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1.3. 19. Jahrhundert

Ähnlich zur abnehmenden Quantität der Begriffsverwendung von Politische Religion im Sinne eines religiösen Indifferentismus ebbte auch das Interesse an einer Verwendung des Begriffs im Zusammenhang mit den Auseinandersetzungen um die religio externa im beginnenden 19. Jahrhundert ab. Es könnte hier ein Zusammenhang mit den semantischen Verschiebungen des Religionsbegriffs, der bis in die Gegenwart beständig an neuen Deutungsansätzen wächst, und der sukzessive in Vergessenheit geratenen theologischen Differenzierung zwischen einer religio interna und religio externa bestehen.

Mit den Vierzig Büchern vom Staate des deutschen Rechtswissenschaftlers Karl Salomon Zachariä (1769-1843), die zwischen 1820 und 1832 in fünf Bänden herausgegeben wurden, soll dieser thematische Abschnitt zum Abschluss kommen. Im 34. Buch des 1830 veröffentlichten vierten Bandes beschäftigt sich Zachariä vornehmlich mit der Frage um das Verhältnis von Politik und Religion und legt dementsprechend den Fokus unter anderem auf den Religionsbegriff. Unter dem Begriff Religion, versteht Zachariä den Glauben an eine transzendente, die diesseitige Welt lenkende Macht und den Versuch, „die sinnliche und die übersinnliche Welt in

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[1] [Christian August Wichmann]: Art. Caroline (Wilhelmine Dorothea), Königinn von Groß-Britannien, George des Andern Gemahlinn, in: Geschichte berühmter Frauenzimmer. Nach alphabethischer Ordnung aus alten und neuen in- und ausländischen Geschicht-Sammlungen und Wörterbüchern zusammen getragen. Zweyter Theil. Leipzig 1772, S. 29-39.
[1] Ebd., S. 37.
[1] Ebd.
[1] „Sie machte auch einen Unterschied zwischen reeller und politischer Religion; für jene hatte sie jederzeit die größte Ehrerbietung, und ihr mußte, nach ihrem Willen, alles unterworfen seyn; den politischen Theil der Religion aber hielt sie bloß für local oder gelegentlich, und unterwarf sich demselben, oder richtete sich in ihrem Betragen darnach so weit, als dieses Betragen mehr oder weniger unmittelbaren Einfluß auf die Ruhe, Ordnung und Glückseligkeit der Gesellschaft hatte" (ebd.).
[1] Ebd

sich zu einer einzigen zu vereinigen".[1] Dieser Versuch werde auf unterschiedlichem Wege begangen, was die Verschiedenheit von Religionen begründe. Zachariä stellt die Formen Vernunftreligion und Offenbarungsreligion gegenüber und betrachtet ihre ambivalente Wechselbeziehung zwischen Abhängigkeit auf der einen Seite und dem Streit zur Frage des Machtverhältnisses auf der anderen Seite. So könne etwa die Vernunftreligion nur mit Hilfe der Offenbarungsreligion zu einer öffentlichen Religion werden, innerhalb derer der eigene Glaube mit anderen Personen geteilt werden könne.[2] Gleichfalls sei es das Verlangen des Menschen, „zu Gott äusserlich zu sprechen"[3], das die meisten Religionen einen Gottesdienst im Sinne einer äußeren Gestalt der Religion erschaffen lasse. Innerhalb seiner Betrachtung der verschiedenen Ausdrucksformen und Eigenschaften von Religionen teilt Zachariä die unterschiedlichen Religionslehren entsprechend ihren Charakterzügen in verschiedene Kategorien ein. Unter anderem unterscheidet Zachariä zwischen einer „kosmopolitische[n] oder eine[r] weltbürgerli- che[n] Religion", die „unmittelbar nur über das Gebieth des Sittengesetzes" walten, und den „politische[n] Religionen"[4], die jene

„physischen Mächte [feiern], welche über das Schicksal des Menschen gebiethen oder zu ge- biethen scheinen; sie lehren, wie der Mensch den Zorn dieser Mächte zu versöhnen, die Gunst derselben zu gewinnen habe; die machen den Menschen einen Gottesdienst zur Pflicht oder zum Bedürfnisse!"[5]

