Sunniten und Schiiten
In allen Religionen gibt es verschiedene Traditionen, Sekten und Gruppen, zwischen denen häufig jahrhundertealte Meinungsverschiedenheiten bestehen. Im Islam kam es 50 Jahre nach dem Tod des Propheten zu einer Spaltung zwischen der Mehrheit, den Sunniten, und der radikalen Minderheit der Schiiten, die von sich behaupteten, sie stünden dem Leben und Vorbild des Propheten näher. Gerade zu der Zeit, als der Islam sich schnell nach Westen und Osten ausbreitete, fand in seinem Zentrum ein grundlegender Bruch statt. Das Erbe dieser Spaltung, die vor 1300 Jahren stattfand, ist bis heute ein Teil der muslimischen Welt.
Als Mohammed 632 starb, gab es zwei potenzielle Nachfolger: seinen Vetter und Schwiegersohn Ali ibn Abi-Talib und den ersten bekehrten Mann Abu Bakr. Wen Mohammed selbst bevorzugte, ist nicht klar. Ali war im Haushalt des Propheten aufgewachsen, hatte dessen Tochter Fatima geheiratet und wurde offenbar von Mohammed auf seiner letzten Haddsch gesalbt. Abu Bakr war der Vater von Mohammeds Ehefrau Aischa und wurde vom Propheten dazu bestimmt, während dessen letzter Krankheit die Gebete zu leiten. Schließlich fiel die Entscheidung, und Abu Bakr wurde zum Kalifen (Führer) ernannt. Als er zwei Jahre später starb, ernannte er seinen eigenen Nachfolger Umar ibn al-Khattab, der zehn Jahre lang Kalif blieb und 638 für die Ausbreitung des Islam nach Jerusalem sorgte. Während dieser Zeit trat das islamische Kalifat in der Region an die Stelle des persischen und byzantinischen Reiches, und mit ihm kam die religiöse Toleranz. Die unterworfenen Völker hatten die Wahl, ob sie den Islam übernehmen und von Steuern befreit werden wollten oder bei ihrem eigenen Glauben blieben und für dieses Privileg bezahlten.
632 Tod des Propheten 638 Jerusalem kommt unter islamische Herrschaft 656 Ali ibn Abi-Talib stellt das Kalifat infrage
Ali ibn Abi-Talib, ca. 11. Jahrhund‘ert
Als Umar von einem christlichen Sklaven ermordet wurde, wählten sechs seiner engsten Berater Uthman ibn Affan, den Ehemann von zwei Töchtern des Propheten, zum nächsten Kalifen. Uthman stand zwölf Jahre an der Spitze des Islam, der sich nun im Westen nach Nordafrika und in östlicher Richtung im Industal sowie nach China ausbreitete. Man warf ihm aber Vetternwirtschaft vor, und er wurde in Ägypten ermordet
Der Kampf um die Führung Jetzt endlich war Alis Augenblick gekommen. Er verlegte den Mittelpunkt des Kalifats nach Kufa im Irak. Dort zog Aischa, die Witwe des Propheten, mit einer Armee gegen ihn zu Felde und behauptete, er sei an Uthmans Tod beteiligt gewesen. Als Aischa 656 in der Kamelschlacht bei Basra geschlagen und für den Rest ihrer Tage nach Mekka geschickt wurde, setzte sich Muawiya, der Gouverneur von Damaskus und ein Verwandter von Uthman, an die Spitze des Kampfes gegen Ali. Die beiden Armeen trafen in der Schlacht von Siffin aufeinander. Muawiyas Soldaten spießten sich Seiten des Koran auf ihre Speerspitzen, aber Ali weigerte sich, den Befehl zum Angriff zu geben, und schließlich gelangte man zu einem Kompromiss. Ali wurde 661 von Extremisten aus seinem eigenen Lager umgebracht; die Nachkommen dieser so genannten Charidschiten, die Bevölkerungsgruppe der Ibaditen mit rund 500.000 Mitgliedern, leben heute in Nordafrika, Oman und Sansibar. Ali hatte zwei Söhne. Diese Enkel des Propheten erklärten, sie würden Muawiya als Kalifen anerkennen, wenn er ihnen jeweils den Titel eines Imam verliehe. Für kurze Zeit herrschte Frieden, und Muawiya, der von Damaskus aus regierte, erwies sich als kompetenter Herrscher. Als er starb, ging das Kalifat an seinen Sohn Yazid über. Alis Söhne wandten sich aber dagegen, dass das Herrscheramt als erblicher Besitz behandelt wurde, und einer von ihnen, Hussein, setzte sich als Anführer der Schiat Ali – der „Partei Alis“ – an die Spitze des Protestes.
