens gebe, der von Religion oder Religiosität getrennt werden könne, müsse auch die politische und religiöse Ebene eines Volkes als voneinander untrennbar erkannt werden: „Politik ist tätige Religion und bildet und erhält den Charakter." Politik als „Volks- oder Reichsführung" habe die Aufgabe der „Organisation und Leitung unserer Staatsbürger in einem wohlgeordneten und verantwortungsbewußten Reiche," die allerdings nur mit Hilfe der „richtige[n] Volksreligiosität" bewältigt werden könne.[4] Daher fordert Hompf die Errichtung einer „politischen Einheitsreligion"[5], die jene einheitsfördernde Harmonie von „,Miteinander', füreinander' und ,Für das Volk' [...] in Tat und Wahrheit"[6] umsetze. Diese harmonisierende Einheitsreligion „ist politische Religion oder einheitsreligiöse Politik,"[7] die Einheit von nationalsozialistischer Politik und einer der deutschen Seele arteigenen Religion, die es zu bewahren und zu fördern gelte. Das ist die einzige Stelle in dieser völkisch-religiösen
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[1] Ebd., S. 13.
[2] Ebd.
[3] Ebd., S. 14.
[4] Ebd., S. 137.
[5] Ebd., S. 138. Diese geforderte Einheitsreligion, die „der dreifachen Harmonisierung von Seele, Volk und Volksgenossen" (ebd., S. 43) diene, dürfe sich allerdings nicht nur auf den politischen Bereich beschränken, sondern müsse Einfluss und Wirkung auf alle Lebensbereiche der Staatsbürger ausüben.
[6] Ebd., S. 139. „Einheitsreligion in der Zielsetzung oder Bezogenheit aller Tätigkeit seitens aller Mitwirken-
den: Dienst am Volke, Gemeinwohl vor Eigennutz, das Vaterland vor meiner Familie!" (ebd., S. 140f.).
[7] Ebd., S. 141.
Schrift, in der Hompf den Begriff der Politischen Religion verwendet.
Diese zwei Quellenbeispiele zeigen, dass der Begriff Politische Religion bereits in Schriften aus dem Jahr 1933 zur Beschreibung von Aspekten der nationalsozialistischen Bewegung herangezogen wurde. Zudem belegen diese Fundstellen, dass die Politische Religion in diesem Zeitraum nicht nur als negativ besetzter Kampfbegriff in kritischen Schriften zum Nationalsozialismus auftaucht, sondern mit einer wertfreien bis positiven Konnotation in Veröffentlichungen von Personen nachgewiesen werden kann, die mit der nationalsozialistischen Bewegung sympathisierten. Allerdings lässt sich anhand des bisher zur Verfügung stehenden Quellenmaterials nicht abschätzen, ob es sich hierbei um Einzelbeispiele handelt oder der Begriff Politische Religion im Kreis der Anhängerschaft des Nationalsozialismus relativ häufig verwendet wurde.
Ebenfalls 1933 veröffentlichte der Schweizer Philosoph Julius Schmidhauser (18931970) die Schrift Der Kampf um das geistige Reich. Bau und Schicksal der Universität, in der er dem Begriff Politische Religion viel Raum zugestand. In seinen staats- und religionsphilosophischen Ausführungen zur europäischen Universitäts-, Geistes- und Kirchengeschichte finden sich dabei durchaus auch Analogien zum Voegelinschen Begriff. Ausgangspunkt der Erörterungen Schmidhausers, der u. a. Mitglied in der nationalistischen Vereinigung Nationale Front war, bildet die von ihm berichtete[1] „ausweglose[n] Not" der Jugend, die sich - vom „Geist der Nachkriegszeit" empört - in einem „geistigen Chaos" und einer „Bestimmungslo- sigkeit" verloren habe. Zurückzuführen sei diese Verlorenheit der Jugend auf das „Versagen der heutigen Universitäten"[2] als Bildungsstätten des Geistes sowie der Nation. Denn nach Schmidhauser könne einzig die Universität als
„die geistige Festung gegen die drei satanistischen Ungeschicke des Fallens in die Niedertracht, des Zerfalles in die Zwietracht und des Verfallens in die Endlichkeit [dienen]."[3]
Es sei die „reichsbildnerische Aufgabe der Universität", einer Zersplitterung der Welt in ihre drei elementaren Bereiche entgegenzuwirken, d. h. „die wirtschaftlich-soziale Sache und die politisch-nationale Sache und die kirchlich-religiöse Sache"[4] zu jener Einheit zu führen, die nur in einem Reich[5] vorzufinden sei. Folglich müsse Reich als ein „religiöses Wort", als „das Wort von der Herrschaft Gottes"[6] verstanden werden. Religion und Politik sind im Verständnis Schmidhausers zwei Ebenen gesellschaftlicher Systeme, die in einer unmittelbaren Wechselwirkung zueinander stehen und von daher nicht zu trennen sind.
Die religiöse Ebene nimmt innerhalb der Vereinigung dieser drei Bereiche eine besondere Stellung ein, wobei sich Schmidhauser ausschließlich auf das Christentum als die Religion Europas konzentriert. Er unterscheidet zwischen der ursprünglichen, priesterlichen religio, die „der Welt heiligen Halt in deren Fallsucht und heilige Einheit in deren Zerfallsucht [bietet]"[7], und
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[1] Zwischen 1929-1934 arbeitete Julius Schmidhauser als Berater für Studierende der evangelischen Kirche sowohl an der Universität Zürich als auch an der gleichfalls in Zürich ansässigen Eidgenössischen Technischen Hochschule. Dadurch hatte er einen engen Kontakt zur studentischen Jugend und wusste um ihre Sorgen und Ängste, da er in seiner Rolle als Seelsorger überwiegend mit persönlichen Lebensfragen oder -problemen der Studenten konfrontiert war.
[2] Schmidhauser: Der Kampf, S. 7.
[3] Ebd., S. 9.
[4] Ebd., S. 11f.
[5] Schmidhauser unterscheidet zwischen Staat bzw. Nation und Reich: Das Reich „ist die Realität der Gottesherrschaft, nach ewiger Verfassung und gegenwärtigem Willen" und „der Staat dient dem Reich. Wie die Gesellschaft unter ihm und die Kirche über ihm" (ebd., S. 281).
[6] Ebd., S. 279.
[7] Ebd., S. 287.
den Religionen, die fernab von einer Priesterschaft[1] aus der Not heraus oder aufgrund von Eigeninteressen als Ersatzreligionen[2] etabliert „auf ihre Weise die Welt der Zwietracht und Niedertracht bindend zu überwinden versuchen."[3] Die staatlichen und gesellschaftlichen Gefüge des modernen Europas seien nach Schmidhauser in zwei Formen von Religionen zu unterteilen: die Soziale Religion und die Politische Religion.
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[1] Dieser „Stand priesterlicher Eingeweihter, Weiser, Wissender" reiche zurück auf Plato und dürfe nicht mit dem Klerikerstand der Kirchen verwechselt werden (ebd., S. 35).
[2] Ebd., S. 290.
[3] Ebd., S. 288.
