Heilige Texte
Als die Religionen den Begriff einer Gottheit prägten, als Erklärung für den ansonsten unerklärlichen Wechsel zwischen Freude und Qual im individuellen Leben, destillierten sie aus einer ursprünglich meist mündlichen Überlieferung heilige Texte. Diese bilden für die Gläubigen durch die Geschichte hindurch einen roten Faden der Kontinuität und der zeitlosen Weisheit.
Bei allem Geschriebenen gibt es eine Beziehung zwischen dem Leser und dem Wort auf dem Papier, aber bei den heiligen Texten erreicht diese Beziehung für die Gläubigen eine höhere Ebene. Manche erzählen, ihr heiliges Buch habe sich vor ihnen rein zufällig auf einer Seite geöffnet, die eine eindeutige Antwort genau auf die Notlage enthielt, der sie sich gerade gegenübersahen. Andere beziehen aus der täglichen Lektüre religiöser Texte eine Anleitung für ihr Alltagsleben. Religiöse Texte sind Zeile für Zeile mit Glauben durchtränkt und werden zum praktischen, spirituellen und ethischen Maßstab, zur letzten Autorität für die Beurteilung von Verhaltensweisen. Im Folgenden erörtern wir drei der bekanntesten heiligen Werke; von anderen wird später die Rede sein.
Die Bibel Die Bibel, das heilige Buch der Christen, gliedert sich in zwei große Teile: das Alte und das Neue Testament. Das Alte Testament, das ungefähr zwischen 1200 und 200 v. u. Z. niedergeschrieben wurde, beginnt mit der Erschaffung der Welt. Es enthält auch Prophezeiungen über den Messias, der kommen soll, endet aber vor der Geburt Jesu. Das Neue Testament stammt aus den Jahren 40 bis 160 u.Z. und behandelt das Leben, die Lehren, den Tod und die Auferstehung Jesu; es endet (in den meisten Versionen) mit einem Blick auf das Ende der Welt und das Jüngste Gericht. Allein in den letzten 200 Jahren wurden nach Schätzungen sechs Milliarden Exemplare der Bibel verkauft.
Noch heute halten manche Christen den Bericht über die Erschaffung der Welt im Ersten Buch Mose am Anfang des Alten Testaments wortwörtlich für wahr. Da-
ca. 700 v. u. Z Entstehung der ersten von 13 hinduistischen Upanischaden ca. 586 v. u. Z. Vertreibung der Juden aus Jerusalem
gibt Anlass zur Entstehung der Thora
nach schuf Gott die Erde in sechs Tagen und ruhte am siebten. Andere erkennen an, dass dies den Erkenntnissen der Wissenschaft widerspricht. Überall in der Bibel finden sich zahlreiche widersprüchliche Details und Aussagen, die meisten Christen halten aber an der Überzeugung fest, dass die Bibel trotz solcher Widersprüche eine letzte Wahrheit enthält. Für manche, insbesondere in der protestantischen Tradition, ist sie der oberste Schiedsrichter in religiösen Fragen.
| Sind die Evangelien wahr? Die vier Evangelien („Evangelium“ bedeutet „gute Nachricht“) im Neuen Testament sind für Christen die entscheidenden Quellen, die über das Leben Jesu berichten. Aber keines von ihnen ist ein Bericht aus erster Hand. Sie sind, um das Wort in seiner heute üblichen Bedeutung zu gebrauchen, kein Evangelium – das heißt, sie sind nicht in jeder Hinsicht unfehlbar. Zunächst einmal wurden sie erst Jahrzehnte nach dem Tod Jesu geschrieben; die ältesten heute noch existierenden Manuskripte stammen aus dem dritten Jahrhundert. Außerdem bieten sie oft auffallend unterschiedliche Berichte über Einzelheiten aus dem Leben Jesu. Nach Überzeugung der meisten Christen sind die Evangelien das Ergebnis einer komplizierten Entstehungsgeschichte, die sie zu weit mehr als nur zu einfachen historischen Chroniken machen. Sie sind zum Teil Reportage, zum Teil halten sie auch in schriftlicher Form ältere mündliche Überlieferungen fest, die sich bis in die Zeit zurückerstrecken, als Jesus lebte. Zum Teil sind es Predigten, zum Teil nehmen sie Bezug auf alttestamentarische Prophezeiungen, es finden sich Kommentare zu politischen Ereignissen aus der Zeit ihrer Entstehung, und teilweise sind sie auch Werke der Literatur und der Fantasie.Welchen genauen Anteil diese Elemente jeweils am Ganzen haben, ist heftig umstritten. |
Diarmaid MacCulloch, Professor für Kirchenges‘chichte, Universität Oxford, 2009
ca. 100 v. u. Z. Niederschrift der buddhistischen Schriften ca. 40 u. Z. Paulus schreibt die ersten Abschnitte des Neuen Testaments ca. 635 u. Z. Entstehung des Korans nach Mohammeds Tod
Die Thora Der Begriff Thora bezeichnet sowohl die hebräische Bibel (die sich mit dem Alten Testament überschneidet, aber nicht sein genaues Spiegelbild ist) als auch die Lehren der Rabbiner, die sich in den ersten sechs Jahrhunderten unserer Zeitrechnung entwickelten. Meist meint man damit jedoch die ersten fünf Bücher der Bibel – die „Bücher Mose“ Genesis, Exodus, Levitikus, Numeri und Deuteronomium. Nach dem jüdischen Glauben diktierte Gott Moses die Thora auf dem Berg Sinai, 50 Tage nachdem das Volk der ägyptischen Sklaverei entkommen war – dies kann jedoch nur für bestimmte Abschnitte der fünf Bücher stimmen, die manchmal auch als „Mündliche Thora“ bezeichnet werden. Nach der jüdischen Lehre zeigt die Thora, wie die Menschen nach Gottes Willen leben sollen – dies ist in 613 Geboten festgeschrieben. Darüber hinaus verbindet die fünf Bücher auch, dass sie alle von Gottes Sorge um sein „auserwähltes“ Volk Israel handeln. Die Schriftrolle der Thora ist in einer jüdischen Synagoge der heiligste Gegenstand. Sie wird meist in einer „Lade“ – einem Schrank – aufbewahrt und zum Höhepunkt der Liturgie gezeigt. Dann wird sie feierlich durch die Gemeinde der Gläubigen getragen, und diese zeigen ihre Verehrung, indem sie mit den Fransen ihrer Gebetsschals über die Rolle streichen.
