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Riten und Rituale

Alle Religionen haben ihre Zeremonien und Übergangsriten. Diese haben den Zweck, eine Verbindung zwischen Menschen und Göttern herzustellen, ein Forum für spirituelle Erfahrungen zu bieten und die einzelnen Gläubigen daran zu erinnern, dass sie sowohl in ihrer eigenen Zeit als auch in der Geschichte Teil eines größeren Ganzen sind.
Für viele Gläubige prägen die Riten und Rituale ihrer Religion ihr ganzes Leben. Die christlichen Sakramente beispielsweise begleiten die wichtigsten Stationen eines Lebens von der Geburt über das Erwachsenenalter bis zum Tod. Von Muslimen wird verlangt, dass sie fünfmal am Tag beten – der Ruf zum Gebet ist Teil der Schahada, der ersten der „Fünf Säulen“ der islamischen Glaubenspraxis. Und Buddha lehrte vor 2500 Jahren, regelmäßige Meditation sei der Weg zur Erleuchtung. Deshalb bildet die Meditation noch heute für Buddhisten das Kernstück des Lebens. Die einzelnen Religionen haben aber zu ihren Riten und Ritualen unterschiedliche Einstellungen. Der Islam beispielsweise lehrt, dass man jedes Gebäude zu einer Moschee machen kann; demnach sind die traditionellen Merkmale großer Moscheen keineswegs zwingend notwendig. Hindus versammeln sich zur Anbetung in Tempeln, aber dazu besteht keine Verpflichtung. Die Riten können ebenso gut zuhause vor einem privaten Schrein vollzogen werden. Im Christentum bevorzugt die Hauskirchenbewegung einfache Gottesdienste, die im Haus der Gläubigen in Alltagssprache abgehalten werden. Am anderen Ende des Spektrums stehen im Christentum die ausgefeilten Hochämter: Sie werden in alten, verzierten Gebäuden von Geistlichen in prächtigen Gewändern abgehalten und folgen einem strengen, jahrhundertealten Muster; manchmal bedient man sich dabei sogar noch der „toten“ lateinischen Sprache.
ca. 3. Jahrhundert v. u. Z. erste Synagogen in Ägypten ca. 70 u. Z. Zerstörung des Tempels in Jerusalem

Die christlichen Sakramente

Viele christliche Konfessionen kennen eine Reihe von Sakramenten, die bei einschneidenden Ereignissen im Leben der Gläubigen gespendet werden. Im Katholizismus beispielsweise ist das Leben von sieben Sakramenten begleitet; diese sind die Taufe (offizielle Aufnahme in die Kirche), meist im Säuglingsalter; die Beichte und Erstkommunion (Empfang von Brot und Wein als Leib und Blut Jesu), ungefähr mit acht Jahren; die Firmung (Glaubensbekenntnis als Erwachsener) im Teenageralter; die Eheschließung als Erwachsener; die Priesterweihe, ebenfalls als Erwachsener; und schließlich das Sterbesakrament, in der Regel kurz vor dem Tod.

Höhere Symbolik Riten und Rituale sind stark mit Symbolen befrachtet. Diese gehören zu den Dingen, mit denen die Religion versucht, den Blick der Gläubigen vom irdischen Alltag auf die spirituelle Ebene zu erheben. Im christlichen Mittelalter galten selbst die Zinnen und Türme der Kathedralen nicht einfach nur als äußerliche Statussymbole oder als Orientierungsmarken für die Gläubigen, sondern sie sollten fast buchstäblich bis in den Himmel reichen. Im Taoismus, der alten religiösen und philosophischen Tradition, die in China im sechsten Jahrhundert v. u. Z. von Laotse begründet wurde, sind die Reinigungs- und Meditationsrituale mit Gesängen, dem Spiel von Instrumenten und Tänzen häufig so kompliziert und hoch entwickelt, dass man sie den Priestern überlässt; die Gemeinde spielt dabei kaum eine Rolle. Da man den Ritualen so große Bedeutung beimisst, besteht die Gefahr, dass sie zum Selbstzweck werden. Altbewährte Worte oder Sätze, die von Glaubensgenossen in einem vertrauten Umfeld häufig wiederholt werden, gelten irgendwann ebenso viel wie die eigentliche Theologie oder die Erkenntnisse der Religionen. Guru Nanak, der im 16. Jahrhundert in Indien den Sikhismus begründete,

‚Denn wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen,
da bin ich mitten unter ihnen.

