Luther und seine Nachfolger
Das Wort „Protestant“ wurde 1529 auf dem Reichstag zu Speyer erstmals auf diejenigen angewendet, die die Autorität Roms infrage stellten. Zwölf Jahre zuvor hatte Martin Luther mit seinem Aufbegehren gegen den Papst die Reformation in Gang gesetzt (siehe Kapitel 9). In den nachfolgenden Jahrhunderten bezeichnete der Begriff verschiedene Konfessionen, darunter Lutheraner, Reformierte, Baptisten und Anglikaner. Gemeinsam ist diesen Gruppen, dass das Schwergewicht auf dem individuellen Bibelstudium, einfachen Gottesdiensten und dem Glauben an die Bedeutung der Predigt liegt. Alle diese Aspekte lassen sich auf Luthers ursprüngliche Dispute mit Rom zurückführen.
Dass Luther den Würgegriff der römischen Kirche im westlichen Christentum aufbrechen konnte, lag an mehreren Faktoren. Einer davon war der Aufstieg des europäischen Nationalismus. Die Herrscher und, in geringerem Maße, auch die Völker waren nicht mehr bereit, sich vom Papst und seinem Verbündeten, dem Heiligen Römischen Kaiser, Vorschriften machen zu lassen. Diese politisch-nationalistische Dimension wurde zur ersten Triebkraft für die Ausbreitung von Luthers Ideen – und schließlich auch seiner neuen Kirche – in Deutschland und darüber hinaus, insbesondere in Skandinavien. Dort nahmen die dänische und die schwedische Königsfamilie, die über die gesamte Region herrschten, den neuen Glauben an. Das Wachstum der Lutherischen Kirchen stellte jedoch die Beibehaltung einheitlicher Glaubensüberzeugungen infrage. Zu Beginn unterzeichneten die neuen Kirchen im Jahr 1530 gemeinsam das Augsburger Bekenntnis, und Luther stand zu seinen Lebzeiten im Mittelpunkt all dieser Strömungen, was den Einfluss einzelner Herrscher begrenzte. Seine rechte Hand war Philipp Melanchthon, der zwar nicht Luthers Begabung als Führungspersönlichkeit und Prediger besaß, der entstehenden
1517 Luthers 95 Thesen 1530 Augsburger Bekenntnis
Kirche aber intellektuellen Rückhalt und theologische Ordnung vermittelte. „Ich musste mit Geschmeiß und Teufeln kämpfen, deshalb sind meine Bücher sehr kriegerisch“, schrieb Luther im Vorwort zu einem von Melanchthons Büchern. „Ich bin der derbe Pionier, der den Weg frei machen muss; dann kommt Meister Philipp weich und sanft, sät und bewässert inbrünstig, denn Gott hat ihn reich mit Begabungen gesegnet.“ Nach Luthers Tod im Jahr 1546 kam es zu Meinungsverschiedenheiten und Spaltungen. Diese Phase der Turbulenzen, welche durch die Anstrengungen der katholischen Gegenrevolution noch verstärkt wurden, mündete 1580 in einem Kompromiss: Jetzt unterzeichneten die meisten Lutheraner das Konkordienbuch mit einer eindeutigen Definition ihrer gemeinsamen Glaubensüberzeugungen.
Lutherische Prinzipien Das Konkordienbuch benennt die wichtigsten, dauerhaften Elemente von Luthers Reformvorstellungen. Bemerkenswert ist dabei insbesondere das Prinzip sola scriptura: Die Bibel genießt einen höheren Rang als alle überlieferten oder „von Menschen gemachten“ Lehren der Kirche. Man war sich einig, dass die Bibel unter dem Einfluss des Heiligen Geistes geschrieben worden sei und dass sie – und nicht der Papst – im Christentum die höchste Autorität darstelle. Es war eine von Luthers größten Leistungen, dass er die Bibel aus dem Lateinischen ins Deutsche übersetzte, so dass sie nun leichter zugänglich war. Ein anderes wichtiges Prinzip hieß sola fide und wird manchmal auch „allein durch den Glauben“ genannt: Danach wird ein Mensch durch den Glauben an Gott erlöst und kann dies – anders als die Katholiken glauben – nicht durch gute Taten verdienen oder beeinflussen. Unter den protestantischen Kirchen, die aus der Reformation hervorgingen, ist die lutherische die älteste und die dem Katholizismus ähnlichste. Sie erkennt die Sakramente an – für die meisten Lutheraner sind es allerdings, anders als in der römischen Lehre, nicht sieben, sondern nur zwei –, weist ihnen aber in der Hierarchie
Martin Luther, 1529
1580 Konkordienbuch 1675 Pia Desideria
der Wahrheiten einen Platz unterhalb der Predigt zu. Sie hat Bischöfe und Mönche, und der Gottesdienst ist zwar einfacher, schließt aber auch Musik mit ein (Johann Sebastian Bach komponierte für die Lutherische Kirche).
