1.2. Politische Religion als für politische Zwecke genutzte Offenbarungsreli-gion
Die Interpretation des Begriffs Politische Religion bezogen auf Offenbarungsreligionen opponierende Religions- bzw. Glaubenskonzepte wie der natürlichen Religion kehrte sich Ende des 18. Jahrhunderts ins Gegenteil. Der zur Kritik herangezogene Begriff Politische Religion wurde von den Autoren der folgenden Quellenbelege auf Offenbarungsreligionen bezogen. Die Quellenbeispiele sind zeitlich in den ersten Jahren der Französischen Revolution zu verorten, die an der ein oder anderen Stelle dieser Schriften thematisiert wird; frühere Verwendungen dieser Umkehrung der Polemik konnten nicht ermittelt werden.
Im Revolutionsjahr 1789 wurde „von einer Gesellschaft" das Traktat Ueber Aufklärung und die Beförderungsmittel derselben veröffentlicht, als dessen Verfasser drei namentlich im Buch nicht erwähnte deutsche Aufklärer gelten: der evangelische Theologe und Schriftsteller Karl Friedrich Bahrdt (1740-1792), der Medizinprofessor August Gottlieb Eberhard (17621807) und der Historiker und Anglist Johann Andreas Degenhard Pott (1759-nach 1804). Wie der Titel bereits verrät, handelt es sich hierbei um eine Abhandlung über das Wesen der Aufklärung, beginnend mit der Annäherung an eine Definition des Begriffs und was darunter zu subsumieren sei. Im fünfzehnten Kapitel wenden sich die Verfasser der Frage nach dem Nuzen der Aufklärung für die Menschheit zu und argumentieren, dass durch die Aufklärung „die Menschenliebe unmittelbar erzeugt und hervorgebracht" werde. Die Besinnung des Menschen auf den „freien Gebrauch der Vernunft" und die Anerkennung von „Natur, Geschichte und Erfahrung, als die einzigen sichern Quellen der Weisheit" lasse ihn „seiner eigenen Naturgefühle wieder mächtig" werden, die zuvor durch „Aberglaube und Fanatismus" unterdrückt worden seien:
„Und nur der Geist politischer Religionen, die Priester erfanden und Völkerherrscher benuzten, konte diese so schön geschafne Menschennatur verderben und die Liebe unter der Menschheit erkalten lassen."[1]
Der Begriff Politische Religion wird in dieser Schrift in alter Manier als Polemik verwendet, im Speziellen zur Kritik an institutionalisierten Religionen, die den freien, persönlichen Glauben unterdrücken und als Ketzerei verteufeln würden. Auffällig ist die Verwendung der Pluralform, womit unterstrichen wird, dass die Verfasser kein bestimmtes Religionskonzept oder eine spezifische Konfession an den Pranger stellen, sondern religiöse Institutionen generell kritisieren, die ein Religionskonzept zur Unterdrückung des freien Glaubens und Versklavung der Menschen unter ein vorgegebenes Glaubenskonstrukt fördern. Die Politischen Religionen seien von Priestern erfundene Formen des Glaubens zur Unterdrückung der Vernunft und des menschlichen Naturgefühls gegenüber Gott. Diese Religionen würden nicht nach einer religiösen oder göttlichen Wahrheit streben, sondern allein auf Basis staatspolitischer Motive (zum Beispiel Machtbestreben) agieren.
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[1] [Karl Friedrich Bahrdt et al.]: Ueber Aufklärung und die Beförderungsmittel derselben von einer Gesellschaft. Leipzig 1789, S. 232.
Zumindest von Karl Friedrich Bahrdt kann mit Gewissheit gesagt werden, dass er zumindest zeitweise eine persönliche Verbindung zu dem bereits im ersten Hauptabschnitt erwähnten Theologen Johann Salomo Semler[1] pflegte, der den Begriff Politische Religion in sein begriffliches Inventar aufnahm und in verschiedenen Publikationen verwendete. Da nicht bekannt ist, aus wessen Feder der betreffende Abschnitt der Gemeinschaftspublikation stammt, kann lediglich die nicht zu belegende Möglichkeit angesprochen werden, dass Bahrdt der Verfasser der oben zitierten Passage ist und eventuell durch die Lektüre von Semlers Schriften auf den Begriff stieß bzw. diesen durch Semler inspiriert in seine Ausführungen zur Aufklärung integrierte.
