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Antisemitismus

Alle Religionen und Gläubigen mussten sich irgendwann einmal in ihrer Geschichte mit Vorurteilen weltlicher Herrscher, anderer Bürger oder der Anhänger anderer Glaubensrichtungen auseinandersetzen. Die Juden erlebten dies aber länger und in extremerer Form als alle anderen. Von den judenfeindlichen Unruhen in Alexandria im dritten Jahrhundert v. u. Z. bis zum Holocaust durch die Nationalsozialisten zwischen 1939 und 1945, bei dem sechs Millionen Juden ums Leben kamen, hat der Schatten des Antisemitismus die jüdische Identität geprägt.
Feindseligkeit gegen Juden gab es schon lange vor der Entstehung des Christentums. Griechen und Römer griffen die unter ihnen lebenden Juden an und warfen ihnen übermäßigen Einfluss, übertriebene finanzielle Macht und seltsame Geheimpraktiken vor – ein Vorgeschmack auf die Vorwürfe, die später im christlichen Europa erhoben wurden. Aber die Abspaltung der christlichen Kirche vom Judentum im ersten Jahrhundert u. Z. hinterließ ein besonderes Erbe von Hass und Misstrauen zwischen den beiden Religionen, das erst 1965 aus dem Weg geräumt wurde: In diesem Jahr sprach der Vatikan die Juden offiziell vom Verbrechen des Gottesmordes frei.
Die Zuflucht des Teufels Die frühen Kirchenführer waren darauf bedacht, sich eindeutig von ihren jüdischen Wurzeln abzugrenzen, und verurteilten deshalb hemmungslos das Judentum. Der heilige Johannes Chrysostomos (ca. 344–407) stellte 387 in einer Reihe von acht Predigten vor der Bevölkerung von Antiochia alle Waffen bereit, die auch von späteren Generationen benutzt wurden: Er bezeichnete die Juden als fleischlich, wollüstig, geizig, verflucht und teuflisch. Sie hätten alle Propheten ermordet, anschließend Christus gekreuzigt, und jetzt beteten sie den Teufel an. Der heilige Hieronymus (ca. 340–420)) nannte die Synagoge „ein Bordell, einen Wohnort des Lasters, die Zuflucht des Teufels, die Festung des Satans, einen Ort zur Verderbnis der Seele, einen Abgrund aller nur vorstellbaren Übel und
3. Jahrhundert v. u. Z. judenfeindliche Ausschreitungen in Alexandria 1. Jahrhundert u. Z. erste „Blutbeschuldigung

‚Der Jude ist der
Fleisch gewordene
Teufel.

William S‘hakespeare, ca. 1596
was man sonst noch will“. Der älteste Bericht über eine von Christen in Brand gesteckte Synagoge stammt aus dem Jahr 338, aus der Stadt Callicnicul am Euphrat. Auf besonders heimtückische Weise wurden die Juden von Christen verteufelt. Man setzte sie ohne Weiteres mit dem Satan selbst gleich, dem Feind Jesu im Neuen Testament. Sie wurden beschuldigt, seine Kennzeichen zu tragen und seine Werke zu tun. Ein beliebter Begriff im christlichen Mittelalter war der des foetor judaicus; er bezeichnete einen fauligen Schwefelgeruch, den Juden angeblich ausdünsteten und der auch ein Zeichen des Teufels war. Ein anderer Vorwurf lautete, die Juden entführten christliche Kinder, um ihr Blut dem Teufel zu opfern. In der christlichen Kunst des Mittelalters wurde der Teufel häufig mit langer Hakennase dargestellt, einem körperlichen Merkmal, das er angeblich mit den Juden gemeinsam hatte.

Die Blutbeschuldigung

Blutbeschuldigungen – falsche Vorwürfe, eine bestimmte (meist religiöse) Gruppe verwende im Rahmen ihrer Rituale das Blut ihrer Opfer – sind seit dem ersten Jahrhundert u. Z. dokumentiert. Damals warf der griechische Chronist Apion den Juden vor, sie hätten während ihrer Zeremonien im Tempel von Jerusalem gefangene Griechen geopfert. Der gleichen Anklage sahen sich die Christen ein Jahrhundert später ausgesetzt, als ihre römischen Verfolger sich die Symbolik von Jesu Leib und Blut im Brot und Wein der Eucharistie zunutze machten: Sie behaupteten, die Mitglieder der neuen Kirche würden während ihrer Gottesdienste Blut trinken. Die erste christliche Blutbeschuldigung gegen Juden gab es 1144: Damals wurden die Juden von Norwich beschuldigt, sie hätten einen Botenjungen gefangen genommen, getötet und geopfert. Die Anklage wurde durch einen Gerichtshof zurückgewiesen, aber die angeklagten Juden mussten vor der wütenden Volksmenge fliehen. Der Junge hieß William von Norwich und wurde von der Kirche später heiliggesprochen.


