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Heilige und Sünder

In vielen Religionen dienen heilige Männer und Frauen aus früheren Zeiten als Vorbild, das die heutigen Gläubigen zu einem guten, moralischen Leben anleiten und anregen soll. In der christlichen Kirche werden solche Vorbilder als Heilige bezeichnet, und insbesondere im Katholizismus sorgt ein offizielles System bis heute dafür, dass ihre Zahl von Jahr zu Jahr wächst.
Schätzungsweise 10.000 Heilige sind bereits offiziell anerkannt: An sie können sich die Gläubigen im Gebet wenden, wenn sie in schwierigen Zeiten Inspiration, Kraft und Hilfe suchen. Manche Heilige haben besondere Aufgaben: Josef, der Ehemann der Jungfrau Maria, ist der Schutzheilige der Zimmerleute, die Heilige Cäcilia beschützt Musiker, und zum Heiligen Judas beten jene, die sich in verzweifelten Situationen befinden. In der Kirche gibt es seit ihren Anfängen die Vorstellung von einer „Gemeinschaft der Heiligen“, die im Himmel wiedergeboren werden und durch ihren Heiligenschein (in traditionellen Darstellungen ein Lichtring um den Kopf) gekennzeichnet sind. Sie dienen als Vermittler zwischen Menschen und Gott. Deshalb erhalten Menschen den Namen eines Heiligen, wenn sie durch die Taufe offiziell in die Kirche aufgenommen werden, und in manchen christlichen Gruppen wählen sie später einen Heiligen als Patron für das Sakrament der Firmung. Bis 1234 wurden Heilige im Christentum durch Volksabstimmung ernannt. Man glaubte, durch die Lebensgeschichte eines sehr geschätzten Menschen könne man einen Blick darauf erhaschen, wie Gott ist. Besonders glaubte man dies bei jenen, die in der Frühzeit des Christentums für ihren Glauben als Märtyrer starben. Der bekehrte Jude Stephanus wurde nach dem Bericht der Apostelgeschichte wegen seiner Missionstätigkeit gesteinigt. Er gilt in der christlichen Kirche als der erste Heilige, und seine Fähigkeiten als Prediger und Wundertäter können als Vorbild für alle späteren Heiligen gelten.
ca. 35 u. Z. Tod des Stephanus, des ersten Heiligen 4. Jahrhundert In der christlichen Kunst tauchen Heiligenscheine auf

Der Heiligenschein

Der Heiligenschein in der religiösen Kunst ist älter als das Christentum. Schon in altägyptischen und asiatischen Darstellungen kennzeichnet ein Lichtring um den Kopf eine Gottheit, und das Gleiche gilt für Abbildungen griechischer und römischer Götter. Im Christentum wurde die Praxis erstmals im vierten Jahrhundert aufgegriffen, anfangs nur für Bilder von Jesus. Später verbreitete sie sich schnell. In der christlichen Kunst gibt es eine Hierarchie der Heiligenscheine: dreieckige sind der Dreifaltigkeit – Vater, Sohn und Heiliger Geist – vorbehalten. Runde Heiligenscheine in Weiß, Gold oder Gelb kennzeichnen Heilige. Die Jungfrau Maria trägt einen Sternenkranz, manche Künstler schmücken sie aber auch mit der Mandorla, einem Ganzkörper-Heiligenschein. Ein quadratischer Heiligenschein wurde zur Darstellung eines noch lebenden, aber heiligen Menschen verwendet, beispielsweise auf Gemälden verschiedener Päpste. Judas trägt traditionell einen schwarzen Heiligenschein. Die Praxis, Heilige mit einem Heiligenschein darzustellen, verschwand in der Renaissance allmählich.


Dieses demokratische System war manchmal chaotisch. Häufig wurden Geschichten über verschiedene Personen durcheinandergebracht. In der Frühzeit gab es beispielsweise einige weibliche Heilige (Pelagia, Apollinaris, Euphrosyne, Eugenia, Marina), die sich als Männer verkleideten und ein asketisches Leben führten; ihre Geschichten sind sich bemerkenswert ähnlich. Manche Heilige aus der Frühzeit – darunter der bei Autofahrern beliebte Christophorus oder Valentin, der Schirmherr der Verliebten – haben nach heutiger Kenntnis überhaupt nicht existiert. Ihre Lebensgeschichten gingen auf frühere heidnische Götter zurück, die von der frühen christlichen Kirche vereinnahmt wurden. Als die Kirchenführung immer stärker in das Leben der Gläubigen eingriff, wurde die Ernennung von Heiligen institutionalisiert. Papst Gregor IX. erklärte 1234, das Recht, Menschen heilig zu sprechen, stehe ausschließlich dem „Bischof von Rom“ zu, also dem Papst. Von nun an wurde das Spektrum der Kandidaten, die in den Heiligenstand erhoben wurden, enger; vor der Heiligsprechung wurde ein Beweis für ein tugendhaftes Leben und wundersame Eingriffe nach ihrem Tod verlangt.
1234 Rom übernimmt die Heiligsprechungen 2005 Johannes Paul II. hat bis zu seinem Tod fast 500 Menschen heiliggesprochen