In der Zeitschrift Deutsche Monatsschrift erschien im Jahrgang 1790 in zwei Teilen anonym ein Kritischer Versuch über das Wort Aufklärung. In dieser Abhandlung geht der unbekannte Verfasser der Frage nach, was unter Aufklärung zu verstehen sei, was man „mit diesem Wort für einen Begriff verbinden"[2] müsse. Nach Meinung des Verfassers gebe es noch keinen einheitlichen Sprachgebrauch zum Terminus Aufklärung, jede Person verwende den Ausdruck nach eigenem Gutdünken und mit einer individuell hergeleiteten oder erdachten Bedeutung. Diese mannigfaltigen Verwendungsformen und Semantiken von Aufklärung versucht er den Lesenden in einer systematischen Ordnung darzulegen, indem er die verschiedenen Bedeutungsnuancen der Aufklärung allgemeinen Begriffen unterordnet.
Im zweiten Teil dieser Auseinandersetzung, die zwei Monate später in der Novemberausgabe veröffentlicht wurde, taucht der Verfasser tiefer in die von ihm erstellte Systematik ein: Unter dem Gliederungspunkt XVIII. Darlegung seiner Meinungen reflektiert er über jene Gelehrte, „die zwischen wahrer und falscher Aufklärung einen Unterschied machen", und gibt zu bedenken, dass die Begrifflichkeit „falsche Aufklärung" im Sinne von Aufgeklärtheit eine cont- radictio in adiecto sei, da die Aufgeklärtheit selbst weder wahr noch falsch sein könne. Demgegenüber könne man allerdings die „angewandten Beförderungsmittel" der Aufklärung entsprechend werten, „je nachdem sie physisch gut oder nicht gut sind."[3] In diesem Zusammenhang greift der Verfasser zur Veranschaulichung eines kritisch zu hinterfragenden Beförderungsmittels der Aufklärung auf die „Bekanntmachung seiner Meinungen" zurück und deutet einen Beitrag in Johann August Eberhards (1739-1809) Philosophischen Magazin[4] zur falschen Aufklärung in der Religion wie folgt:
„Da nun dieses Wankendmachen und dieses Auslöschen, wie mich dünkt, auf keine andre Weise geschehen kann, als dadurch, daß der an gebliche Aufklärer seine eigne individuelle Meinung bekannt macht, nach welcher er jener wohlthätigen politischen Religion keine ehrwürdige Autorität zugesteht, und diejenigen für belachenswerth erklärt, in denen jene positive Religion ein Gefühl erzeugt, durch welches ihre Entschließungen und Handlungen geleitet werden, u. s. w.: so
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[1] 1771 wurde Bahrdt mit der Fürsprache von Johann Salomo Semler an die Universität in Gießen berufen.
[2] [Anon.]: III. Kritischer Versuch über das Wort Aufklärung zur endlichen Beylegung der darüber geführten
Streitigkeiten, in: Deutsche Monatsschrift, September (1790), S. 11-44, hier S. 14.
[3] [Anon.]: III. Kritischer Versuch über das Wort Aufklärung (Beschluß der im September abgebrochenen Abhandlung), in: Deutsche Monatsschrift, November (1790), S. 205-237, hier S. 231.
