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6.2. Politische Religion in Retrospektiven zur Französischen Revolution

Obgleich auf quantitativer Ebene die Rechercheergebnisse zum Begriff Politische Religion bzw. anderssprachiger Entsprechungen zur Wende zum 19. Jahrhundert kurzzeitig abnehmen, kann eine Verwendung des Begriffs in Retrospektive auf die Französische Revolution bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts verfolgt werden. Trotzdem die Französische Revolution in schriftlichen Beiträgen der nachrevolutionären Epoche weiterhin ausführlich thematisiert wurde, konnten nur wenige Quellenbelege für eine kontextbezogene Verwendung des Begriffs Politische Religion ermittelt werden.

In seinem Manuscript aus Süd-Deutschland fordert der deutsche Schriftsteller und Mediziner Friedrich Ludwig Lindner (1772-1845) unter dem Pseudonym George Erichson 1820 einen Zusammenschluss der vier deutschen Mittelstaaten Bayern, Sachsen, Hannover und Württemberg zur Schaffung einer dritten deutschen Großmacht als politisches Gegengewicht zu den Großmächten Preußen und Österreich.[1] Innerhalb seiner Argumentation resümiert Lindner über den unübersehbar „lose[n] unzusammenhängende[n] Zustand Deutschlands"[2] zum Zeitpunkt des Ausbruchs der Französischen Revolution und den sich hieraus bietenden Möglichkeiten für die deutschen Länder, die rückblickend ungenutzt blieben:

„Die Regierungen waren ohne Popularität, und dieß zu einer Zeit, wo eine neue politische Religion im Volke Glauben fand."[3]

Die Semantik des Begriffs Politische Religion bei Lindner steht ganz in der Tradition Wielands oder von Gentz' im Sinne einer neuen politischen Lehre, dem Liberalismus. Der Unterschied liegt in der Konnotation des Begriffs Politische Religion, die bei Lindner nicht mehr negativ ausfällt. Dies mag vor allen Dingen an den voneinander divergierenden Zeitpunkten und Perspektiven liegen, an und aus denen die Werke entstanden: Wieland und von Gentz schrieben im Zeitraum der Jakobinischen Terrorherrschaft und kritisierten insbesondere den Fanatismus und den Zwang, mit dem die „neue politische Religion", die neuerliche, sakralisierte politische Idee, in diesen Schreckensjahren betrieben und durchgesetzt wurde. Demgegenüber nimmt Lindner eine rückwärtsgewandte Perspektive mit zeitlichem Abstand zu den mittlerweile historischen Ereignissen der Französischen Revolution ein und zieht in seiner Bewertung dieser Politischen Religion nicht mehr die Art und Weise ihrer Durchsetzung heran, sondern die mit ihr verbundenen politischen Lehren von der Freiheit und Gleichheit der Menschen und ihre Konsequenzen für den bis dato herrschenden französischen Absolutismus, welcher mit der Französischen Revolution erfolgreich durchbrochen wurde. So beklagt Lindner, dass „dieß große welthistorische Ereigniß hätte belehrend für Deutschland seyn können"[4] und kritisiert im gleichen Atemzug, dass man nur die Gräuel gesehen habe, mit denen die Jakobiner gegen die Kritiker und Widersacher ihrer Politischen Religion vorgegangen seien. Denn „trotz dem Mißbrauch ihrer fanatischen Anhänger [...], weckte diese politische Lehre zugleich die edelsten Gefühle der Menschenbrust" und innerhalb der Bevölkerung das Bewusstsein für Menschenwürde und -rechte, die durch „Jahrhunderte des Aberglaubens und der Willkür in den ewigen