Heilige heute

Die in Albanien geborene katholische Nonne Mutter Theresa von Kalkutta (1910– 1997) wurde aufgrund ihrer Arbeit mit den Armen, Besitzlosen und Sterbenden in Indien berühmt. Sie gründete den florierenden religiösen Orden der „Missionarinnen der Nächstenliebe“; die Ordensfrauen tragen ihren charakteristischen weißen Umhang mit blauem Rand. 1979 erhielt sie den Friedensnobelpreis, rund sechs Jahre nach ihrem Tod wurde sie von Papst Johannes Paul II. seliggesprochen. Der Spanier Monsignore Josemaria Escriva (1902–1975) gründete innerhalb der katholischen Kirche die Bewegung „Opus Dei“, die wegen ihrer konservativen Haltung und ihrer Neigung zur Geheimniskrämerei höchst umstritten ist (unter anderem in Dan Browns Roman Sakrileg). Dennoch wurde Escriva 2002, nur 27 Jahre nach seinem Tod, heiliggesprochen. Der Erzbischof Oscar Romero (1917–1980) dagegen galt zwar in seiner mittelamerikanischen Heimat vielfach als Heiliger, ist aber bis heute nicht offiziell anerkannt. Nach seiner freimütigen Verurteilung der Menschenrechtsverletzungen durch die Militärregierung in El Salvador wurde er von Soldaten während der Messe vor dem Altar erschossen. Das war im März 1980. Sein Martyrium reichte in den Augen der katholischen Kirche nicht aus, um die Heiligsprechung zu beschleunigen; man nimmt an, dass Rom eine politische Interpretation seiner Taten fürchtete.


‚Die Heiligen waren in den schwierigsten Augenblicken
der Kirchengeschichte stets der Quell und Ursprung
der Erneuerung.

Katechismus der katholischen ‘Kirche, 1994
Heiligsprechung heute Heute wendet vor allem die katholische Kirche große Energie für Heiligsprechungen auf. In der orthodoxen Kirche dagegen gelten Heilige nicht als moralische Vorbilder, sondern nur als Menschen, die jetzt im Himmel sind. Man respektiert, dass sie als Ausnahmegestalten in Erinnerung bleiben, fällt aber kein Urteil über sie. Die anglikanische Kirche und andere protestantische Konfessionen erkennen die wichtigsten Gestalten der Kirchengeschichte als Heilige an, deren Zahl wird aber nicht durch einen institutionalisierten Prozess vermehrt. Der Methodismus lehnt die Heiligenverehrung völlig ab.
‚Für die meisten Menschen,
auch die guten, ist Gott ein
Glaube. Für die Heiligen ist er
eine Umarmung.
Francis Thompson, 18‘59–1907
In der katholischen Kirche setzt die Heiligsprechung zwingend ein Wunder voraus. Damit jemand heiliggesprochen wird, muss zur Zufriedenheit der Kirchenbehörden nachgewiesen sein, dass diese Person nach ihrem Tod die Gebete der Gläubigen erhört hat. Am einfachsten ist dieser Beweis, wenn jemand zu dem potenziellen Heiligen gebetet hat und dann auf wundersame Weise von einer Krankheit geheilt wird. Nach dem derzeitigen System reicht der Beweis eines Wunders für die Seligsprechung aus, und nach zwei Wundern kann jemand heiliggesprochen werden. Zwischen 1234 und 1978 gab es knapp 300 erfolgreiche Kandidaten für die Heiligsprechung. Es war die Gewohnheit der Kirche, lange und intensiv über Entscheidungen nachzudenken – Bis ein Urteil gefällt war, vergingen oft über 100 Jahre, und nur besonders tugendhafte Menschen wurden heiliggesprochen. Papst Johannes Paul II. (1978–2005) verfolgte einen anderen Ansatz. Er nahm insgesamt 476 Heilig- und 1315 Seligsprechungen vor.

‚Für die meisten Menschen,
auch die guten, ist Gott ein
Glaube. Für die Heiligen ist er
eine Umarmung.

Francis Thompson, 18‘59–1907
Worum geht es Ein gutes Vorbild kann nicht übertroffen werden