[4] [Anon.]: Ueber die wahre und falsche Aufklärung, wie auch über die Rechte der Kirche und des Staats in Ansehung derselben, in: Philosophisches Magazin 1 (1788), S. 30-77, Zitat S. 52; im Folgenden zitiert nach [Anon.]: III. Kritischer Versuch, November (1790), S. 232: „Nur die Aufklärung in der Religion ist falsch, welche die ehrwürdige Autorität einer positiven wohlthätigen Religion bey denjenigen wankend macht, die noch auf keine andre Art von den Wahrheiten, die zu ihrer Tugend und Ruhe unentbehrlich sind, können überzeugt werden; die das belebende Feuer des Gefühls durch Spott oder kalte Zweifel in den Herzen auslöscht, ohne gewiß zu seyn, es durch ein sicherer leitendes Licht in dem Verstande ersetzen zu können."
ist unter der falschen Aufklärung selbst doch wohl nichts anders zu denken, als diese Bekanntmachung seiner Meinungen, durch welche der Bekanntmacher andre Leute in ihrer Religion aufzuklären sich (nach unters Definitors Meinung) fälschlich einbildet."[1]
Der Begriff Politische Religion wirkt in diesem Beitrag wie beiläufig eingeworfen, einer stilistischen Blüte gleichend, ohne die polemische Funktion, den abwertenden Charakter als Mittel zur Kritik an einem bestimmten Objekt oder einer Objektsammlung vordergründig zu nutzen. Die negative Konnotation des Begriffs geht zwar nicht verloren, allerdings liegt der Fokus der Kritik dieses Textes nicht auf dem als Politische Religion bezeichneten Objekt. Was Eberhard als „positive wohlthätige Religion" im Sinne von Offenbarungsreligion bezeichnete, betitelt der Verfasser des Kritischen Versuchs als Politische Religion. Eberhard selbst verwendete den Begriff Politische Religion in seinem Beitrag Ueber die wahre und falsche Aufklärung nicht; dass ihm dieser Begriff nicht unbekannt war, konnte aber bereits im vorangegangenen Kapitel zur religion externa anhand verschiedener Quellenbelegen nachgewiesen werden. Es ist durchaus vorstellbar, dass der Verfasser des Kritischen Versuchs den Begriff Politische Religion bei der Lektüre anderer Schriften Eberhards adaptierte. Allerdings verwendeten die Autoren voneinander zu unterscheidende Semantiken, in welche der Begriff Politische Religion in den einzelnen Beiträgen gebettet wurde. Johann August Eberhard bediente sich des Begriffs innerhalb seiner Unterscheidung von innerer und äußerer Religion sowie seiner Auseinandersetzung mit nichtchristlichen Glaubenskonzepten. Der Verfasser des Kritischen Versuchs hingegen bezieht den Begriff auf die sogenannte positive Religion, worunter zumeist Offenbarungsreligionen subsumiert werden. Ihre Gemeinsamkeit besteht einzig in der negativen Konnotation, also in der Verwendung des Begriffs Politische Religion als Polemik, als Negativbegriff gegen ein jeweils von ihnen kritisiertes Objekt.
In einer ebenfalls abwertenden Verwendung für positive Religion taucht der Begriff Politische Religion in einer Rezension zu der 1790 erschienenen Schrift Pythagoras oder Betrachtungen über geheime Welt- und Regierungskunst von dem Kirchenrechtler und Gründer des Illuminatenordens Adam Weishaupt (1748-1830) auf, die im sechsten Stück des periodischen Organs Freymäurer-Bibliothek von 1793 veröffentlicht wurde. Als Grundlage für eine kritische Betrachtung zur Person Adam Weishaupts und der Illuminaten zitiert der Verfasser große Passagen direkt aus Weishaupts Werk ohne entsprechende Kenntlichmachung innerhalb der
Rezension, so auch Weishaupts eigene Zusammenfassung seiner Darlegungen zu geheimen Gesellschaften und ihren Religionszwecken:
„Von Religionszwecken, welche durch geheime Gesellschaften zum Objekt ihrer Verbindung gewählt werden könnten, führt der Verfasser folgende an: 1) die Landesreligion aufrecht zu erhalten, und gegen Angriffe zu vertheidigen. 2) Sie von Mißbräuchen zu läutern. 3) Die Religion des Landes zu verändern, Proselytismus. 4) Ein neues Religionssystem geltend zu machen. 5) Die politische Religion durch die natürliche zu verdrängen. 6) Denk- und Gewissensfreiheit zu begünstigen, allen religiösen Zwang zu verbannen und unwirksam zu machen."[2]
Ähnlich wie bereits bei den zuvor betrachteten Autoren wird der Begriff Politische Religion in diesem Quellenbeispiel zur Kritik an Offenbarungsreligionen bzw. deren weltlicher Manifestation etwa in Form von Kirche und Priester herangezogen, die sich mit der politischen bzw.