In der Unterscheidung zwischen einer inneren und äußeren Religion bzw. Vernunftreligion und „öffentlicher Religion" schwingt die Interpretation des Begriffs Politische Religion im Sinne der äußeren Ebene von Religion in Zachariäs Schrift nur noch subtil mit. Die Politische Religion Zachariäs drängt das göttliche Element des Glaubens ins Abseits und fokussiert auf diesseitige Mächte und Gesetze, die im Sinne einer Religion sakralisiert und mit entsprechenden Gottesdiensten geschmückt werden. Der Begriff wird in dieser Schrift nicht synonym mit dem gleichfalls verwendeten Ausdruck „öffentliche Religion" gesetzt, obgleich der semantische Schwerpunkt von Zachariäs Begriff einer Politischen Religion auf dem äußeren Gottesdienst liegt. Politische Religionen stünden in einer unmittelbaren Beziehung zu den Interessen des Staates und seien zur Verwirklichung dieser Interessen dienstbar gemacht worden (zum Beispiel zur Schaffung und Sicherung von gesellschaftlichen Verbänden). Aus diesem Grunde trete die

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[1] Karl Salomo Zachariä: Vierzig Bücher vom Staate. Vierter Band, Zweite Abtheilung. Heidelberg 1830, S. 176.
[2] Ebd., S. 187ff.
[3] Ebd., S. 191: „Denn es verlangt den Menschen zu Gott äusserlich zu sprechen; weil er sich sein Verhältniss zu Gott wie das zu den Gewaltigen dieser Erde denkt, weil es ihn verlangt, auch die Stimme Gottes - in Orakelsprüchen, in Weissagungen, in Verheissungen - zu hören, weil sich ein jedes lebhaftere Gefühl oder Streben aus dem Inneren des Menschen nach Aussen hervordrängt."
[4] Ebd., S. 204f.: „Einige Religionslehren umfassen das gesammte Gebieth des menschlichen Wissens und Denkens, ihre Vorschriften beherrschen die gesammte innere und äussere Welt des Menschen; ihre Herrschaft kennt keine andere Grenzen, als die des Möglichen. (Man kann diese Religionen die pantheistischen nennen.) Andere walten unmittelbar nur über das Gebieth des Sittengesetzes; sie geben der Idee einer moralischen Weltordnung durch den Glauben an ein Wesen, dessen Wille heilig, dessen Werk die Welt ist, Leben und 'gleichsam Anschaulichkeit; sie verwandeln die Gesetze der Pflicht in Gebothe Gottes; der Kultus, den sie von dem Menschen verlangen, ist die Tugend oder ein Tugendmittel. (Mann kann eine Religion dieser Art eine kosmopolitische oder eine weltbürgerliche Religion nennen.)" [Hervorhebungen im Original].
[5] Ebd., S. 205 [Hervorhebungen im Original]: „Wieder andere Religionen feyern die physischen Mächte, welche über das Schicksal des Menschen gebiethen oder zu gebiethen scheinen; sie lehren, wie der Mensch den Zorn dieser Mächte zu versöhnen, die Gunst derselben zu gewinnen habe; sie machen den Menschen einen Gottesdienst zur Pflicht oder zum Bediirfnisse! (Man kann sie politische Religionen nennen.)"

[1] Karl Salomo Zachariä: Vierzig Bücher vom Staate. Vierter Band, Zweite Abtheilung. Heidelberg 1830, S. 176.

[1] Ebd., S. 187ff.
[1] Ebd., S. 191: „Denn es verlangt den Menschen zu Gott äusserlich zu sprechen; weil er sich sein Verhältniss zu Gott wie das zu den Gewaltigen dieser Erde denkt, weil es ihn verlangt, auch die Stimme Gottes - in Orakelsprüchen, in Weissagungen, in Verheissungen - zu hören, weil sich ein jedes lebhaftere Gefühl oder Streben aus dem Inneren des Menschen nach Aussen hervordrängt."

