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Die Goldene Regel

Das ethische Kernstück aller Religionen bildet ein einfaches Gebot, das häufig als „Goldene Regel“ bezeichnet wird. Sie hat in den einzelnen Religionen einen unterschiedlichen Wortlaut, ihre Bedeutung ist aber im Wesentlichen immer die gleiche. In der abendländischen Gesellschaft lässt sie sich am besten mit einem bekannten Sprichwort zusammenfassen: „Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem andern zu.“
Im Konfuzianismus ist diese Verhaltensregel als Shu („Rücksicht“) bekannt: Man nimmt Rücksicht auf andere, weil man den eigenen Schmerz, die eigene Hoffnung oder Zufriedenheit nicht von denen anderer trennen kann. Die Buddhisten sprechen von einer lebenslangen Annäherung an diese Regel. Sie ist in einer Formulierung von Buddha zusammengefasst, die im Samyutta Nikaya (wörtlich „Zusammengestellte Sammlung“) niedergeschrieben wurde: „Wer das Ich liebt, sollte das Ich anderer nicht schädigen.“ Etwas Ähnliches sagte Jesus nach der christlichen Lehre seinen Jüngern; im Matthäusevangelium heißt es: „Alles nun, was ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, das tut ihnen auch! Das ist das Gesetz und die Propheten.“ Und man könnte mit Fug und Recht hinzufügen: Es ist auch der Sinn des Neuen Testaments.
Die Juden erklären die Regel in Form einer Geschichte. Zu dem berühmten Gelehrten Rabbi Hillel (80 v. u. Z. bis 30 u. Z.) kommt ein Heide und verspricht, er werde zum Judentum konvertieren, wenn Hillel ihm die Thora lehren könne, während er selbst auf einem Bein stehe. „Was dir selbst verhasst ist, tu nicht deinem Mitmenschen an“, erwidert der Rabbi, während der Heide auf einem Bein steht. „Das ist die ganze Thora, alles andere sind nur Kommentare. Geh hin und lerne es.“
ca. 530 v. u. Z Konfuzius formuliert erstmals die Goldene Regel ca. 480 v. u. Z. Buddha fordert Nächstenliebe statt Selbstliebe

Der Erste, der die Goldene Regel formulierte
Der erste Religionsführer, der die Goldene Regel formulierte, war wahrscheinlich Konfuzius im sechsten Jahrhundert v. u. Z. Diese Goldene Regel erwuchs aus seiner tiefen Überzeugung, dass Heiligkeit und Altruismus nicht zu trennen seien und dass alles darauf hinauslaufe, andere stets mit Respekt zu behandeln. Einer seiner Schüler sagte: „Der Weg unseres Meisters ist einfach nur dieser: sein Bestes für andere zu tun [im Konfuzianismus Zhong] und Rücksicht [Shu] zu nehmen.“ Konfuzius entwickelte viele seiner Erkenntnisse in Gesprächen mit seinen Anhängern, die er um sich gesammelt hatte. In den Analekten, der wichtigsten Quelle von Berichten über sein Leben und seine Lehren, diskutiert er unablässig mit ihnen. Zigong, einer aus der Gruppe, fragt: „Gibt es einen einzelnen Ausspruch, nach dem man sich an jedem Tag richten kann?“ Darauf erwidert Konfuzius: „Vielleicht den Ausspruch über die Rücksicht.“


Ein gemeinsames Ideal Natürlich gibt es in den religiösen Traditionen gegensätzliche Kräfte. In den Büchern des Alten Testaments, die sowohl den Juden als auch den Christen heilig sind, befiehlt Jahwe den Israeliten, die anderen Bewohner des Gelobten Landes mit dem Schwert zu vertreiben, und er gestattet sogar Vergewaltigungen und den Mord an Frauen. Wollte man aber einen Gedankengang finden, der alle Religionen verbindet, so ist es ihr Festhalten an der Goldenen Regel. Die Goldene Regel hat deshalb so großes Gewicht, weil ihr Inhalt den kulturellen Traditionen und der Intuition der Menschen zutiefst widerspricht: Sie besagt, dass wir nicht vorrangig uns selbst und unsere eigenen Bedürfnisse sehen sollen. Dies mag ein instinktiver Impuls sein, aber alle Religionen lehren, dass er unmoralisch ist und selbstzerstörerisch wirken kann.

‚Füge niemandem Schmerzen zu,
damit niemand dir Schmerzen zufügt.

Mohammed, 632 u. Z.
ca. 30 u. Z. Rabbi Hillel definiert die Goldene Regel ca. 60 u. Z. Die Goldene Regel fließt in die Evangelien ein

Rabbi Hillel und die Goldene Regel
Die christliche Bibel rückt die Pharisäer im Zusammenhang mit den Ereignissen rund um Jesu Kreuzigung in ein unvorteilhaftes Licht. Den historischen Befunden zufolge waren sie aber in Wirklichkeit im Judentum des ersten Jahrhunderts u. Z. die fortschrittlichste, am stärksten Einheit stiftende Kraft. Die Heimat der Juden war damals von den Römern besetzt, die einen Aufstand mit großer Brutalität niederschlugen und den Tempel in Jerusalem zerstörten. Einer der führenden Pharisäer war Rabbi Hillel. Er erklärte, jeder Mensch könne Gott überall erleben, dies sei nicht einer Elite vorbehalten, die im Tempel komplizierte Rituale vollziehe. Das wichtigste Bestreben der Menschen sollte nach seiner Überzeugung die Nächstenliebe sein, und deshalb setzte er sich für die Goldene Regel ein. Entscheidend war für ihn der Geist des jüdischen Gesetzes, nicht aber sein Buchstabe. Dies vermittelt auch eine andere Geschichte aus dem Talmud. Darin betrachten zwei Juden die Ruinen des Tempels. Der eine sagt: „Weh uns, dass dieser Ort, an dem die Sünden Israels gesühnt wurden, in Trümmern liegt.“ Darauf der andere: „Gräme dich nicht. Wir haben eine andere Form der Sühne, die dem Tempel gleichkommt: liebevolle Taten.“


Eine vernünftige Definition von Religion könnte so lauten: Sie ist die Suche nach dem Weg, auf dem Menschen friedlich zusammenleben können, Gesellschaften gerecht, umfassend und gleichberechtigt funktionieren und verschiedene Gesellschaften und Volksgruppen ihre eigenen Bedürfnisse befriedigen können, während sie mit anderen auf der Erde gemeinsam existieren. Das oberste Prinzip, das diesen verschiedenen Zielen dient, ist die Goldene Regel.
Eine radikale Herausforderung Die Goldene Regel vertritt in vielerlei Hinsicht eine radikale Vorstellung:Wenn wir anderen Priorität einräumen, zeigen wir entgegen einer in der westlich-säkularen Gesellschaft verbreiteten Vorstellung keine Schwäche, sondern moralische Stärke. Ausdrücklich oder unausgesprochen verbindet sich damit auch der Gedanke, dass wir uns letztlich selbst nützen, wenn wir andere gut behandeln:Wenn wir mit unserem eigenen Verhalten Maßstäbe setzen, werden sich auch andere in ihrem Umgang mit uns daran halten, und davon profitieren alle.
Die Goldene Regel berührt noch einen anderen Aspekt: Religion ist nicht nur einfacher Glaube, sondern beinhaltet auch das Handeln. Mitgefühl, Besorgnis und Mitleid zu zeigen, nachzugeben statt zu richten: Solche Lehren werden in den heiligen Schriften betont, doch treten sie häufig zugunsten von Dogmen, Doktrinen, Regeln und Ritualen in den Hintergrund.
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