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[1] Ebd.
[2] [Anon.]: Rez. Pythagoras oder Betrachtungen über geheime Welt- und Regierungskunst, von Adam Weishaupt, in: Freymäurer-Bibliothek 6 (1793), S. 79-97, hier S. 90.
staatlichen Herrschaftsebene zusammenschließen und Religion als Machtinstrument auf weltlicher Ebene missbrauchen. Die Politische Religion steht in einem Antagonismus zur natürlichen Religion, zur Vernunftreligion, sinnbildlich für jene Religionssysteme, derer sich die Politik, die Staatsmacht bediene, um sich die Bevölkerung untertan zu machen. Gemeint sind hier in erster Linie jene Offenbarungsreligionen, die sich in die Politik einmischen und derer sich im Gegenzug auch die Politiker und Staatsmänner zum Machtgewinn und -erhalt bedienen.
Ein Blick in die 1790 herausgegebene erste Auflage von Weishaupts Pythagoras enthüllt eine Abweichung bei der Abschrift der betreffenden Textstelle: Anstatt des Begriffs Politische Religion findet sich in Weishaupts Originaltext an der betreffenden Stelle der Ausdruck „positive Religion".[1] Da der Begriff Politische Religion in anderen zeitgenössischen Texten zur Polemik synonym für den Begriff positive Religion im Sinne von Offenbarungsreligion genutzt wurde und die intendierte Semantik beider Begriffe sich aus dem unmittelbaren Kontext ergibt, hat dieser Fauxpas kaum Auswirkungen auf den Inhalt und wurde vermutlich von den Lesenden im Sinne des eigentlichen Wortlautes interpretiert. Ausschnitte aus dieser Rezension erschienen ebenfalls 1793 in der Zweyten Lieferung des dreibändigen periodischen Publikationsversuchs Für Böhmen von Böhmen.[2] Der Herausgeber, der Jurist und Historiker Josef Anton von Riegger (1742-1795),[3] übernahm die in der Freymäurer-Bibliothek zitierten Textstellen Weishaupts ungeprüft - oder auch bewusst - und damit auch die fehlerhafte Abschrift der betreffenden Textstelle durch den Verfasser der Rezension in der Freymäurer-Bibliothek.
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[1] Adam Weishaupt: Pythagoras oder Betrachtungen über geheime Welt- und Regierungskunst. Frankfurt, Leipzig 1790, S. 623: „5) Die positive Religion, durch die natürliche zu verdrängen."
[2] [Josef Anton von Riegger]: 9. Etwas über Weishaupt, und den sogenannten Illuminatismus, in: Für Böhmen von Böhmen. Zweyte Lieferung (1793), S. 58-74, hier S. 61. Die Herausgabe der Publikation wurde bereits nach der Veröffentlichung des dritten Bandes vermutlich aufgrund des Mangels an Lesenden wieder eingestellt. Der Herausgeber richtete erst in der dritten Ausgabe einleitende Worte an die Lesenden des Periodikums, das nun Lieferungen für Böhmen von Böhmen genannt wurde, und bat um einen Zuspruch für das Weitererscheinen der Zeitschrift durch ihren Erwerb, da ansonsten die weitere Herausgabe eingestellt werde ([Josef Anton von Riegger]: Vorwort, in: Lieferungen für Böhmen von Böhmen (1793/94), unpag. [S. 1f.].
