Das Herz des Islam
Der Ausdruck „Herz des Islam“ verweist auf die mystische Tradition des Sufismus. Als der Islam sich im neunten und 10. Jahrhundert immer weiter ausbreitete, erreichte er zunehmend auch die Juristen: Diese fassten die Weisheiten des Koran, des Hadith und der Sunna in den Gesetzen der Scharia zusammen, einem System, das der Gesellschaft eine Struktur geben sollte. Die Gegenreaktion auf diese trocken-juristische Denkweise war der Sufismus, der die Liebe höher einstuft als das Recht. Mit seinen oftmals hemmungslosen Zeremonien, die auch Lieder und Tänze umfassen, ist er in den Augen vieler orthodoxer Muslime verdächtig, er bleibt aber bis heute eine wichtige Kraft innerhalb der islamischen Tradition.
Die Wurzeln des Sufismus reichen ins achte Jahrhundert zurück, als Größe, Macht und weltliche Orientierung des islamischen Reiches zunahmen. Manche Muslime fühlten sich vom Luxus und vom Reichtum der Herrscherelite, die sich mit der Expansion herausgebildet hatte, abgestoßen. Diese Abweichler, die Sufis, hatten die Befürchtung, ihr Glaube könne als „Staatsreligion“ nach außen verlagert werden, und dabei könne Allahs Botschaft an den Propheten und jeden einzelnen Muslim in Vergessenheit geraten. Die Sufis setzten sich für eine einfache Lebensweise ein, bei der alle Muslime gleichberechtigt sein sollten und Unterschiede nicht vom Gesetz verboten, sondern toleriert werden sollten. Die Anhänger der asketischen sufistischen Lebensweise erkannte man an ihrer groben Wollkleidung; nach Ansicht mancher Fachleute stammt sogar der Name von suf, dem arabischen Wort für Wolle.
8. Jahrhundert Entstehung des Sufismus 922 Hinrichtung von Husain ibn Mansur
| Frauen in der sufistischen Tradition Frauen genossen im Sufismus traditionell als Führungspersönlichkeiten und Intellektuelle eine größere Freiheit als in anderen Richtungen des Islam. Rabia al-Adawiyya (717–801) war eine von mehreren Lehrerinnen, die in der Frühzeit des Sufismus die Ansicht vertraten, man solle Allah aus freien Stücken lieben, und nicht weil Regeln und Gesetze den Menschen Angst einjagen. Als sie ein Kind war, soll Mohammed ihrem Vater in einem Traum erschienen sein und sie als Auserwählte benannt haben; aber ihre Heimatstadt Basra wurde von einer Hungersnot heimgesucht, und sie wurde als Sklavin verkauft. Als ihr Besitzer jedoch ihre entrückten Gebete hörte, ließ er sie frei und erklärte, er sei nun ihr Sklave. Den größten Teil ihres Lebens verbrachte sie ohne jeden Besitz in der irakischen Wüste; sie lehnte alle Heiratsanträge ab, lockte aber zahlreiche Schüler an. Diesen brachte sie bei, dass Aufrichtigkeit und Selbstkritik wichtig seien. Manchmal wird sie als Begründerin der sufistischen „Liebesmystik“ bezeichnet, die den Zustand der spirituellen Ekstase mit der Verliebtheit in Gott gleichsetzt. |
Inneres Leben Sufisten haben eine kontemplative, mönchsähnliche Einstellung zum Glauben. Dazu gehört, dass man sich praktisch und/oder mental von den irdischen Angelegenheiten zurückzieht und sich auf die Notwendigkeit konzentriert, Ehrgeiz und Egoismus abzulegen; dadurch, so die Lehre, entdeckt man ein inneres spirituelles Leben, das jeden Gläubigen in die Lage versetzt, sein Herz zu reinigen und eins mit Allah zu werden. Die Sufis sind in „Orden“ mit Meister und Schülern organisiert, wobei der Meister die Führung vor seinem Tod an einen auserwählten Anhänger überträgt. Die meisten Meister nehmen für sich eine Verbindung oder Blutsverwandtschaft mit dem Propheten Mohammed in Anspruch, die häufig über seinen Schwiegersohn Ali verläuft. Eine der größten Sufi-Gruppen, die Naqschibandi, hält sich jedoch für Nachfolger des ersten Kalifen Abu Bakr.