Die Soziale Religion wird als pazifistische und rationale Religion eines aufklärerischen Humanismus beschrieben, die mit den „Dämonen der Zwietracht" ringe.[1] Doch indem sie den Menschen von unten mit einem Glauben an Vernunft oder wirtschaftliche Interessen zu binden versuche,[2] scheitere sie an der dem Menschen wesensimmanenten Niedertracht, die wiederum Zwietracht mit sich führe.[3] Das Reich werde säkularisiert, indem es mit dem Idealbild einer „vollkommenen sozialen Gesellschaft"[4] gleichgesetzt werde. Dadurch komme es innerhalb der Gesellschaft zur Auflösung der reichsimmanenten Fundamente Staat und Kirche. Das „Ausschließliche des Rationalen" und die Abstraktion von allem Irrationalen und Übersinnlichen sowie die damit verbundene Überwindung der „Selbstentfremdung des Menschen gegenüber sich selbst"[5] gipfele in Fanatismus und Ausdrucksformen wie dem Marxismus, in dem die gottlose Gestalt der Sozialen Religion am offensichtlichsten in Erscheinung trete.[6]
Dem gegenüber stehe die kriegerische und irrationale Politische Religion (auch Nationale Religion), die ihren Kampf gegen die Niedertracht und „das Sinnlose des bloßen Wirtschaf- tens"[7] richte sowie die Sondersucht des humanistischen Individualismus und Rationalismus überwinde.[8] Eine Politische Religion entstehe, wenn das Irrationale der politisch-nationalen Ebene zu einer Besessenheit anwachse, „die Gott und Mensch im letzten Sinn ausschließt oder dann mißbräuchlich zur Erhöhung der eigenen Macht verwenden will", und das gesellschaftliche Bild von „hemmungslose Triebmassen"[9] geprägt werde. Folglich handle es sich um eine Religion „um der Größe willen", deren Symbol der „heroische Mensch, [...] der ewig antike Mensch" sei, der „gegenüber dem ewig zukünftigen Menschen"[10] der Sozialen Religion stehe. So repräsentiere die Soziale Religion die Welt der Gottlosigkeit, wohingegen der Politischen bzw. Nationalen Religion ein polytheistischer Glaube, eine „Welt der Götter"[11] immanent sei. Doch in beiden Religionsformen manifestiere sich im Grunde eine säkulare Religion.[12]
Die ursprüngliche, priesterliche religio hingegen sei gleichzeitig Soziale und Politische Religion, ohne in Konkurrenz zur jeweils anderen Seite zu treten. Als „verlassene Quelle der beiden Lebensrichtungen" vereine die religio die Gegensätze des Sozialen und des Nationalen in sich, die „untrennbar zur Welt als Schöpfung Gottes" gehören.
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[1]Ebd.
[2]„Das war die Religion des Liberalismus: er glaubte an den Vernunftzwang des wirtschaftlichen Interesses. Und das war die Religion des Sozialismus: er glaubte an die Kommune der wirtschaftlichen Vernunft" (ebd.).
[3]„In der teilbaren Welt gehen wir auseinander. Darum hat der Mensch die unteilbare Welt des Geistes über die teilbare Welt der Interessen gesetzt. [...] Die soziale Religion hat vergessen, daß der Mensch erbsündlich sondersüchtig ist" (ebd.).
[4]Ebd., S. 325.
[5]Ebd., S. 291.
[6]„Der Kommunismus Rußlands und sein Internationalismus ist hier Antichrist selber. Es tritt die tödliche und dadurch unifizierende Einheit an die Stelle des all-lebendigmachenden und dadurch alleinigenden Schöpfers" (ebd., S. 333; siehe auch S. 291).
[7]Ebd., S. 289.
[8]„Die Wiederverbindung mit dem Ursprung in Volk und dessen Boden und Blut und Geschick und Staat liegt in der Irrationalität ihrer Ehrfurcht und Liebe raumnah dem überrationalen Ursprungsglauben an Gott und sein Reich" (ebd., S. 291).
[9]Ebd.
[10]Ebd., S. 290.
[11]Ebd., S. 333.
[12]Ebd., S. 345. Vor allem die Soziale Religion des westlichen Humanismus laufe Gefahr, „das Reich [.] mit der vollkommenen sozialen Gesellschaft allzu rasch" gleichzusetzen und es infolgedessen zu säkularisieren (ebd., S. 325).
„Gott hat Ein Volk geschaffen, und er hat dieses Volk in vielen Völkern geschaffen. Es gibt Eine Kindschaft und es gibt unverwechselbare Kinder."[1]
Dem besonderen nationalen Gott könne nicht in absonderlicher Weise gedient werden, weil das eigentlich Nationale innerhalb der europäischen Völker „inmitten der Christenheit des Einen Gottes, der Einen Kirche und des Einen Reiches" herangewachsen sei. Indes beklagt Schmid- hauser, dass seinerzeit „das Nationale noch allzusehr eine Mache des politischen Willens"[2] darstelle.
Während die Soziale Religion „auch in Rußland als die Religion des Westens gesiegt"[3] habe, sei die Politisch-Nationale Religion eine Eigenart des deutschen Protestantismus.[4] Diese Kluft resultiere aus den unterschiedlichen Richtungen innerhalb der reformatorischen Bewegung in Europa: Die Lehre Johannes Calvins (1509-1564) lehne das Oberhaupt der römisch-katholischen Kirche ab, weil sie „nur den Einen Gott" kenne. Analog dazu sei in den Wirkungsbereichen Calvins später nur „die Eine Vernunft" bekannt gewesen und seinem „abstrakten Theismus [...] in säkularistischer Wendung der abstrakte Humanismus des Westens" entsprungen. Ganz im Gegensatz dazu stehe Martin Luther (1483-1546), der die „unverwechselbare deutsche Berufung" empfangen habe und dessen Lehre „die besondere Inspiration seines Volkes" sei, sich „dem römischen Uniformismus der allgemeingültigen ratio" zu entziehen. Seine Kritik gegenüber dem Papst beziehe sich auf dessen Anspruch, „der Eine sein" zu wollen, obwohl er „nur Einer" sei. Denn nur „Gott allein" könne der „Eine" sein.
„Wird Luther säkularisiert, so ist es der nationale Staat. Wird Kalvin säkularisiert, so ist es die internationale Gesellschaft. Das ist die römische Erbschaft Kalvins. Der römische Universalismus und der kalvinistische Monotheismus haben sich verbunden als abstrakter Uniformismus des Westens."[5]
Dennoch habe im deutschen Protestantismus zunächst der abstrakte Universalismus in Form des Humanismus Eingang gefunden und jede Hinwendung zur volklichen Ursprünglichkeit im Keim erstickt. Erst die Jugend im Deutschen Kaiserreich habe sich im Sinne Friedrich Nietzsches (1844-1900) vom Staat als „kälteste[n] aller kalten Ungeheuer"[6] distanziert und neuen Halt und neue Heimat im Volk gefunden: „vor dem Kriege im Lande, im Kriege im Schützengraben, nach dem Kriege auf den Straßen der Revolution."[7] So sei im Allgemeinen bereits der Erste Weltkrieg weniger als Angelegenheit des Staates als fremde Obrigkeit verstanden, sondern vielmehr als Erlebnis des Staates im Sinne einer „Schicksalsgemeinschaft des Vol- kes"[8] wahrgenommen worden. Seit dem Ende des Krieges gehe von Deutschland die Bewegung einer „neue[n] Volkswerdung" und „der erste Kampf wider das Berlin des internationalen
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[1] Ebd., S. 292.