[3] Der Humanist Riegger gehörte zu den Gründungsmitgliedern der in Wien gegründeten Deutschen Gesellschaft und trat im gleichen Zeitraum in die Wiener Freimaurerloge ein. Als österreichischer Rationalist zählte Riegger (lange Zeit) zu den aufklärerischen Schriftstellern des Josephinismus, eines aufgeklärtes Absolutismus unter dem österreichischen Kaiser Joseph II. Ab 1785 im Gubernium Prag eine Ratsstelle im Bildungsbereich innehabend beschäftigte sich Riegger in seinen Schriften sukzessive intensiver mit der tschechischen Sprache und Kultur, deren Erforschung und Verbreitung er unter anderem durch die Errichtung des ersten Lehrstuhls für Slawistik an der Prager Universität im Jahr 1793 förderte.
Während die zuvor betrachteten Autoren dieses Abschnitts dem Begriff Politische Religion in ihren Werken lediglich an einer einzigen Stelle Platz einräumten oder der Begriff sich gar durch mangelnde Aufmerksamkeit als Abweichung in Abschriften einschlich, widmet sich der Philosoph und Aufklärer Salomon Maimon (1753-1800) in seiner von Karl Philipp Moritz (1756-1793) angeregten und 1792/93 in zwei Teilen herausgegebenen Autobiographie Salomon Maimon's Lebensgeschichte dem Begriff und seiner Abgrenzung zur positiven Religion etwas genauer. Neben seinem biographischen Werdegang gibt Maimon auch seine Grundhaltung zu Themen in verschiedenen Lebensbereichen wieder. Zum besseren Verständnis seiner „Gesinnungen in Ansehung der Religion" schickt er unter anderem im fünfzehnten Kapitel seiner Lebensgeschichte eine „kurze pragmatische Geschichte der jüdischen Religion überhaupt" und seine Definition des Religionsbegriffes samt einer Darstellung zum „Unterschied zwischen natürlicher und positiver Religion"[1] voraus. Unter dem Begriff Religion im weiteren Sinne versteht Maimon einen
„Ausdruck von Empfindungen der Dankbarkeit, Ehrfurcht u.s.w. die aus dem Verhältnis einer oder mehrerer uns unbekannter Mächte zu unserm Wohl und Weh entspringen."[2]
Die Religion als „dem Menschen natürlich"[3] unterstellend fuße sie entweder auf dem Fundament „der Einbildung oder der Vernunft".[4] Die erste Religionsform sei „dem frühern Stande des Menschen" gemäß, während die zweite, auf Vernunft basierende Religion „dem Stande seiner Vollkommenheit"[5] entspreche. Da die positive Religion die Ursachen analog den verschiedenen Wirkungen betrachte und ihnen entsprechende Eigenschaften zuschreibe, müsse man im Umkehrschluss die Ursachen voneinander unterscheiden. Folglich verkörpere die positive Religion „die Mutter der Vielgötterey oder des Heidenthums"[6], demgegenüber die natürliche Religion „die Basis der wahren Religion"[7] sei, da sie die Eigenschaften der Ursachen gewisser Wirkungen nicht zu bestimmen versuche.
Die Unterscheidung zwischen einer positiven und einer natürlichen Religion betrach- tend[8] verweist Maimon auf die Notwendigkeit, „eine positive Religion von einer politischen Religion" zu unterscheiden. Im Gegensatz zur positiven Religion, die „bloß Berichtigung und genaue Bestimmung der Erkenntniß, d. h. Belehrung in Ansehung der ersten Ursache zum Zweck" habe, verfolge die Politische Religion „hauptsächlich bürgerliche Glückseligkeit"[9]
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[1]Salomon Maimon: Salomon Maimon's Lebensgeschichte. Von ihm selbst geschrieben und herausgegeben von K. P. Moritz. In zwei Theilen. Berlin 1792, S. 150 [Hervorhebungen im Original].
[2]Ebd.
[3]„Sieht man bloß auf den Ausdruck dieser Empfindungen überhaupt, ohne auf die besondere Art dieses Ausdrucks Rücksicht zu nehmen, so ist allerdings die Religion dem Menschen natürlich" (Ebd., S. 150f. [Hervorhebungen im Original]).