338 erster Bericht über eine von Christen niedergebrannte Synagoge 1144 Mord an William von Norwich 1939–1945 Holocaust durch die Nationalsozialisten 1965 Der Vatikan spricht die Juden vom Gottesmord frei
Sündenböcke Der angebliche Grund für die Feindseligkeit der Christen gegenüber den Juden war der Gottesmord – die Tötung Jesu. In Wirklichkeit steckten aber oftmals eher pragmatische Gründe dahinter. Im Europa des Mittelalters war die winzige Minderheit der Juden (nicht mehr als 1,5 Millionen Menschen auf dem gesamten Kontinent) in juristischen, medizinischen und Finanzberufen häufig überrepräsentiert. Wegen ihres unverhältnismäßig großen Erfolges wurden sie zum Gegenstand des Neides, und man machte sie zu Sündenböcken. Brauchte ein Herrscher jemanden, den er für Missstände in seinem Reich verantwortlich machen konnte, waren die Juden ein bequemes Ziel. Als die Kaiserin Maria Theresia von Österreich, eine gläubige Christin, im Jahr 1750 zusätzliche Steuereinnahmen brauchte, vertrieb sie die Juden zunächst von ihren weitläufigen Besitzungen in Böhmen und ließ sie dann wieder zurückkehren, wenn sie für dieses Privileg alle zehn Jahre eine Sondersteuer zahlten.

Papst Pius XII. und die Juden

Pius XII. wurde 1939, wenige Monate vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, zum Papst gewählt. Jüdische Historiker werfen ihm Antisemitismus vor, weil er sich entschloss, während der Kriegsjahre zum Holocaust durch die Nationalsozialisten zu schweigen, obwohl er darüber Bescheid wusste. Nach Ansicht der Kritiker war er gegenüber den Gräueltaten der Nazis blind, weil er glaubte, Hitler könne als einziger verhindern, dass ein Kommunismus sowjetischer Prägung ganz Europa eroberte und die Kirche zerstörte.Weiter wird der Vorwurf erhoben, die Diplomaten des Vatikan hätten den Juden keine Visa für die Reise nach Palästina erteilt und ihnen damit die Hilfe bei ihrer Flucht vor der Verfolgung versagt, weil der Papst ein Gegner des jüdischen Heimatstaates war. In der unmittelbaren Nachkriegszeit zeigte Pius, so wurde behauptet, sein wahres Gesicht, indem er zuließ, dass der Vatikan den nationalsozialistischen Kriegsverbrechern als Zwischenstation für die Flucht nach Afrika und Lateinamerika diente. Darauf entgegnen seine Verteidiger, er sei kein Antisemit gewesen, habe über den wahren Schrecken des Holocaust nicht Bescheid gewusst und habe (fälschlich) geglaubt, er müsse einen streng neutralen Standpunkt bewahren, um so die Unabhängigkeit der Kirche zu erhalten und letztlich an einem Friedensabkommen mitwirken zu können. Im Jahr 1999 stimmte der Vatikan der Einsetzung einer gemeinsamen Kommission mit jüdischen Historikern zu, die in seinen Archiven recherchieren und ein vollständigeres Bild der Rolle von Papst Pius zeichnen sollte. Zwei Jahre später legten die jüdischen Mitglieder der Kommission unter Protest ihre Ämter nieder, weil Rom sich weigerte, die Archive gänzlich zu öffnen.


‚Die Verteufelung der Juden durch die Christen
geht unmittelbar auf die jüdische Ablehnung Jesu zurück,
also auf die alte Frage, ob Juden Jesus ermordet haben.
So entstand das Bild von den Juden als Dämonen.

Rabbi Norman Solomon, geb. 1933 ‘
Die Christen waren nicht die Einzigen, die die Juden angriffen. Im 18. Jahrhundert wurden sie von Voltaire und anderen großen Denkern der Aufklärung, die ansonsten in jeder Hinsicht das Gewissen und die Freiheit verteidigten, als habgierig und neidisch verunglimpft und sogar wegen ihrer Sabbatgbebräuche verteufelt. Im 19. Jahrhundert verfassten deutsche Wissenschaftler pseudogelehrte Abhandlungen, mit denen sie die vermeintliche Minderwertigkeit des jüdischen Volkes belegen wollten.
Toleranz im Islam Der Islam stand den Juden traditionell toleranter gegenüber als das Christentum – vielleicht, weil die beiden Religionen trotz ihres gemeinsamen monotheistischen Ansatzes nicht so eng miteinander verwandt sind wie das Juden- und das Christentum. Vom neunten bis zum 19. Jahrhundert genossen die Juden in muslimischen Ländern häufig eine größere Religionsfreiheit als im Einflussgebiet des Christentums; im 11. Jahrhundert kam es jedoch in Spanien, das bis dahin ein Hort der Toleranz und des gegenseitigen Respekts zwischen islamischen Herrschern und jüdischen Untertanen gewesen war, zu Pogromen, und viele Juden mussten sich im christlichen Europa ein neues Exil suchen. Im 20. Jahrhundert nahm die Toleranz gegenüber dem Judentum im Islam teilweise ab, insbesondere nachdem 1948 in einem Gebiet, das zuvor den vorwiegend muslimischen Palästinensern gehört hatte, der Staat Israel gegründet worden war.
Worum geht es Antisemetismus ist das älterste Vorurteil