6.1. Politische Religion und Französische Revolution
In zeitgenössischen Beiträgen zur Französischen Revolution wurden unterschiedliche Begriffe zur Umschreibung der am Ende des 18. Jahrhunderts in Frankreich einsetzenden staatspolitischen Umwälzungsprozesse und neu postulierten politischen Ideen mit Grundsätzen wie Freiheit und Gleichheit verwendet. Dazu gehört u. a. auch der von Jean-Jacques Rousseau (1712-1778) etwa dreißig Jahre zuvor mit einer positiven Konnotation geprägte Begriff Zivilreligion bzw. religion civile.[1] Während dieser und andere Begriffe, die ein ähnliches Stammvokabular in unterschiedlichen Kombinationsvarianten nutzen, von der Forschungsliteratur zur Französischen Revolution eingehend untersucht wurden, ist der ebenfalls in diesem Zusammenhang zu verortende Begriff Politische Religion bislang nur wenig beachtet worden.[2] Das ist bedauerlich, denn wie in den untersuchten Quellen deutlich wird, bot die Französische Revolution einigen Verfassenden neue Anwendungs- und Deutungsfelder für den Begriff, der folglich in verschiedenen Semantiken und mit zum Teil gegensätzlichen sprachlichen Wertungstendenzen verwendet wurde. Eine Untersuchung der Quellen findet in diesem Abschnitt
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[1] Jean-Jacques Rousseau: Du contrat social ou Principes du droit politique, Amsterdam 1762. Rousseau be
schreibt mit Zivilreligion bzw. religion civile ein auf der Trennung von Kirche und Staat sowie auf Vernunft basierendes ethisches Konzept der Gemeinwohlorientierung, das im Gegensatz zu der bislang vorherrschenden (Staats-)Religion - in Frankreich der Katholizismus - den realpolitischen Erfordernissen eines Staates und Gemeinwesens gewachsen sei und gleichzeitig den religiösen Bedürfnissen auf staatspolitischer Ebene gerecht werde. Die legitimatorische Vormachtstellung religiöser Institutionen, wie etwa der römisch-katholischen Kirche, werde von einem Staat mit einer auf sich selbst beruhenden Normativität abgelöst, der losgelöst von einer moralischen Rechtfertigungspflicht gegenüber einer auf transzendentalen Vorstellung basierenden Entität Recht und Sittlichkeit aus sich selbst heraus erzeuge und garantiere. Rousseaus Konzept der Zivilreligion wurde bereits von zeitgenössischen Denkern kritisiert, die eine Weiterentwicklung zu einem despotischen Herrschaftssystem befürchteten. In zeitgenössischen Schriften zur Französischen Revolution wurde der im Zuge der Aufklärung von Rousseau geprägte Begriff in unterschiedlichen sprachlichen Wertungen sowohl positiv wie auch negativ verwendet. Siehe zum Begriff der Zivilreligion bei Rousseau: Sonja Asal: Der politische Tod Gottes. Von Rousseaus Konzept der Zivilreligion zur Entstehung der Politischen Theologie, Dresden 2007. In einem Abschnitt ihrer Untersuchung wendet sich Asal kurz dem Begriff der Politischen Religion in seiner Prägung nach Eric Voegelin zu, indem sie die Zivilreligion als Politische Religion charakterisiert, wenn sich die Zivilreligion zu einem despotischen Herrschaftssystem weiterentwickelt bzw. die Voraussetzungen dafür schafft. Allerdings erwähnt sie keine zeitgenössischen Verwendungen des Begriffs Politische Religion (ebd., S. 133-140).
[2] Es existiert nur eine überschaubare Anzahl von Forschungsbeiträgen, die einige wenige Quellenbelege zur Verwendung des Begriffs Politische Religion im Kontext der Französischen Revolution erwähnen oder gar untersuchen, wobei wohl das bekannteste und vielzitierte Quellenbeispiel von Christoph Martin Wieland (siehe unten) verfasst wurde; vgl. hierzu bspw. Seitschek: Frühe Verwendungen, S. 117-120; Mulsow: Mehrfachkonversionen, S. 132-151; Philippe Burrin: Political Religion. The Relevance of a Concept, in: History and Memory 9.1-2 (1997), S. 321-349.
entsprechend jener verschiedenen konnotativen Färbungen statt, wobei zunächst den wertfreien oder sogar eher positiv gefärbten und im Anschluss daran den negativ gefärbten Verwendungs-beispielen Beachtung geschenkt wird.
Könnte hierbei die Haltung der den Text verfassenden Person zu den postulierten staats-politischen Ideen und damit einhergehenden revolutionären Ereignissen in Frankreich Einfluss auf eine in der Begriffsverwendung mitschwingende sprachliche Wertungsrichtung ausgeübt haben? Dieser Gedanke, dass die Deutungsmöglichkeiten und die Ambivalenz der Konnotation des Begriffs im Rahmen des zeitgenössischen Begriffsverständnisses aus einer Abhängigkeit von der persönlichen Beurteilung und Positionierung zur Französischen Revolution resultieren könnten, wird in der Untersuchung der nachfolgenden Quellenbeispiele im Auge behalten. Die Quellen beziehen sich sowohl direkt auf die Französische Revolution, als auch auf durch die revolutionären Vorgänge in Frankreich entfachten, gesellschaftlichen und staatspolitischen Entwicklungen in anderen Ländern.
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