[4]„Dieser Ausdruck kann von zweyerley Art seyn, entweder der Einbildung oder der Vernunft gemäß. Denn entweder stellet man sich die Ursachen den Wirkungen analogisch vor, und legt ihnen an sich solche Eigenschaften bey, die sich durch ihre Wirkungen offenbaren, oder man denkt sie bloß als Ursachen gewisser Wirkungen, ohne dadurch ihre Eigenschaften an sich bestimmen zu wollen" (Ebd., S. 151 [Hervorhebungen im Original]).
[5]Ebd. [Hervorhebungen im Original].
[6]Mit dieser Feststellung schließt Maimon nicht aus, dass auch monotheistische Glaubenskonzepte als positive Religion kategorisiert werden können.
[7]Ebd., S. 152 [Hervorhebungen im Original].
[8]„Die positive Religion wird von der natürlichen auf eben die Art als die positiven bürgerlichen Gesetze von den natürlichen unterschieden. Diese sind die auf einer von selbst erlangten, auf undeutlicher Erkenntniß beruhenden, in Ansehung ihres Gebrauchs nicht gehörig bestimmten; jene aber die auf einer von andern erhaltenen deutlichen Erkenntniß, in Ansehung ihres Gebrauchs völlig bestimmten Gesetze" (ebd., S. 155 [Hervorhebungen im Original]).
[9] „Man muß aber einer positive Religion von einer politischen Religion sorgfältig unterscheiden. Jene hat bloß Berichtigung und genaue Bestimmung der Erkenntniß, d. h. Belehrung in Ansehung der ersten Ursache, zum Zweck, und die Erkenntniß wird einem andern, nach Maßgabe seiner Fähigkeit so mitgetheilt, wie man sie selbst erhalten hat. Diese aber hat hauptsächlich bürgerliche Glückseligkeit zum Zweck" (ebd. [Hervorhebungen im Original]).
und verbreite Erkenntnis „nur in so fern man sie zu diesem Zwecke dienlich findet".[1] Entsprechend sei „jede politische Religion [...] zugleich positiv, nicht aber jede positive auch po- litisch."[2] Die Politische Religion Maimons ist somit als eine Erscheinungsform positiver Religion zu definieren, ohne gleichzeitig ein wesensbestimmendes Merkmal der positiven Religion selbst zu sein.
Weiter argumentiert Maimon, dass „die natürliche als die bloß positive Religion" keine Geheimnisse haben, da in beiden Religionsformen die erlangte Erkenntnis bewusst ohne Auslassungen weitergetragen werde. Demzufolge könne:
„nur die politische Religion [...] Geheimnisse haben, um dadurch auf eine indirekte Art die Menschen zur Erreichung des politischen Zweckes zu leiten, indem man sie glauben macht, daß sie dadurch ihre Privatzwecke am besten erreichen können, obschon es in der That nicht immer der Fall ist."[3]
Indem die Politische Religion ihren Anhängern den Zugang zur Erkenntnis auf den für ihre politischen Zwecke dienlichen Umfang reduziere, produziere sie Geheimnisse zur Lenkung der Menschen im Sinne ihrer politischen Ziele. Die durch diesen reglementierten Erkenntniszugang erwachsenen Geheimnisse unterteilt Maimon in
„kleine und große Mysterien der politischen Religion. Jene bestehn in der materiellen Erkenntniß aller besondern Operationen und ihres Zusammenhangs unter einander. Diese hingegen in der Erkenntniß des Formellen oder des Zweckes, wo durch jene bestimmt werden. Jene machen den Inbegriff der Religionsgesetze aus, diese aber enthalten den Geist der Gesetze."[4]
Im weiteren Verlauf dieser Darstellung ordnet Maimon die jüdische Religion in seine Systematik der verschiedenen Religionsformen ein und bedient sich zur Hilfestellung einer Gegenüberstellung mit polytheistischen Religionskonzepten. So sei
„die jüdische dadurch von der heidnischen [Religion; Anm. Verf.in] unterschieden, daß sie keine bloß politische d. h. [sic] eine solche Religion die [sic] das gesellschaftliche Interesse (im Gegensatz der wahren Erkenntniß und dem Privatinteresse) zum Zweck hat; sondern nach dem Geiste ihres Urhebers, der theokratischen Regierungsform der Nation angemessen ist, die auf dem Grundsatz beruht, daß nur die wahre auf Vernunfterkenntniß beruhende Religion sowohl mit dem bürgerlichen als Privatinteresse übereinstimmen kann."[5]
