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Die Zukunft der Religion

Die lautstarke Vorhersage, die Religion habe nun ihre beste Zeit hinter sich, ist seit dem 19. Jahrhundert immer deutlicher zu vernehmen; sie hat sich aber als verfrüht erwiesen. Selbst wenn man sich nur auf Europa konzentriert, wo die Zahl der Gläubigen zweifellos gesunken ist, ist Gott nicht tot. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts mag sich die Religion im Wandel befinden, aber nichts spricht dafür, dass sie im Sande verläuft. Betrachtet man die ganze Welt, so nimmt die Zahl derer, die nach eigenen Angaben eine religiöse Bindung haben, in Afrika, Asien und Lateinamerika sogar zu.
Negativ betrachtet ist die Zugehörigkeit zu einer Religion nur mit dem Gefühl der Sicherheit zu erklären, die sie angeblich bietet, wenn man sich vor dem eigenen Ende und letztlich dem Ende der Welt fürchtet. Die Anhänger dieser Ansicht sind überzeugt, dass Religion nur deshalb überlebt und gedeiht, weil die Welt ein solches Chaos ist. Wissenschaftler erklären uns, dass der Planet einer Umweltkatastrophe entgegengeht. Die Kluft zwischen armen und reichen Ländern wird trotz aller Bemühungen, sie zu schließen, immer größer. Und trotz aller wissenschaftlichen Bestrebungen verwirrt uns weiterhin die Zufälligkeit des Leides, das uns trifft.
Das gottförmige Vakuum Einer der größten Einwände gegen die organisierte abendländische Religion betraf lange die politische und gesellschaftliche Macht, die sich mit ihr verbindet. Der französische Philosoph Jean-Paul Sartre (1905–1980) verwendete die Formulierung „gottförmiges Vakuum“, um den Platz, den Gott im Bewusstsein der Menschen immer eingenommen habe, zu beschreiben. Dennoch war er der Ansicht, wir müssten Gott ablehnen und das Vakuum leerlassen, weil Religion die persönliche Freiheit verneine. Kurz gesagt, disqualifiziert sie sich
1882 Nietzsche erklärt, Gott sei tot 2006 Die Zahl der Katholiken steigt weltweit auf 1,2 Milliarden
durch ihre Bestrebungen – die oft Hand in Hand mit politischer Macht gehen –, uns ihrem Willen zu unterwerfen. Aber die Ära, in der Kirche

Paul Tillich

Der aus Deutschland stammende amerikanische Theologe und Philosoph Paul Tillich (1886–1965) vertrat die Ansicht, Religion sei für die Menschheit notwendig, weil wir eine tief verwurzelte Angst in uns trügen, die Teil des Menschseins sei und nicht als neurotisch bezeichnet werden sollte. Die Furcht vor Verlust und der Schrecken der Auslöschung, so schrieb er, seien ein natürlicher Teil unseres Alterungsprozesses, der auf Therapien nicht anspreche. Die Vorstellung von einem persönlichen Gott – in der abendländischen Religion eine alte Tradition – lehnte er ebenso ab wie einen Gott, der ständig in das Getriebe des Universums eingreift, wie es sowohl die westlichen als auch die östlichen Traditionen behaupten. Stattdessen lehrte er, man solle auf dem Weg über die Religion einen Gott suchen, der über dem persönlichen Gott stehe. Er behauptete, dies sei ein Teil unseres emotionalen oder intellektuellen Erlebens, weil der „Gott über Gott“ der Ursprung aller Gefühle von Mut, Angst, Hoffnung und Verzweiflung sei.

und Staat gemeinsam und mit Gottes Segen das Leben nach ihrem eigenen Bilde prägten, scheint mit Sicherheit in Europa und zunehmend auch in den Vereinigten Staaten vorüber zu sein. Die christliche Lehre mit ihren von Kirchenführern häufig wütend vorgetragenen Einwänden gegen homosexuelle Beziehungen, Empfängnisverhütung, außerehelichen Sex und vor allem die Abtreibung, für viele Gläubige die Prüfsteine für Moral und Ethik, wurden von der Gesetzgebung und zunehmend auch in der öffentlichen Meinung über den Haufen geworfen.
Fundamentalismus Was bleibt dann, insbesondere im Westen, noch für die Religion? Materielles und Spirituelles, Gott und Mammon überschneiden sich weiterhin, allerdings nicht mehr im gleichen Ausmaß wie früher. Viele Gläubige sehen in einer solchen Entwicklung etwas Positives, eine Gelegenheit für die Religion, den Menschen wieder zu dienen, statt Zwang auf sie auszuüben. Aber bisher ist das nur ein Trend, und sicher gibt es auch Strömungen in die entgegengesetzte Richtung. So gibt es beispielsweise sowohl im Christentum als auch im Islam eine Minderheit, die sich von der modernen Welt, von ihren säkularen Werten und sogar von ihren Freiheiten bedroht, übersehen oder schlecht behandelt fühlt. Solche Menschen greifen zunehmend auf ihre heiligen Schriften zurück, suchen dort Sicherheit und lesen sie immer stärker im wörtlichen Sinn – mit katastrophalen Folgen.