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[1]Lindner war ein Unterstützer des württembergischen Königs Wilhelm I., welcher sich in Anlehnung an den Rheinbundgedanken für einen Zusammenschluss der deutschen Mittelstaaten einsetzte, um das Machtvakuum zu füllen, das sich mit dem Zusammenbruch des Heiligen Römischen Reichs deutscher Nation 1806 gebildet hat. Daher ist in der Forschung recht einheitlich anerkannt, dass das Manuscript vermutlich auf Initiative Wilhelms I. entstanden ist (siehe hierzu bspw. Eckhardt: Art. Lindner, Friedrich Ludwig, in: ADB 18 [1883], S. 703f.; Konrad Feilchenfeldt: Art. Lindner, Friedrich Ludwig, in NDB 14 [1985], S. 610f.).
[2]„Der lose unzusammenhängende Zustand Deutschlands mußte bis in seine Tiefe sichtbar werden" (George Erichson [Friedrich Ludwig Lindner]: Manuscript aus Süd-Deutschland. London 21821, S. 60).
[3]Weiter schreibt Lindner über die Errungenschaften dieser „neue[n] politische[n] Religion": „Der neue Glaube beleuchtete schonungslos die bisherige Arbeit des Feudalsystems, die Würde und Macht der Staaten; er erinnerte an den fast vergessenen Zweck der Regierungen, und indem er mit Blitzesschnelle die Einheit unter den Provinzen in Frankreich einführte, gab er dieser Nation eine unüberwindliche Kraft" (ebd., S. 60).
[4]„Dieß große welthistorische Ereigniß hätte belehrend für Deutschland seyn können; aber es wurde nicht verstanden. Man sah nur die Gräuel, die sich im Gefolge des Widerstandes gegen die politische Wiedergeburt der französischen Nation zeigten; man ahnete nicht den Antheil, welchen Vernunft und Recht an Aufstellung der neuen Lehre haben konnten" (ebd., S. 60).

Todesschlag"801 gefallen zu sein schienen. Die positive Konnotation des Begriffs Politische Religion ist angesichts dieser auch im weiteren Textverlauf lobpreisenden Worte Lindners auf die politische Lehre der Jakobiner von Freiheit und Gleichheit kaum überraschend.

In der Lesart Lindners haben weitere Autoren den Begriff Politische Religion bzw. entsprechende anderssprachige Varianten wie religion politique oder political religion genutzt. Als ein weiteres, deutschsprachiges Beispiel soll der österreichische Journalist und Unternehmer Franz Tuvora (1815-1866) erwähnt sein, der erst nach dem Ende der Französischen Revolution geboren wurde und den Begriff in seinen Briefen aus Wien von einem Eingeborenen nutzte. Ähnlich wie Lindner übt Tuvora Kritik an der österreichischen Bevölkerung zu Zeiten der Französischen Revolution und dem mangelnden Elan zum Kampf für Umwälzungen und Reformen im eigenen Land. Auf die erfolglosen Bemühungen der österreichischen Regierung unter Joseph II. zur Kontrolle und Eindämmung der Prostitution rekurrierend verweist Tuvora auf die positiven Veränderungen innerhalb des französischen Volkes, als „ein neuer Glaube auf die Welt gekommen [war]; der half die Gemüther [zu] reinigen und [zu] verklären." Denn auch die französische, insbesondere Pariser Bevölkerung habe in einem unsittlichen Sumpf gelebt, bevor der neue Glaube bis in die untersten Schichten eingedrungen und die „unendliche Masse sittlichen Schmutzes"802 weggeschwemmt habe. Entsprechend fasst Tuvora zusammen:

„Dort kämpft die Unsittlichkeit beharrlich mit der politischen Religion der Freiheit und Gleichheit. Hier aber ist nichts geschehen, was fiel ausrotten mochte, Vieles zugelassen worden, was sie befördern half."803

Auch Tuvora nutzt den Begriff zur Umschreibung des politischen Glaubens der französischen Revolutionierenden an die Grundfesten von Freiheit und Gleichheit, die er in einem positiven Licht erstrahlen lässt, womit er die Jahre der jakobinischen Schreckensherrschaft ausblendet.

