Die Anglikanische Kirche
In England nahm die Reformation eine eigene Form an. Dabei spielten die politischen Umstände eine wichtige Rolle: Der Papst lehnte es ab, Heinrich VIII. von seiner Frau zu scheiden, und der König wollte daraufhin eine nationale Kirche gründen, die ihm zu Willen war. Es gab aber auch religiöse Motive: Der Einfluss Luthers und Calvins machte sich in England ebenso bemerkbar wie im übrigen Europa. Die neue Kirche von England, die Church of England, positionierte sich schließlich zwischen Protestantismus und Katholizismus. Sie hat bis heute offizielle Verbindungen zum Staat und expandierte zusammen mit dem britischen Kolonialreich in die ganze Welt. Heute ist die anglikanische Kirche mit 80 Millionen Mitgliedern die drittgrößte christliche Gruppierung der Erde.
Die theologische Grundlage der Kirche von England wurde erstmals 1563 in 39 Artikeln, den Thirty-Nine Articles of Faith, formuliert. Sie bilden den Gipfelpunkt einer Reihe von Versuchen, die besonderen Glaubensüberzeugungen der nationalen Kirche festzuschreiben. Die Entwicklung begann 1536, als mit zehn Artikeln eine bescheidene Distanz zwischen der neuen Kirche und Rom geschaffen wurde. Die Kluft erweiterte sich 1552 mit 42 neuen Artikeln, die von Thomas Cranmer, Erzbischof von Canterbury und einer der am stärksten protestantisch geprägten Gestalten der englischen Revolution, festgeschrieben wurden. Die endgültige Fassung mit 39 Artikeln war das Ergebnis eines Kompromisses, zu dem man während der Regierungszeit von Elizabeth I. gelangte.
Ein Balanceakt Welch einen Balanceakt die anglikanische Konfession darstellte, zeigt sich sehr deutlich in Ton und Inhalt der 39 Artikel. Die ersten acht Artikel sind im Wesentlichen katholisch und blicken zurück auf die Apostel und auf die
1529 Heinrich VIII. ernennt sich selbst zum Oberhaupt der Kirche von England 1563 Thirty-Nine Articles of Faith
Praxis der Urkirche. Die nächsten zehn handeln von den neueren Erkenntnissen der Reformation, übernehmen aber nicht vollständig Luthers Haltung, etwa in der Frage der Rechtfertigung allein durch den Glauben: Der anglikanische Glaube lässt noch Spielraum für gute Taten. Die restlichen Artikel behandeln die Lehre der Kirche und ihr Verhältnis zum Staat. Auch die zweite Säule der Anglikanischen Kirche, das Book of Common Prayer, entwickelte sich während dieser turbulenten Phase. Auch hier hatte Thomas Cranmer seine Hände maßgeblich im Spiel: Seine Ziele waren die Auflösung der Klöster, die Verwendung der englischen Sprache anstelle des Lateinischen im Gottesdienst, das Ende der Heiligenverehrung und eine Einschränkung der üppigen religiösen Bilderwelt in den Kirchen. Als wichtigster Berater Heinrichs VIII., und nach dessen Tod 1547 seines Sohnes Edward VI., verband Cranmer Worte der Andacht aus der römischen Tradition mit einer Interpretation der Sakramente, die sich mehr an Luther und Calvin orientierte. Nach vielen Diskussionen und Überarbeitungen erschien 1662 ein endgültiger Text, der bis heute in Gebrauch ist, obwohl 1980 eine alternative Gottesdienstordnung eingeführt wurde.