| Das Konkordienbuch Dieses historische, aus zehn Abschnitten bestehende Dokument ist das weltweit verbindende Element der lutherischen Kirchen. Man verabschiedete es 1580 in Dresden zum 50. Jahrestag des ursprünglichen Augsburger Bekenntnisses, bei dem Luther und seine Anhänger ihre Überzeugungen in einer Reihe von Thesen formuliert hatten. Das Konkordienbuch wurde von Jakob Andreae und Martin Chemnitz zusammengestellt; es war der Versuch, den Zusammenhalt zwischen den Teilen der damals schnell wachsenden Kirche zu festigen. Zu Beginn wird dort festgehalten, dass die lutherische Religion in direkter Linie auf die Prinzipien und Praktiken der frühchristlichen Kirche zurückgehe und dass sie – nicht Rom – die wahre Erbin des Geistes dieser Kirche sei. Wie das Augsburger Bekenntnis selbst, so enthält auch das Konkordienbuch Martin Luthers Großen und Kleinen Katechismus sowie einige seiner anderen Schriften und Predigten. Alle neuen lutherischen Geistlichen müssen sich bedingungslos auf das Konkordienbuch verpflichten. |
Pietistische Lebensweise Im 18. Jahrhundert wurden die die Tradition wahrenden Einstellungen der lutherischen Hauptrichtung zum Anlass einer Opposition von innen. Die pietistische Bewegung forderte eine radikale Abkehr von den Verlockungen der „katholischen“ Religion und ein stärkeres persönliches Engagement, mit dem die Lehren der Bibel im Alltagsleben praktiziert werden sollten. Die Pietisten sollen John Wesley dazu inspiriert haben, die Bewegung der Methodisten zu gründen (siehe Kapitel 17).
Philipp Melanchthon, 1497-1560
| Pietismus Die Tatsache, dass die Lutherische Kirche an den Sakramenten und den traditionellen Gottesdienstformen festhielt, wurde Ende des 17. und Anfang des 18. Jahrhunderts von den Pietisten zunehmend kritisiert. Wie der Name schon sagt, setzte sich diese Bewegung für eine ernstere, individuelle Form der Frömmigkeit ein. Im Mittelpunkt standen dabei die wiederholte Bibellektüre und eine einfache, gottgefällige Lebensweise, die weltliche Freuden ablehnte. Ihre Führungsgestalt war der lutherische Pastor Philipp Jakob Spener (1637– 1705), der mit seinem Buch Pia Desideria viele andere geistliche Denker inspirierte, unter anderem August Francke (1663– 1727). Francke war Professor an der Universität Halle, dem geistigen Zentrum des Pietismus, und ist heute vor allem als Gründer von Schulen für Arme in Erinnerung geblieben. Ein anderer Pietist, der Theologe Heinrich Müller (1631–1675), geißelte den Beichtstuhl, den Altar, das Taufbecken und die Kanzel der Lutherischen Kirchen als „vier törichte Symbole“ und sprach sich stattdessen dafür aus, sich in „Frömmigkeitskollegien“ zu versammeln und die Bibel zu studieren. |
Weltweit gibt es schätzungsweise 64 Millionen Lutheraner. Ihre größte Dichte erreichen sie bis heute in Deutschland und Skandinavien; in Dänemark, Island und Norwegen ist der Lutheranismus Staatsreligion. Größere lutherische Bevölkerungsgruppen gibt es auch in den Vereinigten Staaten und in früheren deutschen Kolonien wie Namibia. Wie viele andere Konfessionen, so nimmt auch die Lutherische Kirche in Afrika und Asien viele neue Mitglieder auf, und die christliche Weltkarte nimmt eine neue Gestalt an.
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