Der doch recht wertfreien Lesart des Begriffs Politische Religion bei Lindner oder Tuvora stehen die Reflexionen zur Revolution der Kirche durch den Convent und das Directorium von dem Nationalökonom Carl Thomas Richter (1838-1878) entgegen, die in den ersten Teil seiner 1866 veröffentlichten Neueren Verfassungs-Geschichte der Staaten Europas mit Schwerpunktsetzung auf das Staats- und Gesellschafts-Recht der Französischen Revolution von 1789-1804 Eingang fanden. Einleitend gibt Richter zu bedenken, dass revolutionäre Befreiungskämpfe gegen eine absolutistische Staatsführung stets in einem Zusammenhang mit dem Ruf nach Emanzipation von der „herrschende[n] Kirche" stünden, die „der nothwendige Bundesgenosse der absolutistischen Staatsgewalt"804 sei. Da religiöse Institutionen bei der Legitimierung und Verteidigung der repressiven Politik absolutistischer Staaten behilflich seien, müsse mit einem revolutionären Aufbegehren die Forderung nach „Kirchenreformation" oder „Religionsfreiheit" unweigerlich einhergehen, da sie den „erste[n] Bruch mit der Herrschaft einer Kirche oder der Schützerin des Absolutismus"[1] darstelle. Im weiteren Verlauf projiziert Richter seine grundlegende Erkenntnis auf die repressive Kirchenpolitik der Französischen Revolution, insbesondere betrieben durch den Nationalkonvent, welches die „Kirche in ihrer äusseren Organisation [...] vollständig vernichte[n]" und die Religion zur „Sache des Individuums" erheben wolle, worin der Staat „von jeder Verpflichtung"[2] losgelöst werde. Letztendlich habe man
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[1] Ebd., S. 574: „Und darum erschein bei Revolutionen absoluter Staaten jedesmal das Streben nach einer Kirchenreformation, und unter den geforderten Freiheiten findet die Religionsfreiheit immer zuerst ihren Ausdruck, weil sie der erste Bruch mit der Herrschaft einer Kirche und der Schützerin des Absolutismus ist."
[2] Ebd., S. 576: „Die Kirche in ihrer äusseren Organisation war vollständig vernichtet. Die Religion sollte Sache des Individuums sein, der Staat war vollkommen losgelöst von jeder Verpflichtung, die Religionsfreiheit wurde in Beziehung auf die äussere Organisation der Kirche der Ausdruck der vollständigen Gleichgiltigkeit des Staates."
„Trotz dem Mißbrauch ihrer fanatischen Anhänger, die um nichts besser oder schlimmer waren, als die christ¬lichen Fanatiker, welche in Amerika unschuldige Völker, ganze, Generationen mordeten, weckte diese poli¬tische Lehre zugleich die edelsten Gefühle der Menschenbrust, und brachte den Bürger wieder zum Bewußt- seyn seiner Würde und seiner Rechte, welche Jahrhunderte des Aberglaubens und der Willkühr in den ewigen Todesschlaf gewiegt zu haben schienen" (ebd., S. 60f.).
„Welch' unabsehbare, unendliche Masse sittlichen Schmutzes wurde nicht hinweggeschwemmt von den braunen Fluthen der Revolution!" (Franz Tuvora: Briefe aus Wien von einem Eingeborenen. Bd. 1. Hamburg 1844, S. 147).
Ebd.
Carl Richter: Neuere Verfassungs-Geschichte der Staaten Europas. Erster Theil: Das Staats- und Gesell-schafts-Recht der Französischen Revolution von 1789-1804. Berlin 1866, S. 573f.: „Eine herrschende Kirche ist daher der nothwendige Bundesgenosse der absoluten Staatsgewalt. Das Volk, das die absolute Staatsge¬walt zertrümmert, hat damit auch den Anfang mit der Zerstörung der herrschenden Kirche gemacht."


„den Glauben vernichten [wollen], um die Macht der Kirche im Volke zu zerstören."[1] Im Gegenzug müsse unfraglich „eine neue Religion [ge]schaffen" werden, um den Bruch der Staatsgemeinschaft mit der „herrschende[n] Kirche" für die Bevölkerung leichter gestalten und endgültig vollziehen zu können. Richter liefert sodann Beispiele für Maßnahmen oder vermeintliche Wunschvorstellungen des Nationalkonvents und der Revolutionierenden zur „Herstellung einer politischen Religion"[2] und einer damit einhergehenden reformierten Religionspolitik im neu zu erschaffenden politischen Staatsgefüge Frankreichs. In einer bereits in zeitgenössischen Texten der Französischen Revolution genutzten Lesart resümiert er:




