Der Verlust des Gegenstandes?
Eine grundlegende Neuorientierung in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Religionsbegriff erfolgte durch den im Zuge poststrukturalistischer und postkolonialer Debatten popularisierten linguistic turn, der in geistes- und sozialwissenschaftlichen Thematisierungen von Religion bereits in den 1960er Jahren erste Wirkungen entfaltete, die Religionswissenschaft allerdings erst in den 1990er Jahren erfasste.[1] Infolge dieses Paradigmenwechsels wurden besonders in den Sozial- und Geisteswissenschaften kritische Stimmen laut, die überhaupt die Möglichkeit einer angemessenen Definition des Religionsbegriffs als universales
Hyperonym infrage stellten[2] und daraus folgernd sogar eine Überwindung oder konsequente Loslösung vom Religionsbegriff forderten.[3]
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[1] Strausberg: Religionswissenschaft, S. 15f. Der Ausdruck linguistic turn (auch z. B. Linguistische Wende, Wende zur Sprache; 1967 von Gustav Bergmann geprägt) ist ein - oftmals nicht näher erläuterter - Schlüsselbegriff der geistes- und sozialwissenschaftlichen Poststrukturalismus- und Postkolonialismusdebatten, dessen Wurzeln in der Sprachphilosophie Ludwig Wittgensteins und Ferdinand de Saussures liegen. Er bezeichnet die erkenntnistheoretische Wende zur Sprache, d. i. die Einsicht, dass alle (wissenschaftliche) Erkenntnis sprachabhängig ist. Jede Erkenntnis unterliege der Logik der Sprache, womit Sprache sowohl zur notwendigen Voraussetzung des Erkennbaren avanciert als auch die Grenzen der menschlichen Erkenntnismöglichkeiten bildet. Siehe hierzu ausführlich Richard Rorty (Hg.): The Linguistic Turn. Chicago 1967.
[2] So schließt bspw. der Theologe Ulrich Mann die Möglichkeit einer universalen Definition von Religion aus, weil eine Begriffsbestimmung die gesamte Breite des Studienobjektes niemals abdecken könne und stets unvollkommen bleibe: „Es liegt nun im Wesen der Religion, daß sie sich einer Definition im streng formallogischen Sinn entzieht" (zitiert nach Schirrmacher: Hitlers Kriegsreligion, S. 53). Dieser Annahme folgend plädiert ferner unter anderem der Historiker Lucian Hölscher für eine Bestimmung von Gemeinschaften als Religion auf der Grundlage ihres Selbstverständnisses bzw. ihrer Selbstzuschreibung, wonach all jene Gruppierungen als Religion gelten, die sich selbst als solche verstehen und bezeichnen. Es handelt sich hierbei um eine für wissenschaftliche Analysen wie auch den öffentlich-rechtlichen Bereich vieler Staaten nicht geeignete Definition (Ziemann: Sozialgeschichte, S. 27f.).
[3] In der jüngeren religionswissenschaftlichen Forschung lehnt bspw. William E. Arnal eine (inhaltliche) Begriffsbestimmung von Religion ab und plädiert für eine „Dekonstruktion der Kategorie" und die Konzentration wissenschaftlicher Untersuchungen zum Religionsbegriff auf „seine Funktion im populären Diskurs". In Betonung einer Undefinierbarkeit des Religionsbegriffs fordern hingegen die Religionswissenschaftler Wilfried Cantwell Smith und Franz Tenbruck, auf den Begriff zu verzichten oder ihn lediglich als umbrella term zu verwenden (Figl: Einleitung, S. 71f., Zitat S. 70 [Hervorhebung im Original]; Nehring: Welttheologie, S. 45-59; Feil: Religion, Sp. 265). Siehe hierzu auch Pollack: Rückkehr, S. 60f. Der Religionswissenschaftler Michael Strausberg urteilt infolge dieser Resignationsstimmung zum Religionsbegriff, „dass sich die Religionswissenschaft in einer Phase nach dem Verlust ihres Gegenstandes befindet" (Strausberg: Religionswissenschaft, S. 15).