[1] Ebd., S. 204f.: „Einige Religionslehren umfassen das gesammte Gebieth des menschlichen Wissens und Denkens, ihre Vorschriften beherrschen die gesammte innere und äussere Welt des Menschen; ihre Herrschaft kennt keine andere Grenzen, als die des Möglichen. (Man kann diese Religionen die pantheistischen nennen.) Andere walten unmittelbar nur über das Gebieth des Sittengesetzes; sie geben der Idee einer moralischen Weltordnung durch den Glauben an ein Wesen, dessen Wille heilig, dessen Werk die Welt ist, Leben und 'gleichsam Anschaulichkeit; sie verwandeln die Gesetze der Pflicht in Gebothe Gottes; der Kultus, den sie von dem Menschen verlangen, ist die Tugend oder ein Tugendmittel. (Mann kann eine Religion dieser Art eine kosmopolitische oder eine weltbürgerliche Religion nennen.)" [Hervorhebungen im Original].

[1] Ebd., S. 205 [Hervorhebungen im Original]: „Wieder andere Religionen feyern die physischen Mächte, welche über das Schicksal des Menschen gebiethen oder zu gebiethen scheinen; sie lehren, wie der Mensch den Zorn dieser Mächte zu versöhnen, die Gunst derselben zu gewinnen habe; sie machen den Menschen einen Gottesdienst zur Pflicht oder zum Bediirfnisse! (Man kann sie politische Religionen nennen.)"

Politische Religion in den überwiegenden Fällen in Form von Staatsreligionen in Erscheinung.[1] Als ein weiteres Wesensmerkmal Politischer Religion bestimmt Zachariä das ihr inhärente Rechtssystem, das er als „System des ReligionsZwanges " bestimmt, denn die Religion solle ihrem Wesen nach gleichzeitig das Gesetz des Staates sein und bedürfe zur Erreichung dieses Endzweckes „einer äusseren Gewalt."[2] Im Gegensatz zur pantheistischen Religion sei die Politische Religion zur Begründung einer Theokratie tauglich.[3]

Im Rahmen einer Beurteilung aller Religionssysteme gebe es laut Zachariä „nur eine Religion, welcher der Name und die Würde der wahren Religion schlechthin"[4] zugesprochen werden könne: das Christentum. Denn im Gegensatz zum Christentum seien die zwei Monotheismen Judentum und Islam ganz bzw. „wenigstens zu einem grossen Theile oder ihrem Endzwecke nach politischer Art."[5] In Bezug auf das Christentum unterscheidet Zachariä zwischen einer unsichtbaren Kirche im Sinne der durch die Religion vermittelten Glaubenssätze und Moral und einer sichtbaren Kirche in Form der weltlichen Institutionen. Während der Protestantismus „die sichtbare Kirche nur als Erziehungsanstalt für die unsichtbare Kirche" betrachte, behaupte die römische-katholische Kirche ein Abbild der unsichtbaren Religion bzw. mit dieser identisch zu sein. Einigkeit bestehe allerdings in der Auffassung,

„dass das Christenthum [...] nicht eine politische Religion und das Reich Christi nicht von dieser

Welt sey, dass mithin weltliche Angelegenheiten ausserhalb des Gebiethes der Kirche liegen."[6]

Eine Vermischung zwischen den Sphären Politik und Religion wird von Zachariä auch für das Christentum nicht vollständig negiert, doch liege der Unterschied zu den erwähnten Monotheismen in der Schwerpunkt- und Endzwecksetzung religiöser Gesetze. Diese seien im Judentum und Islam vornehmlich dem Staate dienlich; einzig im Christentum stehe der Glauben des Menschen an Gott im Vordergrund und die Religion einzig im Dienst der göttlichen Wahrheit.

Kommt bei allen zuvor betrachteten Autoren die Politische Religion stets auch in Bezug auf das Christentum zur Anwendung, charakterisiert Zachariä ausschließlich nichtchristliche Religionen als Politische Religionen, indem er für christliche Religionen den Wesenszug einer Politischen Religion konsequent negiert. Das Verwendungsfeld der Politischen Religion im Kontext nichtchristlicher Religionen wurde nicht erst von Zachariä eingeführt; die ersten Samen dieses Verwendungsfeldes der Politischen Religion wurden bereits einige Jahrhunderte zuvor in den Boden semantischer Spektren der Politischen Religion gepflanzt.