661 Ali wird ermordet 680 sunnitische Mehrheit besiegt in der Schlacht die Schiiten 1744 Al-Wahhab schließt einen Pakt mit dem Haus Saud
| Ismailiten Die Ismailiten sind eine Gruppierung der Schiiten; ihre Zahl liegt heute bei rund 17 Millionen. Nach Ansicht der Nizaris, ihrer bei weitem größten Untergruppe, ist ihr Oberhaupt, der 49. Aga Khan, ein unmittelbarer Nachkomme des Propheten. (Andere Schiitengruppen erklären, die Abstammungslinie sei beendet.) Die Ismailiten haben eine eigene, weltabgewandte Spiritualität; Grundlage ist die Suche nach einer verborgenen Bedeutung in den Schriften. In der ersten Hälfte des 10. Jahrhunderts gelang es ihnen aber auch, die Kontrolle über Tunesien und später über Ägypten zu übernehmen. Damals errichteten sie in Kairo ein eigenes Kalifat, das ungefähr 200 Jahre Bestand hatte. Während die schiitische Hauptrichtung die Schriften wörtlich nimmt, vertreten die Ismailiten einen eher mystischen Ansatz. Auch die Drusen im Libanon und in Syrien stehen mit den Ismailiten in Verbindung. |
Die endgültige Spaltung Im Jahr 680 fand am Ufer des Flusses Euphrat die Schlacht von Kerbela statt. Sie endete für die unmittelbaren Nachkommen des Propheten mit einer katastrophalen Niederlage. Hussein wurde ausgehungert, und schließlich wurden er und ein großer Teil seiner Familie umgebracht. Zwei seiner Söhne überlebten allerdings und übernahmen in der schiitischen Bewegung die Rolle von Imamen. Die Schiiten hielten die sunnitische Mehrheit (der Begriff Sunniten bezieht sich auf ihre Loyalität gegenüber der Sunna, den Aussprüchen und Taten des Propheten) für zu weltlich und bevorzugten die religiöse Reinheit Alis und seiner Familie. Für die Schiiten – das heißt für bis zu 20 Prozent der weltweiten muslimischen Bevölkerung – ist die Imam-Hussein-Moschee in Kerbela bis heute ein heiliger Ort, der auf einer Stufe mit Mekka steht und ein Symbol für Märtyrertod und Ungerechtigkeit im menschlichen Leben darstellt. Jedes Jahr am Aschuratag, an dem an die Niederlage Husseins erinnert wird, versammeln sich in der Moschee schiitische Männer, um sich mit Messern zu ritzen und sich mit Ketten auf den eigenen Rücken zu schlagen, womit sie an die Brutalität der Soldaten von Yazid gemahnen.
Hossein Nasr, 1979 ‘
Eine Frage der Führung Die Trennlinien, die durch diese Schlachten der Frühzeit entstanden, prägen den Islam bis heute. Wer soll die Gläubigen
| Wahhabiten Es gab in der Geschichte viele Aufstände gegen die Exzesse der sunnitischen Herrscherelite im Kalifat und später im osmanischen Reich. Ein bekannter Rebell war Muhammad ibn Abd al-Wahhab (1703–1792): Er setzte sich an die Spitze einer anti-intellektuellen, anti-mystischen und gegen das Establishment gerichteten Bewegung, die sich für eine Rückkehr zu Koran und Sunna einsetzte. Beide, so sagte er, seien zeitlos und müssten weder aktualisiert noch in einen Zusammenhang gestellt werden. Er teilte jedoch nicht Mohammeds Toleranz gegenüber anderen Glaubensrichtungen und auch nicht dessen (für das siebte Jahrhundert) fortschrittliche Einstellung gegenüber Frauen. Diese Ansichten zeigen sich in seinen Lehren, die als Wahhabiya bezeichnet werden. Nachdem er 1744 einen Pakt mit dem Herrscherhaus Saud geschlossen hatte, konnte er einen Hort des reinen Glaubens prägen, der bis heute in Form des Staates Saudi-Arabien Bestand hat. Dort ist das Wahhabitentum die beherrschende Form des Islam. |
anführen? Der frömmste Muslim, wie die Charidschiten fordern? Oder ein unmittelbarer Nachkomme des Propheten, wie es die Schiiten verfechten? Oder ein qualifizierter Herrscher, der den vom Propheten angestrebten Frieden und die Einigkeit voranbringt, wie die Sunniten glauben? Die Wunden der Sunniten/Schiiten-Spaltung sind nie geheilt. Neben den historischen gibt es auch andere Unterschiede. Die Schiiten haben ihren eigenen Gebetsruf (dem sie nicht fünf–, sondern dreimal täglich folgen). Sie verehren die Gräber ihrer verstorbenen Imame, darunter auch die Begräbnisstätte Alis im irakischen Nadschaf; dies wiederum ist für die Wahhabiten, die zur sunnitischen Tradition gehören, Ketzerei. Andere Unterschiede beziehen sich eher auf die Lehre. Schiiten legen größeren Wert auf die Hadithe, weil diese ihre Verbindung zum Propheten stärken. Sunniten und Schiiten glauben, dass Allah über alle Taten der Menschen im Voraus Bescheid weiß, aber nach sunnitischer Lehre legt er sie auch fest, was die Schiiten verneinen. Außerdem herrscht in der Hauptrichtung des Schiitentums die Ansicht, dass die Nachkommen des Propheten ausgestorben seien, und deshalb billigt man den heutigen Religionsgelehrten – den Ayatollahs – eine größere Bestimmungsgewalt über islamische Gesetze und Lebensführung zu. Sunniten dagegen greifen stärker auf die meist eher gemäßigte Weisheit früherer Zeiten zurück
Worum geht es Es gibt im Islam viele verschiedene Richtungen
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