Im Vordergrund der diskursiven Ablehnung bislang erbrachter Definitionsvorschläge und etwaiger Distanzierungsforderungen steht aufgrund seiner etymologischen Wurzeln in der lateinischen Sprache sowie seiner semantischen Entwicklung in einem spezifischen kulturell-historischen Kontext oftmals das Argument eines unverkennbar eurozentristischen Hintergrunds des Begriffs Religion. Diese begriffsgeschichtliche Nähe zu abendländischen Geistes- und Religionskonzepten sowie enge Verbundenheit zur christlichen Theologiegeschichte widerspreche dem Anspruch einer universalen Anwendbarkeit des Religionsbegriffs und erschwere dessen Applikation auf außerhalb dieses spezifischen kultur-historischen Kontexts entstandenen religiösen Konzepte außereuropäischer Kulturen und Gesellschaften.[1] Die diskursive Wende trug allerdings nicht nur zu Kritik und Ablehnung des Religionsbegriffs bei, sondern führte daneben zu einer selbstkritischen Reflexion und bewussten Abgrenzung von einem christlich oder philosophisch-europäisch tradierten Verständnis und Gebrauch des Begriffs in der jüngeren interdisziplinären Religionsforschung.[2] In diesem Zusammenhang wurden verschiedene Lösungsansätze vorgeschlagen, um dem Fremden in eurozentristisch geprägten Begriffen gerecht zu werden und durch die sukzessive Aufnahme außereuropäischer Wissensordnungen eine De-Eurozentrierung (oder generelle De-Ethnozentrierung) sowie folglich eine universelle Anwendungen im globalen Kontext zu ermöglichen.[3]
Es stellt sich die Frage, ob eine Distanzierung von einer begrifflichen Bestimmung oder dem Begriff Religion selbst realisierbar wäre. Etwaig resultierende Konsequenzen sollen im Folgenden nur exemplarisch angesprochen werden: Zum einen ist zur wissenschaftlichen Generalisierung, Systematisierung und Analyse eines Debattengegenstandes die Verwendung eines
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[1] Außereuropäische und nichtchristliche Glaubenskonzepte wie etwa Buddhismus seien erst durch den unreflektierten Gebrauch des Religionsbegriffs zu Religion(en) konstruiert und daraufhin nach christlichen bzw. europäischen Denkmustern beurteilt worden. Derartige künstliche Konstrukte müsse man jedoch erst dekon- struieren, um außereuropäische Kulturen und Gesellschaftssysteme besser verstehen zu können (so z. B. Gregor Ahn: Eurozentrismen als Erkenntnisbarriere in der Religionswissenschaft, in: Zeitschrift für Religionswissenschaft 97.1 [1997], S. 41-58; ders.: Religion I, S. 513-520). Zur Eurozentrismusdebatte siehe Ziemann: Sozialgeschichte, S. 26f.; Rudolph: Inwieweit, S. 131-134; Figl: Einleitung, S. 73f.; Strausberg: Religion, S. 36-38).
[2] Dass der Begriff mittlerweile in vielen anderen Sprachen Eingang gefunden hat, kann als Indiz für einen steigenden ent-europäisierten oder auch de-ethnozentrierten Umgang und als eine Annäherung an eine Wandlung zu einem globalen Oberbegriff gedeutet werden (Rudolph: Inwieweit, S. 137-139; Strausberg: Religion, S. 42f.). Ferner sollte eine eurozentristische Selbstkritik nicht zur Selbstbeschränkung und Aufgabe der eigenen Sprache anregen, weil dies die Kommunikationsfähigkeit in der eigenen Begriffswelt gefährdet, sondern dazu dienen, den eigenen kulturell-historischen Hintergrund selbstkritisch zu reflektieren, um andere Personen als gleichberechtigte Kommunikationspartner wahrzunehmen (Klaus Eberl: Formen der Religion. Über die Beziehungen zwischen Religion und Politik in der europäischen Geschichte. Berlin 2003, S. 2628). Zur Kritik am Eurozentrismus-Vorwurf s. unter anderem die Beiträge von Christoph Kleine, Sven Bret- feld und dem Herausgeber Michael Strausberg in dessen Sammelband Religionswissenschaft.
[3] In diesem Zusammenhang soll auf die Historikerin und Indienforscherin Margrit Pernau verwiesen werden, welche die europäisch geprägten Leitkonzepte Bürger und Bürgertum mittels „Inklusion außereuropäischer Erfahrungswelten [...] von innen zu verändern" sucht, um die Universalisierbarkeit dieser Begriffe, ihre Anwendbarkeit auf außereuropäische Kontexte und damit die Vorstellung vom „Bürger im Turban" zu ermöglichen (Margrit Pernau: Transkulturelle Geschichte und das Problem der universalen Begriffe. Muslimische Bürger im Delhi des 19. Jahrhunderts, in: Birgit Schäbler [Hg.]: Area Studies und die Welt. Weltreligionen und neue Globalgeschichte [= Globalgeschichte und Entwicklungspolitik, 5]. Wien 2007, S. 117-149, Zitat S. 120; siehe hierzu ausführlicher ihre Habilitationsschrift: Margrit Pernau: Bürger im Turban. Muslime in Delhi im 19. Jahrhundert. Göttingen 2008 [in englischer Übersetzung: Ashraf into middle classes. Muslims in Nineteenth-century Delhi. New Delhi 2013]).