| Buddha und die Schriften Buddha (Siddhartha Gautama) kämpfte während seines ganzen Lebens gegen den Personenkult und bemühte sich darum, die Aufmerksamkeit seiner Jünger von sich selbst abzulenken. Sein Leben, so erklärte er, sei nicht wichtig. Entscheidend sei die von ihm entdeckte Wahrheit, die ihre Wurzeln im tiefsten Geflecht des Daseins habe – Dharma, ein grundlegendes Lebensgesetz, das für Götter, Menschen und Tiere gleichermaßen gelte. Darin unterscheiden sich die buddhistischen Schriften stark von anderen heiligen Büchern: Sie berichten nur sehr wenig über Buddha selbst. Deshalb hatten einige abendländische Gelehrte im 19. Jahrhundert sogar Zweifel daran, dass es ihn überhaupt gab. Die Schriften füllen viele Bände in verschiedenen asiatischen Sprachen, und ihre Authentizität ist Gegenstand umfangreicher wissenschaftlicher Diskussionen. Vermutlich wurden sie erst im ersten Jahrhundert v. u. Z. niedergeschrieben, ungefähr 400 Jahre nach Buddhas Tod. |
Hl.Hieronymus, ca. 410
Der Koran Nach dem muslimischen Glauben wurde der Koran dem Propheten Mohammed im Laufe von 23 Jahren Stück für Stück offenbart. Er enthält, so der Glaube, die genauen Worte Allahs; menschliche Autoren waren also an ihm, anders als bei den heiligen Büchern anderer Glaubensrichtungen, nicht beteiligt. Die Lehren Mohammeds stehen im Hadith, einer Sammlung mündlicher Überlieferungen, die von Worten und Taten des Propheten handeln. Erstmals niedergeschrieben wurde der Koran kurze Zeit nach dem Tod des Propheten im Jahr 632 von Mohammeds Sekretär und Jünger Zaid ibn Thabit. Er besteht aus 114 Kapiteln, die nicht chronologisch geordnet sind. Der Islam verbietet bildliche Darstellungen, aber durch die Schönschrift bzw. Kalligrafie in manchen alten Exemplaren gehören diese zu den größten Kunstschätzen der Welt.
Die Lektüre des Koran ist mit einem genau festgelegten Ritual verbunden. Muslime müssen dazu „ihr Herz vorbereiten“ und sich die Hände waschen. Frauen bedecken in der Regel den Kopf – wie für ein Gebet. Man nimmt eine besondere – disziplinierte und aufmerksame – Sitzhaltung auf dem Fußboden ein, und der Koran liegt auf einem Pult oder Kursi vor dem Leser.
Die Worte des Korans sind zwar unveränderlich, unterschiedliche Übersetzungen und Interpretationen messen ihnen aber voneinander abweichende Bedeutungen bei. In jüngster Zeit versuchten beispielsweise manche Muslime, grausame Gewalttaten mit dem Dschihad, oder Kampf, zu rechtfertigen. Dabei stellen sie den Begriff in einen militärischen Zusammenhang, obwohl Mohammed im Islam nicht als Mann der Gewalt dargestellt wird.
Die Bedeutung all dieser heiligen Bücher geht über den direkten oder indirekten Zusammenhang mit der Gottheit hinaus. Man schreibt ihnen die Macht zu, besser als jeder andere Text die Hoffnungen der Menschheit in sich zu vereinigen und auf einzigartige, greifbare, stärkende Weise unmittelbar zu den Gläubigen zu sprechen.
Worum es geht Religionen vererhen heilige Bücher
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