[2] Ebd., S. 337.
[3] Ebd., S. 330.
[4] Die Nähe zur so genannten Protestantismusthese, die Max Weber in seiner Schrift Die protestantische Ethik entwickelt hat, tritt an dieser Stelle deutlich hervor, die Schmidhausers Verständnis von Religion - in Abgrenzung zum religio-Begriff - maßgeblich beeinflusst.
[5] Ebd., S. 331.
[6] Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra. Ein Buch für Alle und Keinen. [Bd. 1]. Chemnitz 1883, S. 65: „Irgendwo giebt es noch Völker und Heerden, doch nicht bei uns, meine Brüder: da giebt es Staaten. [...] Staat heisst die kälteste aller kalten Ungeheuer. Kalt lügt es auch; und diese Lüge kriecht aus seinem Munde: ,Ich, der Staat, bin das Volk.'"
[7] Schmidhauser: Der Kampf, S. 253.
[8] Ebd., S. 254.
geschäftemachenden Bürgertums und des internationalen unselbstständigen nach Westen und Osten sich orientierenden Marxismus" aus, dessen treibende Kräfte vor allem im „volklichen Süden"[1] zu finden seien.
Nach Schmidhauser biete sich mit der neuen politisch-nationalen Macht für das deutsche Volk die Möglichkeit, das soziale und nationale Moment untrennbar miteinander im Sinne der universalen religio zu vereinen und ein politisches Reich unter der „Gestalt und Gewalt der Herrschaft Gottes"[2] zu etablieren. Allerdings bestehe im Janusgesicht des national-christlichen Protestantismus die Gefahr einer Überbetonung des Nationalen und der Erhebung einer Nationalreligion der Götter, wenn sich die national-protestantische Doppelgesichtigkeit gleichzeitig den „nationalen Göttern" und dem „Einen Gott"[3] zuwende und damit den ehrlich religiösen Menschen zerreiße. Der Universalismus der ursprünglichen religio verkehre sich dann in einen „irrationalen Wahn des Ungemeinen"[4], verstelle sodann mit einem „Heereszug der alten Götter Gott den Weg"[5] und vereitle letztlich die Etablierung eines „universalen Rei- ches"[6]. Diese Kritik richtet sich implizit insbesondere gegen die unterschiedlichen religiösen Erneuerungsversuche der völkisch-religiösen Bewegung,[7] deren Ruf nach einer dem deutschen Volk arteigenen Religion wider den universalen Gedanken der christlichen Kirche stehe.
Der Nationalsozialismus wird in Schmidhausers 390 Seiten umfassender Schrift nur an vier Stellen ausdrücklich erwähnt. Namentliche Erwähnungen von Vertretern der nationalsozialistischen Bewegung sucht man vergeblich. Allerdings muss hinzugefügt werden, dass Schmidhauser die NSDAP als die Partei der völkischen Bewegung bezeichnet und nicht zwischen diesen Bewegungen zu unterscheiden scheint.[8] In den Ausführungen fehlt eine eindeutige Positionierung Schmidhausers für oder wider eine nationalsozialistische Regierung in Deutschland: Auf der einen Seite begrüßt er, „daß dem gewachsenen, nicht gemachten Volkstum ein Retter gekommen ist," der das deutsche Volke von der „Zeit des formalen Militärstaates" in die „Zeit der Armee der Werktätigen" führe und ihr kriegerisches Wesen im Kampf gegen sozialistische und kapitalistische Kräfte im Staat positiv zu nutzen wisse.[9] Auf der anderen Seite verweist er hingegen auf die „heute wieder mächtig[e]" Gefahr einer zur Besessenheit
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[1]Ebd., S. 254f.
[2]Ebd., S. 280: „Das politische Reich ist die der gesamten Welt Gottes entsprechenden politischen Verfassung und Entfaltung, Ordnung und Bewegung der Welt."
[3]Ebd., S. 335.
[4]Ebd., S. 292.
[5]„Doch die neue Theologie des Nationalismus verbaut nicht bloß der Dämonin Vernunft den Weg. Sie droht mit dem Heereszug der alten Götter Gott den Weg zu verstellen" (ebd., S. 335).
[6]„Nicht nur die Welt der Gottlosen, auch diese Welt der Götter bedeutet den Tod der universalen religio und ihrer universalen Kirche und ihres universalen Reiches" (ebd., S. 336f.).
[7]Zur völkisch-religiösen Bewegung s. Uwe Puschner: Die völkische Bewegung im wilhelminischen Kaiserreich. Sprache, Rasse, Religion. Darmstadt 2001, bes. S. 203-262; ders., Clemens Vollnhals (Hg.): Die völkisch-religiöse Bewegung im Nationalsozialismus. Beziehungs- und Konfliktgeschichte. Göttingen 2012.
[8]Schmidhauser: Der Kampf, S. 260. Obwohl die Wurzeln der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei zu einem überwiegenden Teil in der völkischen Bewegung zu finden sind, kam es mit der Übernahme des Parteivorsitzes durch Adolf Hitler im Juli 1921 zu einer sukzessiven Verdrängung völkischer Protagonisten. Die Kluft zwischen der völkischen Bewegung und dem nationalsozialistischen Lager wurde mit Neugründung der NSDAP im Frühjahr 1925 unübersehbar, nachdem sich Hitler von einer Zusammenarbeit mit anderen Vereinigungen aus dem rechtsradikalen Lager distanzierte und sich zudem in seinem Buch Mein Kampf sehr kritisch zur völkischen Bewegung äußerte (s. hierzu Stefan Breuer: Die Völkischen in Deutschland. Kaiserreich und Weimarer Republik. Darmstadt 22010, S. 236-251).
[9]Schmidhauser: Der Kampf, S. 266. In der darauf folgenden Begründung zur Notwendigkeit einer Stärkung und Bündelung der kriegerischen Kräfte im deutschen Volk offenbart sich die Tragik der Forderung Schmid- hausers: „Der größte Krieg steht bevor. Der Krieg um die Existenz des deutschen, der Krieg um die Gestalt des Weltarbeitsvolkes steht bevor" (ebd., S. 266f.).
anwachsenden Überbetonung des Nationalen und Zersetzung des Volkes in „hemmungslose Triebmassen"[1], wobei ein potenzieller Bezug zum Nationalsozialismus nur vermutet werden kann.