klar definierten Kategorienbegriffs notwendig. Doch gerade Argumente eines Eurozentrismus verweisen auf den Mangel an adäquaten bzw. genauen Entsprechungen in europäischen sowie außereuropäischen Sprach- und Kulturbereichen.[1] Ungeachtet dessen würde eine Verständigung auf einen neuen metasprachlichen Kategorienbegriff das Problem einer zu engen Nähe zu einem spezifisch kulturhistorisch geprägten Raum lediglich vom Eurozentrismus zu einem anderen Ethnozentrismus verlagern.[2] Zum anderen hat sich der Begriff mittlerweile in unterschiedlichen wissenschaftlichen Bereichen als Fachterminus und Leitbegriff (zum Beispiel Religionsphilosophie, Religionssoziologie etc.), aber auch im öffentlichen Bereich und im Alltagssprachgebrauch durchgesetzt. Eine Distanzierung von den Bemühungen um eine Begriffsbestimmung oder Abwendung von dem Religionsbegriff wäre nicht nur in der (religions- )wissenschaftliche Forschung, sondern auch im Bereich der öffentlichen Kommunikation mit schwerwiegenden Konsequenzen verbunden. Vor allem im öffentlich-rechtlichen Bereich von Staaten, die Religionsgemeinschaften bestimmte Privilegien zusprechen, wäre die Loslösung von einer Definition oder Verwendung des Religionsbegriffs ohne einen adäquaten Ersatz nicht durchführbar. So ist beispielsweise für das aktuelle deutsche Rechts- oder Administrationssystem eine Definition, d. h. eine Verständigung auf eine begriffliche Bestimmung, von Religion zur Abgrenzung von nicht-religiösen Phänomenen unverzichtbar, da die juristische Anerkennung und behördliche Registrierung einer Gemeinschaft als nicht-staatliche Körperschaft des öffentlichen Rechts[3] mit steuerlichen und gesetzlichen Vorteilen verbunden sind.[4] Eine gesetzlich verankerte Definition des Religionsbegriffs existiert jedoch nicht, da eine abstrakte
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[1] Mögliche Alternativbegriffe wie dharma oder din weisen zwar kleine Schnittmengen, aber auch wesentliche semantische und inhaltliche Differenzen zum Religionsbegriff auf. Zudem dienen diese Begriffe nicht zur Bezeichnung von Glaubenssystemen außerhalb des jeweiligen eigenkulturellen Kontexts, d. h. nicht im Sinne einer kulturunabhängigen, universalen Kategorie (Rudolph: Inwieweit, S. 135-138; Feil: Bestimmungs- und Abgrenzungsproblematik, S. 12-14; Hock: Einführung, S. 12-14; Ahn: Religion I, S. 519; Figl: Einleitung, S. 73f.; für eine eingehende sprachwissenschaftliche Untersuchung des Religionsbegriffs und entsprechender Lexeme in anderen Sprachfamilien siehe Bertram Schmitz: 'Religion' und seine Entsprechungen im interkulturellen Bereich [= Marburger Wissenschaftliche Beiträge, 10]. Marburg 1996). Die Religionswissenschaftlerin Karenina Kollmar-Paulenz widerspricht dieser allgemein verbreiteten Behauptung, ein universaler Religionsbegriff sei nur in Europa entstanden, und zeigt am Beispiel des mongolischen Buddhismus', dass auch in außereuropäischen Kontexten Alternativbegriffe zu finden sind, die sowohl als Eigenbezeichnung dienen, als auch auf außerhalb des eigenen Kulturbereiches liegende Religionen verwendet werden (Karenina Kollmar-Paulenz: Außereuropäische Religionsbegriffe, in: Michael Strausberg [Hg.]: Religionswissenschaft. Berlin, Boston 2012, S. 81-94).