An dieser Stelle wird die Semantik des Begriffs Politische Religion bei Maimon noch ein letztes Mal hervorgehoben, bevor der Verfasser von dem Begriff ablässt und ihn auf den restlichen Seiten seines autobiographischen Werkes nicht mehr verwendet. Der Begriff Politische Religion wird von Maimon als eine bestimmte Ausdrucksform der positiven Religion interpretiert, die das „gesellschaftliche Interesse [.] zum Zweck hat", d. h. allein auf diesseitige, staats- bzw. gesellschaftspolitische Ziele fokussiert ist. Transzendente Elemente von Religion treten in den Hintergrund oder werden vollständig verdrängt. Die dem Begriff anhaftende Kritik und damit
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[1] Ebd., S. 156.
[2] Ebd.
[3] Ebd., S. 156f. [Hervorhebungen im Original].
[4] Ebd., S. 157 [Hervorhebungen im Original].
[5] Ebd., S. 158 [Hervorhebungen im Original].
negative Konnotation tritt unverkennbar nach außen.
Neben diesen deutschsprachigen Kontextualisierungen finden sich gleichfalls Verwendungen des Begriffs religion politique in französischsprachigen Beiträgen zum siecle des lumieres. Ein französische Quellenbeispiel entspringt einem Reisebericht des Publizisten und späteren Girondisten Jacques-Pierre Brissot de Warville (1754-1793). Dieser reiste im Namen des Societe des Amis des Noirs, einer in Frankreich gegründeten abolitionistischen Bewegung, im Mai 1788 für vier Monate in die Vereinigten Staaten von Amerika, um sich über die dortige Arbeit der Abolitionisten sowie die Möglichkeiten im Kampf gegen Sklaverei und um die Emanzipation der farbigen Bevölkerung zu informieren. Mittlerweile Präsident der Societe des Amis des Noirs veröffentlichte er 1791 seine dreibändige Nouveau voyage dans les Etats-Unis de l'Amerique septentrionale, worin er in einem kurzen Kapitel von seiner Teilnahme an dem Begräbnis des Quäkers Thomas Holwell im August 1788 berichtet. Überrascht von der Erkenntnis, dass sich das Gebot der Quäker zur schlichten Lebensführung in ihrem Brauchtum fortsetze und den Sitten eines auf die Sinne bezogenen äußeren Gottesdienstes mit Zeremonien wie Kirchengesang, Prozessionen oder Verzierungen gänzlich verzichte, ohne jedoch Mitglieder aufgrund dieser fehlenden Versinnlichungen des Gottesdienstes zu verlieren, greift Brissot den Gedanken einer erfolgreichen Schaffung von „peuple deiste", eines deistischen Volkes auf:
„Un peuple deiste, et se conformant a l'ordre, sera le miracle de la religion politique. Eh! Pourquoi n'existeroitil pas, lorsque les lumieres seront plus universellement repandues, lorsqu'elles auront penetre les derniers rangs de la societe?"[1]
Mit dem Wunder der religion politique bezieht sich Brissot auf einen von ihm zuvor angesprochenen vermeintlichen Grundsatz, der von einer Unabdingbarkeit eines äußeren bzw. sinnlichen Gottesdienstes im Sinne von Liturgien und Zeremonien zur Aufrechterhaltung der gemeinschaftlichen Ordnung ausgeht, was sich die Politik bzw. die politische Ästhetik selbst zu eigen mache, um Menschenmassen zur Ordnung innerhalb der (religiösen) Gemeinschaft und zum Gehorsam gegenüber den (weltlichen) Herrschern anzuleiten. Der Begriff religion politique dient in diesem Beispiel als Bezeichnung für jene Traditionen, deren gemeinschaftsbildende Konzepte und Methoden auf Äußerlichkeiten wie Zeremonien und Liturgien fußen. Diese Offenbarungsreligionen stehen als Negativbeispiel im Gegensatz zu deistischen und vernunftreligiösen Ansätzen der aufklärerischen Bewegung, die dieser massenwirksamen Methoden nicht bedürfen, wenn sich die Idee der Aufklärung vollends ausgebreitet habe. Um diesem Grundsatz eines sinnlichen Gottesdienstes zur Zähmung und Beherrschung der menschlichen Gemeinschaft zu entfliehen und der Etablierung eines deistischen Volkes Vorschub zu leisten, bedürfe es der Verbreitung aufklärerischen Gedankenguts bis in die tiefsten Ecken der Gesellschaft.
