1.2. 18. Jahrhundert
Erfreute sich der Begriff Politische Religion im Zusammenhang mit einem religiösen In- differentismus in Schriften des 17. Jahrhunderts noch einer großen Beliebtheit, flachte diese Popularität der Begriffsverwendung innerhalb dieser Kontextualisierung bereits im 18. Jahrhundert ab, um schlussendlich im 19. Jahrhundert fast vollständig aus dem Verwendungsspektrum des Begriffs Politische Religion zu verschwinden. Im Gegensatz zum 17. Jahrhundert stellen Texte mit dieser Variante einer Kontextualisierung nicht mehr den Hauptanteil an Quellenbelegen im 18. Jahrhundert dar, sondern werden in ihrer Vormachtstellung von anderen Ver- wendungs- und Verständnisvarianten des Begriffs Politische Religion abgelöst. Altbekannte
Polemiken zum religiösen Indifferentismus wurden zudem in neue Verwendungsfelder eingebettet, wie in diesem Abschnitt verdeutlicht wird. So waren es insbesondere die Naturalisten und Deisten, die dem Vorwurf von Indifferentismus oder gar Atheismus ausgesetzt wurden.[1] Zwei in diesem Kontext für das 18. Jahrhundert recherchierte Fundstellen weisen eine zu Scheffler und von Brandenburg ähnliche Lesart auf, die Politische Religion als jene Glaubenshaltung zu bezeichnen, die in jeder Religion Seligkeit und Seelenheil finde, solange man nur an Gott oder das Christentum - diese Komponente ist variabel - glaube.
Der aus einer katholischen Familie stammende Joseph Anton von Bandel (gest. 1771), ein satirisch-polemischer Schriftsteller des 18. Jahrhunderts, gab unter anderem ab 1750 die periodische Schrift Der stumme Advocat (vermutlich ab 1767: Der stumm-gewesene Advocat) heraus, die laut ihrem erweiterten Titel als Verteidigungsschrift der katholischen Religion angelegt war. Die Ausgabe der zweiten Juniwoche des Jahres 1768 widmet sich in ihrem ersten Abschnitt Die Religion dem evangelisch-lutherischen Prädikanten Philipp Engelbert Adam Schade (1717-1795), der von Bandel bereits in der Überschrift als „Glaubensgegner in diesem Monat"[2] gebrandmarkt wird. Gegenstand des Beitrags ist das von Schade ein Jahr zuvor veröffentlichte Werk Uraltes Lutherthum und ganz neues Pabstthum, worin unter anderem die Aussage enthalten ist, dass sich die Lehre Luthers nicht von der Lehre der Waldenser oder Hussiten unterscheide.[3] Von Bandel widerspricht Schades Behauptung, die letztendlich auf der Annahme beruhe, dass die lutherische Religion gleichsam selig mache wie die waldensische und die hussistische Religion, da die Grundlage aller drei Lehren die christliche Religion bzw. der Glaube an Jesus Christus sei. Nach Bandel handle es sich um die Grundhaltung von „Freygeister[n]", die einem „sehr commoden Glauben" anhängig seien,
„welcher sich nennt: Die politische Religion, wovon die Grundstärke ist und sagt: Man könne in allen Religionen selig werden, wenn man nur an Christum glaube, und an die 12. Artickel der Aposteln."[4]
Die Ähnlichkeit der Wortwahl mit den fast hundert Jahre zuvor von Christian Wilhelm von Brandenburg und Thomas Scheffler veröffentlichten Ausführungen zu deren Interpretationen des Begriffs Politische Religion sind unverkennbar.[5] Auch von Bandels beschränkt seine Verwendung des Begriffs Politische Religion auf einen konfessionellen Indifferentismus, indem er diese von ihm abgelehnte theologische Position mit den Worten beschreibt: Man könne in jeder Religion bzw. christlichen Konfession selig werden, „wenn man nur an Christum glaube".