2009 Die Zahl der Muslime steigt weltweit auf 1,57 Milliarden 2033 2000. Todestag Jesu

‚In Zukunft werden wir in unserer Religion
keine Lehre des Übernatürlichen mehr sehen,
sondern ein Selbsterfahrungsexperiment.

Don Cupitt, 1997 ‘
Neue Perspektiven Die wachsende Intoleranz sollte die Aufmerksamkeit nicht von der eigentlichen Geschichte der Religion ablenken, wie sie von der Mehrheit gelebt wird. In jüngerer Zeit haben sich innerhalb der Religionen und zwischen ihnen neue, positive Perspektiven entwickelt. Das bahnbrechende Zweite Vatikanische Konzil der katholischen Kirche, das von 1962 bis 1965 abgehalten wurde, war nach den Worten seines Initiators, Papst Johannes XXIII. bestrebt, „ein Fenster zur Welt“ zu öffnen. Aus dem Dialog zwischen Kirchen und Traditionen erwuchs gegenseitige Toleranz, wo es früher nur Ablehnung, Misstrauen und Feindseligkeit gab. Die Kluft zwischen den vorwiegend östlichen Religionen und denen des Westens wurde mit dem Ende der Kolonialzeit kleiner. Größerer Respekt, mehr Kenntnisse und bessere Kommunikation führten zu einem Austausch von Ideen. Westliche Christen integrieren heute buddhistische Erkenntnisse in ihr spirituelles Leben – und umgekehrt. Gleichzeitig ist der politische Druck, mit dem die Religion ausgelöscht werden sollte, geschwunden. Viele der meist marxistischen Regime, die aus der Religion nur noch ein weiteres Instrument der staatlichen Kontrolle machen wollten, wurden gestürzt oder haben ihren Kurs geändert. Die kommunistischen Behörden Chinas ziehen Konfuzius heute heran, um historische Ereignisse wie die Olympischen Spiele 2008 in Peking zu bewerben. Wenn die Religion in den letzten 100 Jahren überhaupt etwas bewiesen hat, dann dieses: Jeder Versuch, sie mit Gewalt zu beseitigen, sichert ihr das Überleben. Unsere Zeit wird häufig als Ära des religiösen View attachment 2037Extremismus bezeichnet, sie ist aber auch die Epoche der Ökumene und der religionsübergreifenden Initiativen. Über das Erste wird häufiger berichtet als über das Zweite, aber gerade die Entwicklung von Dialog, Toleranz und Verständnis wird die Extremisten letztlich an den Rand drängen. Die Taten islamischer, christlicher und hinduistischer Fundamentalisten, die anderen ihre Ansichten aufzwingen wollen, haben überall da, wo es sie gab, Reaktionen jener Mehrheit ausgelöst, die ihren Glauben zurückerobern und die wahren Prinzipien der Religion wiederherstellen will.

Zahlen

Die Zahl der Anhänger verschiedener Religionen genau anzugeben ist schwierig, weil in jedem Einzelfall andere Definitionen und Berechnungsmethoden angewandt werden. Laut Forschungsergebnissen, die das Pew Forum on Religion and Public Life in Washington 2009 veröffentlichte, beläuft sich die Zahl der Muslime auf der Welt auf schätzungsweise 1,57 Milliarden oder 22,9 Prozent der Weltbevölkerung; 60 Prozent dieser Gruppe leben demnach nicht im traditionellen Kernland des Islam im Nahen Osten und Nordafrika, sondern in Asien. Die Zahlen des Pew Forum lassen darauf schließen, dass die Größe der weltweiten muslimischen Bevölkerung in früheren Umfragen unterschätzt wurde. Fasst man die Ergebnisse dieser früheren Umfragen zusammen, machen Christen 30 bis 33 Prozent der Weltbevölkerung aus, Muslime 18 bis 21 Prozent, Hindus 12 bis 15 Prozent und Buddhisten fünf bis sieben Prozent. Alle anderen Religionen haben einen Anteil von unter einem Prozent.

Die Suche nach Gott Die Suche nach Gott, nach Göttern, nach Erleuchtung, nach Theosis, nach Dharma oder Nirvana setzt sich für Milliarden Menschen auf der ganzen Welt fort. In ihrer überwältigenden Mehrheit gehört die Weltbevölkerung noch heute institutionalisierten Religionen an. Viele andere suchen außerhalb des konventionellen Umfeldes nach Spiritualität, lassen sich dabei aber von den besten religiösen Traditionen leiten. Die Suche kann viele Formen haben und viele Namen annehmen, aber letztlich geht es immer um das Gleiche: Der Einzelne bemüht sich darum, durch religiöse Systeme einen Sinn und Wert in seinem Leben zu finden.
Worum geht es Die Religion ist bei robuster Gesundheit