Ali ibn‘ Abi-Talib,
ca. 11. Jahrhundert
1105 Erscheinen der Wiederbelebung der religiösen Wissenschaften 13. bis 16. Jahrhundert Blütezeit des Sufismus
Mevlana von Konya, 1207–1273 ‘
Sufis versammeln sich an Zawiya, Orten der Gelehrsamkeit und Konzentration, wo sie beten und meditieren. Dazu gehören rhythmisches Atmen, Fasten, Nachtwachen und Gesänge, die das Bewusstsein für Gott stärken sollen. Solche Rituale und Praktiken zogen schon bald die Kritik anderer Muslime auf sich. Musik, Dichtung und Tänze zur spirituellen Erbauung oder sogar zum Erreichen eines tranceähnlichen Zustandes zu verwenden, galt als unislamisch. Berichte über Wunder und Magie wurden angegriffen. Als der Sufi-Meister Husain ibn Mansur im Jahr 922 erklärte, ein guter Muslim könne die Haddsch auch im Geiste vollziehen und mit seinem Körper zuhause bleiben, wurde er wegen Gotteslästerung hingerichtet. Aber obwohl die Sufi so viel Misstrauen provozierten, gehörten sie immer zur Hauptrichtung des Islam; ihre Denkweisen und Erkenntnisse werden auch heute noch geschätzt.
| Neo-Sufismus Der Neo-Sufismus, auch er eine islamische Reformbewegung, entstand im 19. Jahrhundert und gedieh insbesondere unter nordafrikanischen Muslimen. Autoritäten wie der Marokkaner Ahmad ibn Idris (1760–1836) wollten die Menschen zu besseren Muslimen machen, aber die traditionelle Lehre war nach ihrer Ansicht zu trocken und vom Alltagsleben in der Region zu weit entfernt. Ibn Idris sprach allen muslimischen Denkern seit dem Propheten die Autorität ab und forderte seine Zuhörer auf, über Leben und Vorbild Mohammeds nachzudenken und zu meditieren, nicht aber über die Traditionen der Vergangenheit. Auf dieser Grundlage sollten sie entscheiden, wie sie in ihrer eigenen Gesellschaft ein moralisches, gerechtes Leben führen konnten. In Libyen ist die Sanusiya- Bewegung, die zum Neo-Sufismus gehört, die vorherrschende Form des Islam, und neo-sufistische Führungsgestalten wie der Algerier Amir Abdel Kader standen im 19. Jahrhundert an vorderster Front im Widerstand gegen die Kolonialmächte. |
Der spirituelle Hintergrund Abu Hamid al-Ghazzali (1058–1111), der manchmal als Thomas von Aquin des Islam bezeichnet wird, war ein islamischer Rechtsgelehrter. Er erlitt 1095 einen Zusammenbruch, den er später so erklärte: Er habe erkannt, dass er zwar viel über Gott wisse, aber Gott selbst nicht kenne. Seine Lösung bestand darin, dass er sich die sufistische Lebensweise zu eigen machte und sie später in seinem Werk Die Wiederbelebung der religiösen Wissenschaften zusammenfasste, dem nach Koran und Hadith am häufigsten zitierten islamischen Buch. Al-Ghazzali wollte inneres und äußeres Leben im Islam vereinbaren und stellte dazu das Gesetz der Scharia in einen ethischen und spirituellen Zusammenhang. Die Leser seines Buches sollten spirituelle Übungen ausführen und unter anderem durch Dhikr (das Singen göttlicher Namen) das Bewusstsein für Gott stärken. Manche Sufis lehnen aber den Gedanken, man könne mystische Erkenntnisse zu Papier bringen, grundsätzlich ab und erklären, dies sei, als wolle man sie nach außen verlagern.
Die Blütezeit Seine Blütezeit erlebte der Sufismus zwischen dem 13. und 16. Jahrhundert, als er zu einer echten Volksbewegung wurde. Viele neue Orden entstanden. Dschalaleddin Rumi, auch Mevlana von Konya genannt, gründete die Gruppe der tanzenden Derwische: Er lehrte, Drehungen des Körpers und Musik könnten den Menschen in himmlische Sphären erheben. Das, so sagte er, sei die reinste Form des Islam, das heißt der Hingabe an Allah. In jüngerer Zeit wurde die sufistische Tradition vielfach unterdrückt. Besonders misstrauisch standen ihr die europäischen Kolonialmächte gegenüber, die muslimische Regionen einnahmen. Ein anderer, der sie – allerdings nicht mit dauerhaftem Erfolg – unterdrückte, war Kemal Atatürk, der Gründer der modernen Türkei im 20. Jahrhundert. Die meisten sunnitischen Herrschereliten unterhalten heute enge Verbindungen zu Orden der Sufi, und die großen sufistischen Tempel in Bagdad, Ajmer (Indien), Sylhet (Bangladesh) und Konya (Türkei) sind nach wie vor Pilgerzentren.
Worum geht es Der Islam hat auch eine mystische Seite
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