Die Bruchlinie Die Bruchlinie zwischen katholischer und protestantischer (oder reformierter, wie die Anglikaner lieber sagen) Überzeugung besteht bis heute. Der „niedrige“ oder „evangelikale“ anglikanische Glaube (Low Church) geht mit seinen einfachen Zeremonien und den an der Bibel orientierten Lehren im Wesentlichen auf Luther, Zwingli und Calvin zurück. Die „hohen“ oder „anglokatholischen“ Anglikaner (High Church) orientieren sich stattdessen im Zusammenhang mit Gottesdienst und Theologie am Katholizismus, die meisten von ihnen erkennen jedoch die oberste Autorität des Papstes nicht an. In jüngerer Zeit traten viele Hoch-Anglikaner zum katholischen oder orthodoxen Glauben über, weil sie empört waren, dass ihre Kirche auch Frauen im Priester-
Michael Ramsey, Erzbischof von Canterbury, 1961–1974 ‘
1662 Book of Common Prayer 1867 erste Lambeth-Konferenz 2003 erste Einsetzung eines offen homosexuellen Bischofs
| Die Oxford-Bewegung In den 1830er Jahren versuchte die Oxford-Bewegung (auch Traktarianer genannt, weil sie ihre Ansichten häufig in kleinen Büchern oder Traktaten verbreiteten), die Anglikanische Kirche näher an die Traditionen der Urkirche und – so die Kritiker – der römisch-katholischen Kirche anzunähern. Nach Ansicht ihrer führenden Köpfe John Henry Newman, Edward Pusey und John Keble, die alle der Universität Oxford angehörten, war der anglikanische Glaube zu einfach geworden. Sie sprachen sich für eine Rückkehr zu mittelalterlichen Gottesdienstformen und zum Mönchswesen aus. Nach ihrer Auffassung ließen sich die 39 Artikel mit den Lehren des katholischen Konzils von Trient vereinbaren. Beträchtlich geschwächt wurde die Bewegung 1845, als Newman zum römisch-katholischen Glauben übertrat. |
amt aufnahm, was in ihren Augen eine Grenzüberschreitung darstellt. Im Jahr 2009 ließ der Papst zu, dass „katholische“ Anglikaner in Form ganzer Gemeinden oder sogar Diözesen zum römischen Glauben konvertieren. Die Kerngruppierung der Anglikanischen Kirche, deren Mitglieder in der Regel als Liberale bezeichnet wurden und die traditionell das Machtzentrum der Konfession darstellte, ist in den letzten Jahren geschrumpft: Sie bemühte sich darum, die Kirche weltweit auch in Streitfragen – wie die Aufnahme von Frauen ins Priesteramt (die in manchen Kirchenprovinzen begeistert angenommen und in anderen verboten wurde) und Homosexualität – zusammenzuhalten. Die Praxis, dass aus Gründen der Einigkeit keine einzelne Kirchenprovinz Reformen vollziehen darf, bevor nicht alle anderen überzeugt wurden, hat man aufgegeben. Nachdem 2003 in den Vereinigten Staaten mit Gene Robinson ein offen homosexueller Bischof in die anglikanische Episkopalkirche aufgenommen wurde, drohten einige afrikanische Kirchenprovinzen, sich von der Kirche abzuspalten. Das Oberhaupt der Anglican Communion, des Anglikanischen Kirchenbundes, ist der Erzbischof von Canterbury, seine Befugnisse sind aber stark eingeschränkt. Er führt als Erster unter Gleichen den Vorsitz bei der Lambeth Conference, dem alle zehn Jahre stattfindenden Treffen sämtlicher anglikanischer Bischöfe; es wurde 1867 zum ersten Mal abgehalten. Seine Vorstellungen kann er aber nur mittels
Book of Common Prayer,‘ 1662
| Evelyn Underhill und die anglikanische Spiritualität In der Anglikanischen Kirche bemühte man sich um die Entwicklung einer eigenen Spiritualität; dies geschah insbesondere in Kirchenprovinzen wie England, wo die Rolle als Staatsreligion es notwendig machte, eine möglichst breite Mitgliederschaft anzusprechen. Dennoch zog die in Wolverhampton geborene Dichterin und Romanschriftstellerin Evelyn Underhill (1875–1941) in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts mit ihren Schriften, Vorträgen und Andachten eine große Gefolgschaft an. Ihr erfolgreichstes, 1911 erschienenes Buch Mysticism (dt. Mystik) trug den Untertitel „Eine Studie über die Natur und Entwicklung des religiösen Bewusstseins im Menschen“. Großes Gewicht legte sie auf die Rolle des Heiligen Geistes, auf kontemplative (anstelle öffentlicher) Gebete und auf das neu entstehende Fachgebiet der Psychologie. |
Überzeugungskraft und Konsensfähigkeit durchsetzen. Nach ähnlich demokratischen Prinzipien funktionieren auch viele anglikanische Provinzen, darunter die Kirche von England selbst:Wichtige Entscheidungen werden auf regelmäßig abgehaltenen Treffen, den Synoden, von Bischöfen, Geistlichen und Laien durch Abstimmung getroffen. Die Kirche von England ist bis heute eine Staatskirche, es gibt jedoch laute, hartnäckige Forderungen nach einer Loslösung vom Staat. Ihr Oberhaupt ist der britische Monarch, die Bischöfe werden vom Staat ernannt, und manche von ihnen sitzen im Oberhaus des Parlaments. Die anglikanische Lehre reagiert schneller auf weltliche Veränderungen als der römische Katholizismus. Die Anglikanische Kirche wendet sich beispielsweise nicht gegen die Empfängnisverhütung, und die Abtreibung wird zwar bedauert, man widersetzt sich aber nicht ihrer gesetzlichen Zulassung. Die Kirche von England betrachtet nicht nur die Anglikaner, sondern die gesamte englische Bevölkerung als ihre Gemeinde. Sie ist also für Nichtmitglieder ebenso da wie für ihre Mitglieder.
Worum geht es Bemühungen um ein Mittelweg
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