In einem drei Jahre zuvor gehaltenen Vortrag vor Zürcher Studenten über Das Schicksal der Schweiz im Schicksal der Demokratie bezog Schmidhauser eine klar ablehnende Haltung zur nationalsozialistischen Bewegung als neue dritte Bedrohung - neben Kommunismus und Faschismus - für die demokratische Welt. Im Allgemeinen sei der Nationalsozialismus ein Teil der „faszistischen Front" und weise wichtige Gemeinsamkeiten mit dem italienischen Faschismus auf.[2] Dieser Wesensverwandtschaft stünden aber gleichzeitig nicht unwesentliche Unterschiede gegenüber: Während der Faschismus „alle Akzente auf den Staat" setze und eine absolutistische Herrschaft sowie Vergöttlichung des Staates vorantreibe,[3] stehe „das Volk und Völkische und Volksgemeinschaftliche" im Zentrum der nationalsozialistischen Bewegung.[4] Beide Formen dieser neuen Nationalismen seien jedoch von „primitive[n] dämonische[n] Züge[n] völkischer Ichgier" durchzogen, die den Menschen selbst bis zur Unkenntlichkeit abstrahieren und ihn seiner anthropologischen „Grundrealität" berauben würden, bis nur noch „der Deutsche" bzw. „der Italiener" übrig bleibe. Diesem falschen Internationalismus und falschen Nationalismus müsse „die Welt weitherzig als eine Gemeinschaft von freien gleichgestellten ureigentümlichen Völkern" gegenüber gestellt und ein „christliche[r] Universalismus" gefördert werden.[5] Ein weiteres Bedrohungspotential der nationalsozialistischen Bewegung stelle „das Aufgehen in unpersönlichen militarisierten Massen" dar: Das Individuum löse sich völlig in der nationalsozialistischen Masse auf und verliere jegliches Gefühl einer persönlichen Verantwortung. Diese De-Individuation sei die Grundlage für das den Massenphänomenen charakteristische Drängen „zu gewaltsamen Exzessen".[6] Schmidhauser kritisiert in diesem Vortrag jene Charakteristika der nationalsozialistischen Bewegung, die er drei Jahre später als kennzeichnend für eine Politische Religion bestimmt, ohne aber einen direkten Bezug zum Nationalsozialismus herzustellen.
Der in Paris lebende russische Philosoph Nikolai Alexandrowitsch Berdjajew (18741948) veröffentlichte 1933 eine recht wohlwollende Rezension zum Buch Der Kampf um das geistige Reich in der Zeitschrift nymb (deutsch: Der Weg).[7] Hierin bemängelt er u. a. Schmid- hausers generelle Zurückhaltung in der ausdrücklichen Thematisierung und kritischen Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus, die den optimistischen und idealisierenden Tendenzen der Neuzeit entspreche. Dabei symbolisiere der nationalsozialistische und faschistische
Nationalismus die tödlichen Kämpfe der alten Welt sowie die Fortsetzung des Weltkrieges.[8]
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[1] Ebd., S. 291f.
[2] „Entscheidende Übereinstimmung mit dem Faszismus liegt im Haß gegen die Liberaldemokratie und Sozialdemokratie, in der unbedingten Gewalt der Führung, der disziplinierten Unterordnung, in der Leidenschaft der völkischen Einheit, im militärischen Heroismus, der vor dem innern und äußeren Kriege nicht zurückschreckt, in der Betonung der nationalen Ehre gegen die Erniedrigung von außen, in der Betonung der Nationalität, der Individualität des deutschen Volkes, des Deutschtums" (Julius Schmidhauser: Das Schicksal der Schweiz im Schicksal der Demokratie, in: Schweizerische Monatshefte für Politik und Kultur 10.11 (1930/31), S. 489-511, hier S. 502).
[3] Ebd., S. 501.
[4] Ebd., S. 502.
[5] Ebd., S. 503: „Dem ewigen unverbrüchlichen Bund des Volkes entspricht der ewige unverbrüchliche Bund der Völker."
[6] Ebd., S. 504.
[7] Die religionsphilosophische Zeitung nymb (dt. Der Weg) wurde von Berdjajew als Publikationsorgan für russische Emigranten in Paris gegründet und in den Jahren 1925-40 herausgegeben.
[8] Berdjajew: Rezension, S. 68: ..HannoHa.imM. cmoib cennac Tep3aro^un Mup, He ecmb po>i<geHne HOBoro Mupa, a ecmb cMepme.ibHbie cygoporu cmaporo Mupa, oh ecmb npogon^eHue MupoBon bohhm."
So verkenne Schmidhauser, dass die nationalsozialistische sowie die faschistische Bewegung aus christlicher Sicht wesentlich gefährlicher sind als der russische Kommunismus, der sich dem Christentum offen als Feind zu erkennen gebe und die Christen verfolge, wohingegen Faschismus und Nationalsozialismus die Knechtung des Christentums und der Kirchen zu gehorsamen Instrumenten ihrer Politik verfolgen würden.[1]
In oppositionellen Kreisen des deutschen Sprachraums finden sich - neben dem oben erwähnten Paul Schütz - frühe Erwähnungen des Begriffs Politische Religion im Kontext totalitärer Ideologien und diktatorischen Staatsformen in den Arbeiten des evangelischen Theologen und Mitbegründer des Pfarrernotbunds[2] Günter Jacob (1906-1993), die in der Forschung zu frühen Verwendungen des Begriffs bislang kaum Beachtung gefunden hat.[3] Jacob veröffentlichte 1934 den Aufsatz Christliche Verkündigung und politische Existenz,[4] in dem er den Terminus vermutlich zum ersten Mal in Verbindung mit dem Nationalsozialismus verwen- dete,[5] die nationalsozialistische Bewegung und politische Wirklichkeit der deutschen Bevölkerung aber nicht als Politische Religion interpretierte. Vielmehr pendle, so Jacob, der Nationalsozialismus noch
„zwischen politischer Ordnung und politischer Religion. [In ihrem Ursprung will sie Gestaltung und Ordnung innerhalb der Grenzen des Politischen sein.][6] Indessen mehren sich die Zeichen für eine Radikalisierung zur politischen Religion."[7]
In Form einer politischen Ordnung akzeptiert Jacob den Nationalsozialismus als staatliche Einrichtung, die seine Grenzen wahrend einzig in der politischen Sphäre agiere. Überschreite die politische Autorität aber die Schranken zum jenseitigen Bereich und greife in das Seelenheil des Menschen ein, schlage die politische Ordnung in eine politische Religion um, die Jacob ablehnt. Ihr Wesen wird in diesem Text nur kurz umschrieben als „Grenzüberschreitung auf die Ebene chiliastischer Illusionen und des politischen Idealismus" und „Aufsässigkeit der Kreatur gegen den Schöpfer", die sich mit Gott durch einen an den Turmbau zu Babel erinnernden Versuch einer „messianischen Weltbaumeisterei" gleichzustellen versuche sowie den christlichen
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[1] Ebd., S. 68: „®amu3M u ocoöeHHo HannoHa.i-conna.in3M c xpucruaHcKon tohkh 3peHna xy^e KoMMy- HU3Ma, uöo KoMMyHU3M omcpbiTo u npaMo oonaBiaem ceoa BparoM xpucmuaHcTBa u npec.iegyem xpucmuaH, (|iarnn3M >i<e u HannoHa.i-conna.in3M xoiem npeBpamnmb xpucmuaHcTBo u nepcoBb b cBoe nocnymHoe opy- gue."
[2] Innerhalb des Pfarrernotbundes und später der Bekennenden Kirche war eine Umschreibung des National-
sozialismus als Religion oder religionsähnliche Erscheinung verbreitet (Ustorf: Confronting, S. 23f.).