„So unbedeutend diese Verkehrtheit auch gewesen, so trägt sie doch den Charakter, der unter der Conventsherrschaft die Religionsbewegung ausfüllte, den einer rein politischen Religion. Erst unter der Legislative entfaltete sich dieser Geist mit grösserer Macht und gelangte endlich in dem Cultus der Vernunft zum vollendeten Ausdruck. [...] Wie hier im Götzendienst, so ist auch in der Naturreligion, die Robespierre demselben entgegensetzte, derselbe Grundgedanke der leitende Faden. Er findet weiter seinen Ausdruck in der Herstellung einer neuen Zeitordnung, der neuen Festtage und der Art und Weise, wie dieselben gefeiert werden sollten. Der Staat mit seinem Leben sollte mit der Kirche und ihrem Glauben in eins verschmolzen werden. Der Staat selbst sollte auch die Kirche sein. Erst unter dem Directorium machte sich durch die Theophilanthropie eine Reaction gegen diesen Geist geltend, und gerade darin liegt die Bedeutung derselben für die äussere Kirchenordnung."[3]

Der Begriff Politische Religion beschreibt in Richters Beitrag eine von der politischen Ebene initiierte Religion, die als neue Religion, als Ersatzreligion erschaffen werden müsse, um das individuelle und auch gemeinschaftliche Bedürfnis nach einer transzendentalen Sinngebung und einem moralischen Regularium oder Leitkatalog für die Gemeinschaft zu befriedigen. Trotz der Erkenntnis einer Notwendigkeit der Trennung von Kirche und Staat und der Verschiebung von Religion in die individuelle Sphäre werde die Bevölkerung von der alten Religion einzig für den Zweck befreit, um eine neuerliche Religion der Unterdrückung zu stiften, passend zur neuen Staatsform Frankreichs. Als Ausdruck der äußeren Organisation dieser neuen Religion verweist Richter exemplarisch auf die mit dem bis 1805 verwendeten Französischen Revolutionskalender hergestellte neue Zeitrechnung und die Einführung neuer Festtage und Zeremonien. Erst die dem Nationalkonvent folgende Herrschaft des Direktoriums habe in seiner „Reaction gegen die
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[1] Ebd.
[2] Ebd.; hier als Abschnittstitel am Rande vermerkt: „Die Herstellung einer politischen Religion: Der Convent."
[3] Ebd., S. 576f.

politische Religion"[1] mit diesem antikirchlichen Kurs gebrochen und christlichen Institutionen ihr Existenzrecht und einige ihrer alten Freiheiten wieder zugestanden. Doch erst unter Napoleon Bonaparte sei mit dem Konkordat von 1801 der Startschuss für die allmähliche Restauration der Macht- und Einflussbereiche kirchlichen Wirkens gegeben worden.

Richters Begriff von Politische Religion liegt mit der Kritik an der Schaffung einer Religion im Sinne und zu Gunsten der staatspolitischen Herrschaft sowie der damit einhergehenden Sakralisierung diesseitiger Werte unverkennbar eine negative Konnotation zugrunde. Die Ähnlichkeit zu Wielands kritischen Beiträgen als zeitgenössischer Beobachter der Schreckensjahre der Französischen Revolution ist unschwer zu erkennen und könnte durchaus als eine Vorausschau auf Voegelins Politische Religionen gedeutet werden. So wurde der Begriff Politische Religion in diesem Verständnishorizont als Kritik einer Sakralisierung des Diesseits zur Umschreibung totalitärer Herrschaftssysteme des 20. Jahrhunderts sowohl in zeitgenössischen Schriften als auch in rückblickenden Forschungsarbeiten verwendet, um diese politisch-ideologischen Systeme für eine analytische Annäherung greifbarer zu machen.

Die Verbindung zwischen dem Begriff Politische Religion und dem historischen Ereignis der Französischen Revolution kann auch noch in Schriften des 20. Jahrhunderts nachverfolgt werden, zum Beispiel in Fritz Meusels (1881-1917) Dissertation zu Burkes Schriften gegen die französische Revolution (1790-97). Seiner Auseinandersetzung mit Edmund Burke stellt er eine kurze Darstellung des Verhältnisses Englands zur revolutionären Bewegung in Frankreich voran und erinnert an den Zuspruch aus „allen Kulturländern" in den Anfängen der Revolution, um der „Schärfe von Burkes politischem Blick in seinem Kampf gegen die französische Revo- lution"[2] gerecht werden zu können. In diesem einleitenden Abschnitt kommt der Verfasser auf die Rezeption der ersten Jahre der Französischen Revolution innerhalb der englischen Bevölkerung zu sprechen, auf die Gründungen von englischen Vereinigungen nach dem Vorbild der Jakobinerklubs und auf deren erfolgreiche Bemühungen um eine gute Beziehung zur französischen Nationalversammlung im Jahr 1792, in deren Folge unter anderem