Mit geringen Abweichungen innerhalb der Semantik verwendete der evangelische Theologe und Pastor in Zeitz, Johann Friedrich Teller (1736-1816), die Bezeichnung Politische Religion 1782 in seiner Kritikschrift Cryptopelagianismus, die er gegen seinen Konfessions- und Amtskollegen, den dänisch-deutschen evangelischen Prediger Jakob Friedrich Feddersen (1736-1788) richtete. Im Besonderen bezieht sich Teller in seiner Schrift auf Feddersens vierbändige Nachrichten von dem Leben und Ende gutgesinnter Menschen (1776-1781), eine Sammlung von
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[1] Siehe hierzu auch die Ausführungen im siebten Kapitel.
[2] Johann Anton von Bandel: § I. Die Religion. Glaubensgegner in diesem Monat, in: Der Stumm-gewesene Advocat in seinem Sonn- u. Feyertagshumor auf die II. Woche im Brachmonat (1768), S. 185.
[3] Philipp Engelbert Adam Schade: Uralten Lutherthum und ganz neues Pabstthum aus der bewährtesten Auc- torum Schriften gezeiget. Erlang, Leipzig 1767, S. 109: „Die Lehre der Waldenser und Hußiten ist keine andere, als die Lehre der Lutheraner, oder: die Lehre der Lutheraner ist keine andere, als die Lehre der Waldenser und Hußiten."
[4] Bandel: § I. Die Religion, S. 186.
[5] Vgl. hierzu die Definition Christian Wilhelm von Brandenburgs in: Speculum Veritatis, S. 504 (siehe oben).
Lebensbildern verschiedener Personen, die als ein Muster zur Nachahmung ihrer „obrigkeitlichen, bürgerlichen und häuslichen Frömmigkeit"[1] dienen soll. Anhand der Titelwahl Tellers ist unschwer zu erkennen, dass er Feddersen „Cryptopelagianismus", also einen verborgenen Pelagianismus vorwirft.[2] Dies begründet Teller am Ende seiner Schrift mit der seiner Meinung nach in Feddersens Nachrichten zwischen den Zeilen verborgenen und abzulehnenden pelagianischen Grundhaltung, dass jeder Mensch als „Gottes Ebenbild" von Grund auf gut geboren werde und, „um ein guter und gutgesinnter Mensch zu seyn"[3], es nicht darauf ankomme, welcher Religion man anhänge. Folglich könne man in jeder Religion Seligmachung und Frömmigkeit im wahren Glauben und Dienst gegenüber Gott erfahren. Da Feddersen seinen Pelagianismus in seinen Nachrichten nicht offen zur Schau trage, sich dieses Rückschlusses aus seinen Ausführung folgend vielleicht nicht einmal bewusst sei, spreche Teller von einem „Cryptopelagianismus". Er setzt seiner wohlwollend formulierten Einschätzung allerdings hinzu, dass Martin Luther anders respektive strenger geurteilt hätte und legt als Zitat in seinem Text gekennzeichnet Luther die folgenden Worte in den Mund:
„Dahin gehen auch Semiepikurer, die der politischen Religion zugethan sind, welche heutiges Tages [sic] mit ihrem Thun fast katholisch werden, deren Summa darinn beruht, wenn einer nur ehrbarlich und ehrlich lebt, ob er gleich in Glaubenssachen nichts weiß, oder bald dieser, bald einer andern Meynung beypflichtet, ja alle Controversen und Streitsachen mit einander verlacht, und für unnütze und Pfaffengezänke hält, so könne er doch selig werden, er möge sich bekennen zu welcher Religion er wolle."[4]
Auch die in Tellers Schrift verbreitete Semantik der Politischen Religion beschreibt die religiös indifferente Haltung, man könne in jeder Religion oder Konfession selig werden bzw. bleiben, solange sie den Glauben an Gott fördere, doch wird der beispielsweise in von Bandels Text auf christliche Konfessionen liegende Fokus gelockert; an die Stelle des Glaubens an Jesus Christus setzt Teller in seiner oben zitierten Kritik das Bekenntnis an einen nicht näher bestimmten Gott - so sei der Glaube an Gott ausreichend für das Seelenheil. Die im textlichen Umfeld unschwer zu erkennende Kritik an diesem pelagianischen Grundsatz, der Politischen Religion, unterstreicht die negative Konnotation des Begriffs und seine Funktion als Polemik in Tellers Text.