[2] Zur „ethno-zentristischen Falle" siehe Kollmar-Paulenz: Außereuropäische Religionsbegriffe, S. 82f. Ähnlich verhält es sich mit dem Vorschlag, den Religionsbegriff in den Kulturbegriff einfließen zu lassen oder mit der Kategorie Glauben zu ersetzen (etwa bei Ahn: Religion I, S. 519f.; Feil: Bestimmungs- und Abgrenzungsproblematik, S. 12-14, 26f.), womit die Kritik der Anwendung eines eurozentristisch geprägten Begriffs auf außereuropäische Systeme keinesfalls gelöst wird, da auch Kultur ein europäischer Begriff ist (Rudolph: Inwieweit, S. 137; Hock: Transkulturation, S. 439f.).
[3] Diese juristische Klassifizierung von Religionsgesellschaften wurde dem Art. 137 Abs. 5 der Weimarer Verfassung von 1919 entnommen, der in Verbindung mit Art. 140 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland weiterhin gültig ist (Art. 137 Abs. 5 WRV i.V.m. Art. 140 GG). Für eine juristische Betrachtung des Problemfelds Religion siehe Ulrich Rhode: Vorlesung "Religion und Religionsgemeinschaften im staatlichen Recht". Online: www.ulrichrhode.de/lehrv/religionsrecht/skriptum.pdf [letzter Zugriff: 10.01.2023].
[4] Zur Notwendigkeit einer Definition von Religion in gesellschaftlichen, politischen und juristischen Bereichen am Fallbeispiel Scientology siehe Strausberg: Religion, S. 34f.; Feil: Religion, Sp. 278f. Die Frage, ob es sich bei der Church of Scientology per Definition um eine Religion handelt, wird global unterschiedlich beantwortet und steht einerseits in Abhängigkeit zum zugrunde liegenden Religionsbegriff und andererseits zur Frage, ob die bestimmenden Merkmale von Religion durch die Gemeinschaft erfüllt werden. Ein Rückgriff auf den oben angesprochenen Leitgedanken Hölschers - „Religion ist alles, was man dafür hält" -, d. h. das Selbstverständnis von Gruppierungen als konstitutiv für eine Kategorisierung als Religion zu erheben, würde unter Umständen Gemeinschaften dazu verleiten, sich nur zum Schein nach außen per Selbstdefinition als Religion zu präsentieren, um Zugang zu staatlichen Privilegien zu erhalten (zitiert nach Ziemann: Sozialgeschichte, S. 27).
Anerkennung einer Gruppierung als Religion bzw. Religionsgesellschaft durch öffentlichrechtliche Stellen im deutschen Rechtssystem nicht vorgesehen ist. Von Seiten des Staates wird allerdings implizit zum Ausdruck gebracht, welche Gruppierungen er als Religionsgemeinschaft anerkennt, indem er über die Registrierung einer Glaubensgemeinschaft als nicht-staatliche Körperschaft des öffentlichen Rechts und die Gewährung damit einhergehender Privilegien und Rechte entscheidet.[1]
Selbst wenn sich die Religionswissenschaft gänzlich von dem Bedürfnis einer Wesensbestimmung ihres Gegenstandes trennen und den Begriff nur noch im Sinne eines umbrella terms benutzen würde, täte das letztendlich einer allgemeinen Notwendigkeit der Begriffsbestimmung keinen Abbruch. Ein grundsätzlicher Verzicht auf begriffliche Bestimmungen birgt zusätzlich die Gefahr der Übernahme von unreflektierten Bestimmungen und der Steigerung von Abgrenzungsproblemen des Gegenstandbereichs, die „dem unkontrollierten Gebrauch des Religionsbegriffs Tür und Tor öffnen."[2] Ein Verzicht auf den Begriff Religion hätte natürlich entsprechende Auswirkungen auf das Konzept der Politischen Religion, da auch ihm der Leitbegriff entzogen würde. Zurück bliebe eine inhaltslose Begriffshülle, unbrauchbar als heuristisches Werkzeug.
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[1] Trotz fehlender Definition kommen staatlichen Behörden um die Frage, was eine Religionsgemeinschaft ausmacht, nicht herum, um diese als nicht-staatliche Körperschaft des öffentlichen Rechts bestimmen zu können. Im Allgemeinen orientieren sich Juristen hierbei an einer Definition eines Lehrbuchs zur Weimarer Reichsverfassung, demnach eine Religionsgemeinschaft „ein Verband [ist], der die Angehörigen eines und desselben Glaubensbekenntnisses - oder mehrerer verwandter Glaubensbekenntnisse - für ein Gebiet zu allseitiger Erfüllung der durch das gemeinsame Bekenntnis gestellten Aufgaben zusammenfasst" (zitiert nach Rhode: Vorlesung, S. 67).
[2] Pollack: Säkularisierung, S. 30.
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