[3] Hierzu Neddens: „Politische Religion", S. 328; Michael Hüttenhoff: Günter Jacob. Kirchliche Praxis in zwei Weltanschauungsdiktaturen, in: Theologie.Geschichte [Beiheft] 5 [2012], S. 357-394.
[4] Nachdem Karl Barth eine Veröffentlichung in seinem Publikationsorgan ablehnte, erschien der Aufsatz in der Vierteljahreszeitschrift Junge Kirche, die 1933 von Günther Ruprecht, dem Leiter des Verlages Vanden- hoeck & Ruprecht, gegründet wurde (Ralf Retter: Zwischen Protest und Propaganda. Die Zeitschrift „Junge Kirche" im Dritten Reich. München 2009, S. 160).
[5] Bereits vor der Machtübergabe an die nationalsozialistische Partei beschäftigte sich Jacob in einem Vortrag kritisch mit „politischen Parteien", die er als „Religionsersatz" deutete (Zitate nach Neddens: „Politische Religion", S. 329).
[6] Der hier umklammerte Satz findet sich in der Erstveröffentlichung in der Jungen Kirche von 1934, wurde aber von Jacob vor der Neuauflage in seiner Aufsatzsammlung von 1946 gestrichen (vgl. Günter Jacob: Christliche Verkündigung und politische Existenz, in: Junge Kirche 2 [1934], S. 318). Hüttenhoff vermutet, dass Jacob mit der Tilgung des Satzes seine anfangs unkritische bzw. fast schon affirmative Haltung zum Nationalsozialismus verdecken wollte (Hüttenhoff: Günter Jacob, S. 364, Anm. 30).
[7] Günter Jacob: Christliche Verkündigung und politische Existenz, in: ders.: Die Versuchung der Kirche. Theologische Vorträge der Jahre 1934/1944. Göttingen 1946 [1934], S. 7-21, S. 18 [Hervorhebung im Original].
Prediger an den Rand der staatlichen Gemeinschaft dränge „und ihn dort nur aus Gründen der Staatsraison dulde[]." Diese „antichristliche Herrschaft"[1] verfolge die Errichtung einer neuen Religion „vollkommener Diesseitigkeit"[2], in der sich das Individuum in einem Kollektivismus auflöse, der die „christliche Existenz in der Vereinzelung vor Gott zertrümmer[e]."[3] Zusammenfassen lässt sich die Jacobsche Wesensbestimmung des Begriffs Politische Religion wie folgt: Diesseitigkeit statt Transzendenz, Kollektiv statt Individualität, Gleichstellung mit Gott statt Unterordnung unter die göttliche Herrschaft.
Im Schwerpunkt befasst sich der Aufsatz mit der Frage um die Stellung und Aufgaben des protestantischen Predigers im Gefüge der nationalsozialistischen Bewegung als politischer Ordnung und soll auf die Gefahren einer offen pathetischen oder kritischen Haltung aufmerksam machen, die den bereits eingesetzten „Prozeß des Umschlags der politischen Ordnung in die politische Religion"[4] begünstigen und beschleunigen könnten, sowie dem Prediger als „Appell zur Selbstzüchtigung und Selbstkritik"[5] dienen. Als Vertreter einer der Welt zugewandten Kirche[6] besitze gegenwärtig allein der protestantische Prediger die Fähigkeit, das Mittelmaß zwischen „Liturg und Rhetor"[7] zu erreichen und das Wort Gottes mitten in die Welt zu tragen, um eine Verkehrung der nationalsozialistischen Bewegung in die Politische Religion abwenden zu können. Die Lage des Einzelnen in der gegenwärtigen politischen Situation beschreibt Jacob als „totale Politisierung der Existenz"[8], weswegen jede Predigt „heute in ihrem Grundcharakter politische Predigt' sein"[9] müsse. Das Postulat eines apolitischen Charakters der Kirche, das überwiegend von Mitgliedern der Bekennenden Kirche vertreten wurde,[10] überwindet Jacob: „Im Ursprung ist die christliche Verkündigung politische Prophe- tie."[11]
Seit Jesus Christus sei der Apostel „Träger des unbedingten und weltweiten Offenba- rungswortes"[12], das seinem Wesen nach die „Enthüllung und Begnadung der politischen Existenz im Heute"[13] verfolge. Als streitende Kirche stehe das Christentum seit jeher in einem wechselseitigen Verhältnis mit politischen Machtgefügen. Dennoch propagiert Jacob eine weitestmögliche Trennung von diesseitiger und jenseitiger Ebene, die ein bewusstes und gezieltes Eingreifen über die eigenen Bereichsgrenzen hinaus untersagt. Er stellt sich damit zu Gunsten eines rein theologischen Charakters gegen eine Politisierung des „Kirchenkampfes" und
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[1] Ebd., S. 19.
[2] Ebd., S. 18.
[3] Ebd., S. 19.
[4] Ebd., S. 20.
[5] Ebd., S. 18. Die protestantische Predigt müsse das Wort der Verkündigung vergegenwärtigt in Korrespon
denz mit der aktuellen Weltlage auslegen, da sowohl der Träger wie auch der Empfänger des Evangeliums Teil der diesseitigen und sich kontinuierlich wandelnden Welt sind. Dementsprechend bemängelt Jacob die Kluft zwischen Theorie und Praxis in der christlichen Kirche (ebd., S. 16).
[6] Als der Welt abgewandte Glaubensrichtungen benennt er einerseits die katholische Kirche, die sich von der Außenwelt abgeschottet in das Evangelium selbst einkapsele, das „nur noch in Versteinerung" vorzufinden sei, und andererseits spiritualistische Sekten, die sich ebenfalls vom Zeitgeschehen abwenden und in denen sich das Wort Gottes aufgrund der postulierten Dogmenfreiheit „verflüchtig[e] und nur noch äußerer Anlaß für die Auflösung subjektiver Bewegtheiten" sei (ebd., S. 12f.).
[7] Ebd., S. 12.
[8] Ebd., S. 16.
[9] Ebd., S. 15. So Jacobs Auffassung in einer späteren Schrift: „Kirche kann gar nicht unpolitisch sein" (Günter Jacob: Die Sendung der Kirche [1938], in: ders.: Die Versuchung der Kirche. Theologische Vorträge der Jahre 1934/1944. Göttingen 1946, S. 50-74, S. 59).
[10] Retter: Protest, S. 163.
[11] Jacob: Christliche Verkündigung, S. 9.
[12] Ebd., S. 10.
[13] Ebd., S. 9.
ist bemüht, Kritik an der nationalsozialistischen Politik nur zu formulieren, wenn ihre weltlichen Maßnahmen in die Belange der christlichen Kirche eingreifen.[1] Den Begriff Religion benutzt Jacob vornehmlich in Verbindung mit der Politischen Religion, vermeidet ihn jedoch offensichtlich im Zusammenhang mit dem Christentum und spricht stattdessen etwa von „christlichem Glauben" oder „christlicher Kirche". Jacob vertritt in seinen Aufsätzen einen negativen Religionsbegriff, der sich in der negativ konnotierten Verwendung im Begriff Politische Religion und seiner Fokussierung auf die „christliche Verkündigung" widerspiegelt.