Abschließend kann für diesen Abschnitt festgehalten werden, dass der gewissermaßen schon als tradiert zu betrachtende polemische Anstrich des Begriffs Politische Religion auch in der vorrevolutionären Epoche im Kontext der Ideen der Aufklärung gegeben war bzw. als Funktion der Kritik und Abwertung belassen wurde, um in der Auseinandersetzung mit geistigen Gegenstimmen die Inkorrektheit von Argumenten und Irrtümern in einem Begriff bündeln zu können.
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[1] Jacques-Pierre Brissot: Nouveau voyage dans les Etats-Unis de l'Amerique septentrionale, fait en 1788. Tome premier. Paris 1791, S. 292f. In den darauffolgenden Jahren erschienen deutsche Übersetzungen, in denen der Begriff religion politique mit der deutschen Entsprechung Politische Religion übersetzt wurde; zum Beispiel Theophil Friedrich Ehrmann: J. P Brissot's von Warwille Reise durch die vereinigten Staaten von Nord-Amerika im Jahr 1788. Dürkheim an der Haard 1792.
Nur wenige Verfassende bedienten sich mehr als einer Handvoll Worte, um die Beschaffenheit des Begriffs Politische Religion den Lesenden zu verdeutlichen; von einer theoretisch reflektierten Vermittlung der Begriffsbedeutung kann höchstens im Quellenbeispiel Salomon Maimons die Rede sein. Überwiegend wurde die Wesensergründung des Begriffs Politische Religion im Kontext der Ideen der Aufklärung - wie auch in vielen anderen Kontextualisierun- gen - durch fast schon rudimentäre Einschübe des Begriffs ohne nennenswerte Erläuterung der Semantik durch die Autoren erschwert.
Die Verwendung des Begriffs Politische Religion unterlag auch in diesem Verwendungsfeld keiner beruflich- oder herkunftsbedingten Exklusivität, allerdings können gewisse Linien in der Frage der verschiedenen religionsphilosophischen Standpunkte beobachtet werden: So waren es beispielsweise ausschließlich Personen, mit einer befürwortenden Haltung zu aufklärerischen Ideen, die den Begriff Politische Religion zur Umschreibung oder gar Diskreditierung von Offenbarungsreligionen, insbesondere dem institutionalisierten Christentum heranzogen, wohingegen sowohl bei gegnerischen als auch bei befürwortenden Personen des Aufklärungsgedankens die Verwendung des Begriffs Politische Religion als Gegenstück zur Offenbarungsreligion beobachtet werden kann. In Schriften zu Ideen der Aufklärung wurde der Begriff Politische Religion nicht nur religionsphilosophische Streitfragen thematisierend zur Polemisie- rung von beispielsweise althergebrachten Glaubenskonzepten und ihrer Liturgien verwendet. In einigen Quellenbeispielen wurde der Begriff von seiner dunklen, abwertenden Verfärbung reingewaschen und erhielt einen neuen, strahlenden Anstrich einer Wertfreiheit bis hin zu einer positiven Konnotation, was im folgenden Kapitel eingehender untersucht wird.
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