Zusammenfassend kann auch in diesem Kapitel zwar ein gewisses Übergewicht an Quellen aus protestantischen Kreisen verzeichnet werden, doch spricht diese quantitative Unausgeglichenheit auch in diesem Verständnisfeld nicht für eine exklusive Verwendung durch eine bestimmte konfessionelle Gruppe, durchaus aber von einer vermutlich eher im protestantischen
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[1] Ebd., S. 206.
[2] Ebd., S. 228 [Hervorhebungen im Original]: „Das Rechtssystem der pantheistischen und das der politischen Religionen ist das System des Religionszwanges. Eine Religion der ersteren Art, eine Religion also, deren Vorschriften die gesammten geselligen Verhältnisse der Menschen umfassen, ist oder soll ihrem Wesen nach zugleich das Gesetz des Staates seyn; sie bedarf also, zur Erreichung dieses ihres Zwecks, so wie eine Staatsgesetzgebung, einer äusseren Gewalt."
[3] Ebd., S. 228 [Hervorhebungen im Original]: „Jedoch unterscheiden sich die pantheistischen und die politischen Religionen in der vorliegenden Beziehung darin von einander, dass nur jene zur Begründung einer Theokratie tauglich sind."
[4] Ebd., S. 210 [Hervorhebungen im Original]: „Eine jede Religion stellt den Menschen höher, als er steht. Die christliche Religion stellt den Menschen am höchsten. Darum ist sie die wahre Religion."
[5] Ebd., S. 211.
[6] Ebd., S. 215.

Lager populären Semantik. Ähnlich der Begriffsdeutung der Politischen Religion als religiöser Indifferentismus sank die Popularität der unmittelbaren semantischen Kontextualisierung mit der religio externa im 19. Jahrhundert rapide. Allerdings blieb dieses Narrativ des Begriffs

Politische Religion in gewissem Sinn erhalten bzw. erfuhr eine Weiterentwicklung als Kritik einer Instrumentalisierung äußerer Ausdrucksformen von Religion, wie Zeremonien oder Rituale, für die Etablierung und Festigung weltlicher bzw. politischer Zwecke oder Ideen. Eine derartige Kontextualisierung des Begriffs Politische Religion findet sich beispielsweise in Texten zur Französischen Revolution.[1]

Neben einer konfessionellen Nähe und Ähnlichkeiten auf der Ebene der Begriffsdeutung der hier vorgestellten Autoren soll in dieser Kurzzusammenfassung im Besonderen eine Gemeinsamkeit mehrerer Gelehrter hervorgehoben werden, die in dieser Größenordnung für keine anderen im Rahmen dieser Arbeit recherchierten Quellenfunde herausgearbeitet werden konnte: Die in diesem Kapitel vorgestellten Gelehrten Johann August Eberhard, Georg Friedrich Meier, Siegmund Jakob Baumgarten und Johann Salomon Semler waren an der Universität in Halle tätig und einander als Lehrende (Baumgarten, Semler) oder Studierende (Eberhard, Meier) bekannt. Man könnte in diesem Fall von einem kleinen Netzwerk oder sogar einer Hallenser Tradition zum Begriff Politische Religion sprechen. Zwischen ihren Semantiken des Begriffs Politische Religion lassen sich kleine, nuancierte Abweichungen erkennen, aber auch semantische Weiterentwicklungen zwischen den Autoren. Mit Andreas Riems Rezension zu Semlers Schrift kann diese Linie außerhalb der Universität Halle weiterverfolgt werden. Darüber hinaus können mit Karl Friedrich Bahrdt und Friedrich Schleiermacher weitere Vertreter benannt werden, die gleichfalls den Begriff Politische Religion in ihren Schriften einbauten, allerdings mit einer abweichenden Bedeutung, weswegen sie in einem anderen Kapitel dieser Arbeit Erwähnung finden sollen. Zudem gibt es weitere Autoren wie beispielsweise Christian Thomasius, die sich ebenfalls zum Kreis der Hallenser Gelehrten zählen lassen, jedoch nicht im gleichen Zeitraum und in anderen Fachrichtungen an der Universität zugegen waren.


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[1] Siehe hierzu Kapitel sieben (bspw. Christoph Martin Wieland).