In einem Brief an den Hauptvertreter der Dialektischen Theologie und Mitbegründer der Bekennenden Kirche Karl Barth (1889-1966) gab sich Jacob seinen anfänglichen Ansichten folgend „als Nationalsozialist (im Sinne der politischen Ordnung)"[2] zu erkennen. Barth bemängelte die Ausführungen Jacobs Ende Februar 1934 in einem Briefwechsel mit dem evangelischen Theologen Rudolf Bultmann (1886-1968), der um eine Veröffentlichung der Schrift Jacobs in Barths Schriftenreihe Theologische Existenz heute ersuchte. Jacobs Deutung des Nationalsozialismus als Politische Ordnung sowie die damit einhergehende Verharmlosung der nationalsozialistischen Bewegung wurde von Barth entschieden kritisiert und eine prinzipielle Unterscheidung „zwischen politischer Religion und politischer Ordnung"[3] abgelehnt, weswegen er Bultmanns Bitte um eine Veröffentlichung abschlug.
Jacobs Sympathie für den Nationalsozialismus wandelte sich spätestens 1935 in eine Ablehnung der nationalsozialistischen Bewegung, die er aufgrund ihrer „Grenzüberschreitung von der politischen Totalität in die weltanschauliche, d. h. religiöse Totalität"[4] fortan als Politische Religion einstufte. In seinen nun folgenden Beiträgen richtete sich sein thematisches Hauptanliegen auf die Lage des Christentums im nationalsozialistischen Staat, um auf mögliche Auswege aus der existenziellen wie auch religiösen Krise aufmerksam zu machen.[5] Zugleich setzte er sich aber auch intensiver mit dem Konzept der Politischen Religion auseinander und
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[1] Hüttenhoff: Günter Jacob, S. 363f. Zur Kritik am Begriff „Kirchenkampf" siehe Joachim Mehlhausen: Nati-
onalsozialismus und Kirchen, in: Theologische Realenzyklopädie, Bd. 24. Berlin 1994, S. 43-78.
[2] Brief Jacobs an Barth vom 4.1.1934 zitiert nach Hüttenhoff: Günter Jacob, S. 363. Trotzdem Jacob eine wichtige Rolle bei der Gründung des Pfarrernotbundes spielte und die ihm anvertraute Pfarrgemeinde Noß- dorf (Niederlausitz) im November 1934 der Bekennenden Kirche unterstellte, schien er den Nationalsozialismus anfänglich sogar zu begrüßen. Zumindest warnt Jacob am Ende seiner thematisch ersten Schrift vor einer „schulmeisterische[n] Kritik, die die Solidarität der politischen Ordnungsarbeit voreilig zerbricht." (Jacob: Christliche Verkündigung, S. 21 [Hervorhebung im Original]; s. Hüttenhoff: Günter Jacob, S. 364).
[3] Barth - Bultmann Briefwechsel. Nr. 86, S. 146. „Ist der Nationalsozialismus etwa erst im Augenblick seines manifesten Übergangs zur politischen Religion' und prinzipiell gar nicht auch schon als politische Ord- nung' problematisch?" (ebd., S. 145). Am Ende des Briefes kündigte Barth an, einen Durchschlag seines Antwortschreibens an Jacob zu senden. Karl Barth befasste sich schon vor 1933 mit dem Nationalsozialismus, den er als Religion charakterisierte (s. hierzu Neddens: „Politische Religion", S. 325).
[4] Günter Jacob: Kreuz und Reich, in: Theologische Rundschau N.F. 7 (1935), S. 319-348, S. 347; siehe auch ders.: Kirche oder Sekte [1936], in: ders.: Die Versuchung der Kirche. Theologische Vorträge der Jahre 1934/1944. Göttingen 1946, S. 36-49, S. 38; Hüttenhoff: Günter Jacob, S. 361. Jacob hielt den Vortrag Kirche oder Sekte 1936 vor der Preußischen Bekenntnis-Synode in Breslau und ließ ihn, seinen Angaben zufolge, kurz darauf illegal in Breslau und Westdeutschland drucken (Jacob: Kreuz und Kirche, S. 36, Anm.).
[5] Seine Abwehrhaltung drückt sich in seinen Aufsätzen und Reden seit 1935 unverblümt aus, woraufhin er mehrmals verhaftet wurde und 1938 Auftrittsverbot erhielt. Ab 1939 nahm Jacob - zuletzt als Unteroffizier - am Zweiten Weltkrieg teil und geriet 1945 in Kriegsgefangenschaft (Hüttenhoff: Günter Jacob, S. 360f.). Die Druckexemplare seiner 1938 in Berlin gehaltenen Rede Wo stehen wir heute? wurden größtenteils von der Gestapo beschlagnahmt, am Druck beteiligte Personen verhaftet und 1939 gegen Jacob ein Heimtücke-Verfahren eröffnet, das aufgrund seiner Einberufung zur Wehrmacht nicht zur Verhandlung kam
(Günter Jacob: Wo stehen wir heute? [1938], in: ders.: Die Versuchung der Kirche. Theologische Vorträge der Jahre 1934/1944. Göttingen 1946, S. 75-89, S. 75, Anm.).
fragte nach den Gründen ihres Erfolgs sowie den Mechanismen insbesondere im Verdrängungsprozess der christlichen Kirche.
„Die Wandlung des privaten Menschen zum politischen Soldaten ist nicht an sich der Abfall von der christlichen Verkündigung [...], sondern diese Wandlung hat den Abfall nur unverhüllt an den Tag gebracht."[1]
Seiner Meinung nach sei der Erfolg der Bewegung Konsequenz eines sich bereits zuvor ausbreitenden „Abfalls von der christlichen Verkündigung", der bereits vor dem Auftreten des Nationalsozialismus zu einem religiösen Vakuum innerhalb der deutschen Bevölkerung geführt habe. Demnach sei die gegenwärtige Politische Religion letztendlich nur Ausdruck eines Säkularisierungsprozesses, den die christliche Kirche nicht aufzuhalten wusste oder gar zu verhindern suchte.[2] Der Nationalsozialismus habe lediglich einen bereits existierenden Nährboden für die Verbreitung seines „politischen Evangeliums" gefunden, das die innere Leere mit einem „Glaubensersatz" füllen und zur „religiösen Bekehrung"[3] führen solle. In der Sakralisierung des „ewige[n] Volk[es]"[4], das zum Mittelpunkt von Glaube und Anbetung erhoben wurde, manifestiere sich die Diesseitigkeit dieser speziellen Form einer Politischen Religion. Der ideale Anhänger der Bewegung wird von Jacob als „politische[r] Soldat"[5] bezeichnet, der - als „,Apostel' der Bewegung" - sein gesamtes öffentliches wie privates Dasein in den „Dienst der Verkündigung und Verwirklichung der politischen Heilslehre"[6] stelle. Seine gesamte Existenz gliedere er in ein Staatsgefüge ein, „das ihn total beansprucht und ihn in den unbedingten Gehorsam ruft."[7] Geleitet von „Enthusiasmus und Fanatismus"[8] fördere der „politische Soldat" die Verbreitung der nationalsozialistischen Lehre und die Durchsetzung ihres „Unbe- dingtheitsanspruches"[9] im Kampf gegen Andersgläubige. Diesen von der nationalsozialistischen Bewegung erhobenen „Anspruch auf unbedingten Gehorsam der Gewissen und letzte Hingabe der Seelen"[10] erklärt Jacob zu einem Charaktermerkmal der Politischen Religion, die eine Koexistenz mit anderen religiösen Strömungen ausschließe. Von der Feststellung ausgehend, dass die nationalsozialistische Weltanschauung in Wahrheit eine neue Religion im Sinne einer Ersatzreligion verkörpere, deduziert Jacob, dass sich die christliche Kirche in einem Religionskrieg mit dem Nationalsozialismus befinde und von der neuen Staatsmacht nur geduldet werde.[11] Langfristig plane die nationalsozialistischen Bewegung jedoch mittels staatlicher
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[1] Günter Jacob: Glaube und Fanatismus, in: ders.: Die Versuchung der Kirche. Theologische Vorträge der Jahre 1934/1944. Göttingen 1946 [1935], S. 22-35, hier S. 25 und 27.