Die Verwendung des Begriffs Politische Religion im Sinne eines religiösen Indifferentis- mus kann neben dem deutschsprachigen Raum auch in englischen Publikationen nachgewiesen werden, wie z. B. in der im April 1737 veröffentlichten Ausgabe des britischen Periodikums The
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[1] Jakob Friedrich Feddersen: Nachrichten von dem Leben und Ende gutgesinnter Menschen mit praktischen Anmerkungen. Erste Sammlung. Halle 1776, Vorrede, unpag. [S. 2].
[2] Johann Friedrich Teller: Cryptopelagianismus. Beylage zu Jakob Friedrich Feddersens Herzenskündigers zu Braunschweig Nachrichten von gutgesinnten Menschen an ihn selbst gerichtet. Leipzig 1782. In Anlehnung an den sogenannten Kryptocalvinismus, ein abfälliger Ausdruck insbesondere in orthodox-lutherischen Kreisen im 16. und 17. Jahrhundert für Anhänger des Calvinismus, kreierte Teller die Bezeichnung „Crytopelagi- anismus" zur Polemisierung der theologischen Haltung Feddersens.
[3] Teller: Cryptopelagianismus, S. 109.
[4] Ebd., S. 111. Für dieses Zitat liefert Teller keine Literaturangabe oder Hinweise auf die Quelle, außer dass die Worte aus Luthers Feder stammen sollen. In einem Beitrag mit dem Titel Was ist denn die heutige Toleranz für ein Ding? zog Teller dieses Zitat bereits in einer zwei Jahre zuvor erschienenen Schrift heran, um die theologische Haltung von Feddersen zu kritisieren. Schon hier versäumte er es, den Lesenden eine Quellenangabe zum vermeintlichen Zitat zu geben (D. Johann Friedrich Teller: Anekdoten für Prediger und Priester zur Unterhaltung. Vierter Band. Leipzig 1780, S. 202f.). Eine wörtlich übereinstimmende Textstelle konnte in Luthers gesammelten Werken nicht aufgefunden werden; es könnte sich um eine freie Zitierung Luthers theologischer Ansichten zu dieser spezifischen Religionsfrage handeln, wiedergegeben in Tellers Worten.
London Magazine. In der wöchentlichen Zusammenfassung von Beiträgen aus anderen periodischen Publikationsorganen zitieren die Herausgeber unter dem Titel Political Religion einen ohne Nennung des Autors veröffentlichten Artikel im Common Sense; Or, the Englishman's Journal. Der Originalbeitrag erschien weder mit einer Überschrift noch wird der Begriff political religion vom Verfasser verwendet, so dass die Titelzugabe zweifelsfrei den Herausgebern des London Magazine zuzuschreiben ist.[1] Der unter dem Titel Political Religion zitierte Beitrag thematisiert die religionspolitischen Verhältnisse im Heiligen Römischen Reich, die von einem religiösen Partikularismus geprägt seien, so dass sich einzelne Personen bei Antritt einer neuen Stelle der Frage einer Konversion stellen oder sich zumindest äußerlich den religiösen Begebenheiten der Region anpassen müssten.
„Notwithstanding this, when any fat Benefice becomes vacant, it is a common Thing to see Candidates of both Religions present themselves; and he that has the best Interest, or Pretensions, always carries it, as if he was not laid under any Incapacity on Account of his Religion; and the Reason is, because it is the Custom of the Country to conform."[2]
Darüber hinaus würde man weibliche Nachkommen nicht einer bestimmten Konfession zugehörig erziehen, so dass sie als junge Frauen nach der Eheschließung problemlos die Konfession des Ehemannes annehmen können. Diesen Zeilen liegt der Vorwurf eines reichsweit praktizierten religiösen Indifferentismus zugrunde, insbesondere wenn der Verfasser mit dem Anschein der Beschwichtigung das zur Religion indifferente Verhältnis der Deutschen mit den Worten unterstreicht, „they seldom change their Religion unless they get something by it."[3] Die Entscheidung zur Konversion sei innerhalb der deutschen Bevölkerung demzufolge keine Herzenssache oder Angelegenheit des Glaubens, sondern gründe sich in den überwiegenden Fällen auf weltlich opportunistischen Motiven, wie etwa karrieristische Erwägungen oder finanzielle Vorteile.