„französische Agenten mit Geldsendungen von dort nach England geschickt, um auch hier für die neue politische Religion Propaganda zu machen, deren Segnungen ja allen Völkern zuteil werden sollten."[3]

Im Gegensatz zu den zuvor untersuchten Autoren wie Lindner und Tuvora betrachtet Meusel die politischen Ideen der Französischen Revolution mit einem gewissen Zynismus. Der Begriff Politische Religion hat in dieser angedeutet kritischen Haltung des Verfassers zur französischen Bewegung keinen Anteil, sondern trägt eine relativ wertfreie Ummantelung, indem sich Meusel einer Semantik des Begriffs Politische Religion in der Tradition Lindners bedient, den Glauben an eine unbestimmte politische Idee oder Staatsform beschreibend. Das dem Begriff vorangestellte Adjektiv „neue" untermauert diese Deutung, womit der Verfasser das Vorhandensein anderer Politischer Religionen vor dieser neuen Erscheinung indiziert.

Insgesamt kann in nachrevolutionären Reflexionen und Untersuchungen zur Französischen Revolution von einem semantisch und auch konnotativ recht divergenten Verwendungsfeld
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[1] Ebd., S. 577; hier als Abschnittstitel am Rande vermerkt: „Die Reaction gegen die politische Religion. Das Directorium."
[2] Fritz Meusel: Burkes Schriften gegen die französische Revolution. Diss. Universität Heidelberg. Wittenberg
1904, S. 17.
[3] Ebd., S. 19.

gesprochen werden. Neben dem bereits in zeitgenössischen Schriften genutzten Begriffsverständnis im Sinne einer neu etablierten, diesseitsgewandten Religion, die in allen Bereichen des religiösen und privaten Lebens Eingang zu finden und die tradierten Religionen zu verdrängen versuche, keimte in der Rezeptionsliteratur eine wertfreie bis positive konnotierte Verwendung des Begriffs Politische Religion auf, die der vormals vorherrschenden Vormachtstellung einer negativen Konnotation entgegentrat und im 19. Jahrhundert quantitativ enorm zulegte.

Dennoch setzte sich in einem Großteil nachrevolutionärer Schriften, die sich thematisch mit der Französischen Revolution beschäftigten, das Verständnis des Begriffs Politische Religion im Sinne einer neuen politischen Idee durch, die die Grundfesten von Freiheit und Gleichheit mit allen Mitteln verteidigt. Diese schon in der Erlanger Zeitung und von Wieland genutzte Semantik des Begriffs Politische Religion wurde allerdings durch die Ausblendung von Fanatismus und der jakobinischen Schreckensjahre in der Begriffsverwendung ihrer negativen Konnotation entledigt. Weiterhin ist zu beachten, dass sich der Verwendungsfokus auf die politische Lehre der Jakobiner verschob; die Verwendung des Begriffs Politische Religion bezogen auf royalistische Forderungen konnte in den nach der Französischen Revolution entstandenen Quellen nicht mehr nachgewiesen werden. Eine im Vergleich geringere Anzahl von Personen verwendete den Begriff Politische Religion mit einer auf das Subjekt bezogenen Semantik im Sinne eines politischen Glaubensbekenntnisses, wie sie schon bei Zeitgenossen wie Wilhelm Ludwig Wekhrlin oder Ludwig Haller angetroffen und auch im achten Kapitel exemplarisch untersucht werden konnte. Zusammenfassend betrachtet blieb der Begriff Politische Religion dennoch weiterhin eher ein Randbegriff, dem eine wesentlich geringere Aufmerksamkeit geschenkt wurde als alternativen oder ähnlichen Begriffen wie etwa Rousseaus Zivilreligion bzw. religion civile.