[2] Ebd., S. 28; Jacob: Kirche oder Sekte, S. 40.
[3] Jacob: Glaube und Fanatismus, S. 25. Jacob bezeichnet die nationalsozialistische Ideologie auch als „politi
schen Diesseitseschatologie" (ebd., S. 30).
[4] Ebd., S. 27.
[5] Ebd., S. 22.
[6] Ebd., S. 23.
[7] Ebd., S. 22.
[8] In Jacobs Konzept spielt der Begriff Fanatismus eine große Rolle, den er „als Erscheinung der Urangst, als Symptom der Unerlöstheit" (ebd., S. 34) oder als „Symptom der Weltverkrampfung und Weltverschlossenheit" (Jacob: Sendung, S. 67) interpretiert. In diesem Sinne nutzt Jacob den Begriff Fanatismus analog zum christlichen Glauben zur Bezeichnung des politischen Glaubens der neuen antichristlichen Politischen Religion (vgl. hierzu bspw. auch die Textstellen in: Jacob: Glaube und Fanatismus, S. 24; ders.: Kreuz und Reich, S. 346; siehe auch Neddens: „Politische Religion", S. 330). Zum Begriff des Fanatismus bei Hitler siehe Burleigh: Irdische Mächte, S. 692.
[9] Jacob: Kirche oder Sekte, S. 45, 47; ders.: Sendung, S. 72. Im Gegensatz dazu werden „der christlichen Kir
che der Unbedingtheitsanspruch ihrer Verkündigung und die in ihm gegründete Sendungsverpflichtung vor aller Welt bestritten" (ebd., S. 53).
[10] Jacob: Kirche oder Sekte, S. 45.
[11] Ebd., S. 46.
Maßnahmen und einem Eingreifen in die zivile Erziehungspolitik die christliche Kirche aus dem öffentlichen wie auch privaten Raum in eine gesellschaftsreligiöse Randposition, „in eine wahrhaft babylonische Gefangenschaft"[1] zu drängen, um so ohne Gewaltanwendung ihre Selbstauflösung zu bewirken.[2] Das Christentum solle letztlich zu einem Artefakt eines vergangenen „christliche[n] Zeitalter"[3] verkümmern. Derartige Verdrängungsmaßnahmen versuche die Bewegung auf verschiedene Arten zu verschleiern. Unter anderem macht Jacob auf die Strategie des nationalsozialistischen Staates aufmerksam, seine tatsächlich antichristliche Kirchenpolitik hinter einer „Summe achristlicher Entscheidungen"[4] zu tarnen und damit seinen Religionscharakter zu verbergen. Das gleiche Ziel verfolge die von den Nationalsozialisten eingeführte Bedeutungsverkehrung der zwei Begriffe Religion und Weltanschauung, womit ebenfalls das wahre Wesen des nationalsozialistischen Staates als dogmatisch gebundener „Kirchenstaat"[5] und der Weltanschauung als genuine Religion verschleiert werden solle. Dementsprechend lehnt Jacob die (Eigen-)Bezeichnung des Nationalsozialismus als Weltanschauung als „eine Täuschung im Sinne der Verharmlosung"[6] ab. Das Erscheinungsbild der nationalsozialistischen Politischen Religion weise Elemente auf, die aus der christlichen Liturgie entlehnt erscheinen und der nationalsozialistischen Lehre „religiöse[n] Gehalt und sakrale Atmosphäre"[7] verleihen sollen. In der „schrittweisen Übernahme der christlichen Begriffe"[8] identifiziert er eine weitere Vernebelungsmethode, die dem allmählichen und vor allem unauffälligen Austausch des christlichen Glaubens gegen die neue Religion dienen soll. Des Weiteren thematisiert Jacob wiederholt den totalitären Charakter der nationalsozialistischen Bewegung, den er nicht als Wesensbestandteil der Politischen Religion, sondern als eine eigenständige Erscheinung beschreibt, die unabhängig von der politischen Religion auftreten kann und im Zusammenspiel mit den erwähnten Verdrängungs- und Vernebelungsstrategien der Etablierung der neuen politischen Religion in Form des Nationalsozialismus Vorschub leisten solle.[9]
Jacob verwendet in seinen Arbeiten wesentliche deskriptive und argumentative Strukturen zur Umschreibung des Konzepts, die später größtenteils bei Voegelin und oftmals an diesen angelehnt in der heutigen Forschungsdebatte wieder auftauchen.
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[1] Jacob: Glaube und Fanatismus, S. 37.
[2] „Es gehe um die Ausrottung des Christentums überhaupt. [...] Aber es wäre vom politischen Standpunkt aus töricht, ein Bilderstürmer zu werden, d. h. den christlichen Glauben nunmehr mit Gewalt aus den Herzen herauszureißen und die Kirche im Augenblick zu vernichten." (Jacob: Wo stehen wir heute?, S. 79). Als wichtiges Fundament zur langfristigen Verdrängung traditioneller Religionen und Etablierung der neuen Weltanschauungslehre erwähnt Jacob die Fokussierung der nationalsozialistischen Erziehung und Indoktrinierung auf heranwachsende und kommende Generationen (ders.: Kirche oder Sekte, S. 41, 45.).
[3] Ebd., S. 36. Die Machtübergabe an die nationalsozialistische Bewegung deutet Jacob als einen „fundamentalen Umbruch der Zeiten", in dem der „Verfall [.] unter dem Ansturm des Neuen für die alten Institutionen zwangsläufig ist" (ebd.).
[4] Ebd., S. 39, 46.
[5] Ebd., S. 46f.
[6] Jacob: Glaube und Fanatismus, S. 31.
[7] So werde „heute die politische Rede zur Predigt erhoben [.], das politische Kampflied zum Choral, die politische Propaganda zur Mission, der politische Aufmarsch zur Prozession, das politische Fest zur kultischen Feier, die politische Arbeit zum Gottesdienst, die politischen Gefallenen zu Märtyrern, der politische Führer zum religiösen Urbild und die politische Stunde zur Zeitenwende im heilsgeschichtlichen Sinne" (Jacob: Glaube und Fanatismus, S. 23; vgl. auch ders.: Kirche oder Sekte, S. 48).