Im Gegensatz zu den Quellen des vorangegangenen Kapitel zum Begriff Politische Religion als Polemik im Konfessionskonflikt stammen die überwiegenden Quellenfunde dieses Abschnitts von Verfassenden aus dem katholischen Umfeld, allerdings kann auch in diesem Fall nur mit Vorsicht von der Abbildung eines quantitativen Übergewichts dieser Semantik der Politischen Religion im katholischen Lager gesprochen werden. Dass es sich nicht um einen ausschließlich in Schriften katholisch getaufter Verfassenden genutzten Begriff handelt, zeigt das Quellenbeispiel des evangelischen Theologen Johann Friedrich Teller; Schmidt kann hier nur bedingt genannt werden. Auffällig ist allerdings die Anzahl der hier erwähnten Autoren, die von einer evangelischen zur römisch-katholischen Konfession konvertierten - Brandenburg, Becher und Scheffler. Zudem finden sich in anderen Kapiteln dieser Arbeit weiter Schriften evangelischer Autoren verschiedener Berufsgruppen, deren Verwendung des Begriffs Politische Religion auch in Kontextualisierung zu einem religiösen Indifferentismus hätte betrachtet und diesem Abschnitt zugeordnet werden können. Bereits im 18. Jahrhundert ist ein signifikanter Rückgang an Quellenfunden bezüglich einer Verwendung der Politischen Religion im Sinne von religiösen oder konfessionellen Indifferentismen zu erkennen. Diese im 17. Jahrhundert in
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[1] [Anon.]: [o. T.], in: Common Sense: Or, the Englishman's Journal. Being a Collection of Letters, political, Humorous, and Moral, Saturday April 23rd 1737, S. 89-96; [Anon.]: Political Religion, in: The London Magazine, April 1737, S. 207-209.
[2] [Anon.]: [o. T.], S. 89; [Anon.]: Political Religion, S. 208.
[3]„However, to do them Justice, he says they seldom change their Religion unless they get something by it" ([Anon.]: [o. T.], S. 89; [Anon.]: Political Religion, S. 208).
verschiedenen Sprachräumen sehr populäre Interpretation des Begriffs konnte sich nicht über das 18. Jahrhundert hinaus retten oder gar als vorherrschendes Begriffsverständnis durchsetzen. Im Gegenteil: In dem oben untersuchten Quellenmaterial kann eine Vermischung der Terminologie religiöser Indifferentismus mit der Bezeichnung äußere Religion oder religio externa schon für das 17. Jahrhundert nachgewiesen werden, die im 18. Jahrhundert an Dynamik gewinnt, so dass die Auseinandersetzung um einen religiösen Indifferentismus immer mehr in den Hintergrund tritt und innerhalb der Definitionsansätze des Begriffs Politische Religion als religio externa an Bedeutung verliert, aber nie vollständig verschwindet. Dass diese Ähnlichkeiten zu einer Politischen Religion im Sinne eines religiösen Indifferentismus in den Auseinandersetzungen um die Ebenen der innerlichen und äußerlichen Religion sukzessive Raum fanden, verwundert wenig, wird doch gerade das für die äußere Wirkung übernommene Scheinbekenntnis zum Zwecke persönlicher bzw. weltlicher Vorteile, also ein nach außen gerichteter Akt, kritisiert. Dies wird im folgenden Abschnitt über die Politische Religion im Kontext der Auseinandersetzungen um die innerliche und äußerliche Religion bzw. religio interna und religio externa an den entsprechenden Stellen etwas genauer betrachtet.
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