[8] Ebd., S. 48. Mit dem Bild einer Eisenbahnbrücke, die erneuert werden soll, ohne den Zugverkehr zu stören, beschreibt Jacob metaphorisch die „schrittweise und gänzlich unauffällige Auswechselung" einzelner religiöser Versatzstücke bis eines Tages die traditionelle vollständig gegen die neue Religion ersetzt wurde.
[9] Siehe hierzu Neddens: „Politische Religion", S. 331.
In der aktuellen Forschung ist es umstritten, ob der Nationalsozialismus mit dem Begriff Politische Religion definiert werden sollte. Die Uneinigkeit in der Wissenschaft ergibt sich nicht aus voneinander abweichenden Darstellungen oder Charakterisierungen der nationalsozialistischen Bewegung, sondern aus einer unterschiedlichen Deutung des Begriffs Politische Religion. Schon allein die Frage, ob der Begriff Politische Religion eine genuine Religion oder ein vielleicht religionsähnliches Phänomen bezeichnet, wird verschieden beantwortet. Wenn nun der Begriff tatsächlich eine Religion bezeichnen soll, könnte man den Nationalsozialismus betreffend unter Bezugnahme der verschiedenen Religionsdefinitionen folgende Argumentationen ins Feld führen: Wird der Religionsbegriff im substantiellen Sinn sehr eng gefasst, zum Beispiel durch die Postulierung eines Gottesbegriffs als Gemeinsames aller Religionen, dann kann die nationalsozialistische Weltanschauung kaum als Religion begriffen werden, da der für diesen Ansatz zentrale Bezug auf eine außerhalb der endlichen Erfahrungswelt liegende personale oder apersonale Vorstellung fehlt. Ein privater Bezug zu transzendenten Inhalten ist zwar im persönlich-religiösen Denken Adolf Hitlers[1] sowie bei weiteren Nationalsozialisten[2] nachweisbar, die nationalsozialistische Bewegung bezog sich jedoch nicht programmatisch auf außerweltliche Inhalte, obwohl die göttliche Vorsehung ein wichtiges Moment in der geschichtlich-teleologischen Legitimierung des Nationalsozialismus spielte und Adolf Hitler in vielen seiner Reden darauf Bezug nahm.[3] Der Bevölkerung wurde kein homogenes Konzept einer Transzendenzvorstellung durch die nationalsozialistische Führung bereitgestellt, das von ihr hätte aufgenommen werden können.[4] Ideologische Mittel- und Bezugspunkte bildeten diesseitsbezogene Ideen und die Sakralisierung dieser Immanenz, wie zum Beispiel „Rasse" und „Volksgemeinschaft". Statt der individuellen Erlösung im Jenseits durch einen Gott wurde die kollektive Selbsterlösung des deutschen Volkes im Diesseits propagiert.[5] Eine Deutung der nationalsozialistischen Bewegung als Religion im Sinne eines substantialistischen Religionsverständnisses wäre hingegen möglich, wenn zur Bestimmung inhaltlicher Wesensmerkmale von Religionen auf den Heiligenbegriff zurückgegriffen wird. Zwar wird durch die von
Durkheim eingeführte Unterscheidung zwischen heilig und profan ein außeralltäglicher Charakter des Heiligen suggeriert, doch ist die Definition dessen, was heilig bzw. außeralltäglich ist, eine stark subjekt- und kontextabhängige Zuordnung.[6] Somit steht die Einschätzung zum
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[1] Mit der sehr problematischen Frage zur Religion bzw. zum persönlichen Glauben Adolf Hitlers beschäftigen sich interdisziplinär zahlreiche Publikationen, so u. a. die im Einleitungskapitel bereits erwähnte Monographie des Historikers Michael Rißmann Hitlers Gott und die Monographie des reformierten Theologen Thomas Schirrmacher Hitlers Kriegsreligion. Des Weiteren siehe auch Rainer Bucher: Hitlers Theologie. Würzburg 2008; Michael Hesemann: Hitlers Religion. Augsburg 2012.
[2] Nolzen, Armin: Nationalsozialismus und Christentum. Konfessionsgeschichtliche Befunde zur NSDAP, in: Manfred Gailus, Armin Nolzen (Hg.): Zerstrittene „Volksgemeinschaft". Glaube, Konfession und Religion im Nationalsozialismus. Göttingen 2011, S. 151-179. Hierzu weiterführend u. a. die Veröffentlichungen von Claus-Ekkehard Bärsch Die politische Religion des Nationalsozialismus (2002) und Der junge Goebbels (2004) sowie die Monographie von Richard Steigmann-Gall The Holy Reich (2003) (siehe im Literaturverzeichnis).
[3] Der Zitatband der zweibändigen Monographie Hitlers Kriegsreligion von Thomas Schirrmacher bietet eine sehr umfangreiche Quellenauswahl zur religiösen Sprache Adolf Hitlers (Liturgie des Nationalsozialismus).
[4] Rißmann: Hitlers Gott, S. 194-197.
[5] Diese Erlösungsrhetorik findet sich bereits in frühen Reden Hitlers. Beispielsweise verkündete er in einer Rede auf der NSDAP-Versammlung in München im Juni 1920: „Die Erlösung kommt nicht von oben, sondern aus dem Innersten des deutschen Volkes" (zitiert nach Schirrmacher: Hitlers Kriegsreligion II, S. 453). In Anlehnung an Eric Voegelin sprechen einige Forschende auch vom „Mythos der Erlösung" (Jürgen Gebhardt, Wolfgang Leidhold: Eric Voegelin, in: Karl Graf Ballestrem, Henning Ottmann (Hg.): Politische Philosophie des 20. Jahrhunderts. München, Wien 1990, S. 133; Maier: Politische Religionen, S. 114).
[6] Siehe etwa die Definition des Religionswissenschaftlers Gustav Mensching: „Religion ist die erlebnishafte Begegnung mit dem Heiligen und antwortendes Handeln des vom Heiligen bestimmten Menschen" (Gustav Mensching: Die Religion. Erscheinungsformen, Strukturtypen und Lebensgesetze. Stuttgart 1959, S. 18f.).
Religionscharakter der nationalsozialistischen Weltanschauung wiederum in Abhängigkeit zum Wissenschaftler und dessen Begriffsverständnis von heilig. Anders fällt hingegen die Beurteilung aus, wenn Religion etwa über den funktionalistischen Ansatz von Thomas Luckmann als Prozess der Menschwerdung definiert wird. Angesichts der Brutalität und Unmenschlichkeit des NS-Systems ist die Neigung groß, den Anhängerinnen und Anhängern auf einer moralischen Ebene das Menschsein abzusprechen. Dies wäre allerdings eine einerseits subjektiv wertende bzw. moralische und andererseits generalisierende Beurteilung außerhalb jeder Wissenschaftlichkeit. Sozialität als conditio humana ist eine anthropologische Kategorie unabhängig von spezifischen Inhalten angebotener Werte- und Orientierungssysteme. Auch ein gemeinschaftsbildender und -sichernder Charakter kann der nationalsozialistischen Ideologie und Bewegung nicht abgesprochen werden.
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