Matthäus 18, 20
ca. 7. Jahrhundert u. Z. Aus Versammlungsplätzen unter freiem Himmel entwickeln sich Moscheen 1626 Vollendung des Petersdoms in Rom
warnte insbesondere vor dem Gedanken, man könne Gott nur durch Rituale nahe kommen. Die Zeit, die man im Gebet verbringt, sollte man nach seiner Ansicht mit der Zeit in Gesellschaft eines Freundes vergleichen. Im Gegensatz zu den Angehörigen manch anderer Religionen verehren die Sikhs deshalb Gott in seiner abstrakten Form, ohne Zuhilfenahme von Bildern oder Statuen. Sie versammeln sich aber zur gemeinsamen Anbetung in ihren Tempeln, den Gurdwaras.

Die Riten der islamischen Haddsch

Jeder Muslim, der es sich leisten kann und gesund genug ist, hat die Pflicht, einmal im Leben nach Mekka zu pilgern, dem geistlichen Zentrum des Islam. Diese Reise nennt man Haddsch – wörtlich bedeutet das „sich zu einem bestimmten Zweck auf den Weg machen“. Das Haddsch-Ritual besteht aus vier Teilen: 1. Ihram – man trägt besondere Kleidung und versetzt sich in einen spirituellen oder heiligen Geisteszustand; 2. Tawaf – man umkreist siebenmal im Gegenuhrzeigersinn die Kaaba, den heiligen Schrein in Mekka, und berührt möglichst den darin enthaltenen schwarzen Stein (al-Hajar al-Aswad), der vom Himmel auf die Erde gesandt worden sein soll; 3.Wuquf – man begibt sich in die Ebene von Arafat 24 Kilometer östlich von Mekka und betet vor Allah oder in der Nähe des Berges der Vergebung; und 4. man umkreist nach der Rückkehr von Arafat noch einmal die Kaaba. Erst jetzt kann der Pilger sich als Haddschi (männlicher Pilger) oder Haddscha (Pilgerin) bezeichnen.

Alle Glaubensrichtungen betonen, dass Rituale eine Verbindung zwischen dem spirituellen und dem materiellen Bereich herstellten. In der taoistischen Zeremonie des Chiao (oder Jiao), in der es um kosmische Erneuerung geht, bringt jeder Haushalt eines Dorfes den örtlichen Gottheiten ein Opfer dar. Ein Priester weiht dann die Opfergaben im Namen der spendenden Familien, stellt mittels eines Rituals die Ordnung im Universum wieder her und bittet die Götter, dem Dorf Frieden und Wohlstand zu bringen.
Aufgrund ihrer Symbolik und des Vertrauens, das die Gläubigen in sie setzen, haben sich die religiösen Rituale im Laufe der Jahrhunderte kaum verändert. Dies liegt größtenteils in ihrem Wesen: Sie verschaffen den heutigen Gläubigen in einer sich schnell wandelnden Welt das Gefühl, auf den Spuren früherer Generationen zu wandeln, die ihren Glauben teilten. Wenn Christen beispielsweise das Vaterunser beten, sprechen sie – meist allerdings in ihrer eigenen Sprache – die gleichen Worte, die in den Evangelien vor 2000 Jahren niedergeschrieben wurden.

‚Durch Gebete könnt ihr in eurem Geist einen Altar Gottes bauen.Hl. Johannes ‘

Chrysostomus, ca. 390
Trotz der vielen Unterschiede gibt es aber in den Riten und Ritualen der verschiedenen Glaubensrichtungen auch Überschneidungen und einen Austausch. Manchmal liegt es daran, dass sie einen gemeinsamen Ursprung haben, es kann aber auch eine Absicht dahinterstecken. Als das Christentum im ersten Jahrtausend u. Z. in weiten Teilen Europas an die Stelle der heidnischen Religionen trat, übernahm es bewusst Elemente aus deren Ritualen: So wurden die Festtage für Geburt und Tod Jesu auf die heidnischen Festtage der Wintersonnenwende und der Frühjahrs-Tagundnachtgleiche gelegt.
Worte und Bedeutungen Religiöse Riten und Rituale sollen auch belehren. Das laute Vorlesen aus heiligen Büchern geht auf eine Zeit zurück, in der die Mehrheit der Gemeinde nicht lesen konnte; es trägt dazu bei, dass die Gläubigen sich auf die wesentlichen Inhalte ihres Glaubens konzentrieren. Muslime werden schon in jungen Jahren dazu angehalten, Passagen aus dem Koran auswendig zu lernen, so dass sie sie ohne Rückgriff auf den gedruckten Text aufsagen können. Und wenn Christen das Nizänische Glaubensbekenntnis sprechen, wiederholen und verinnerlichen sie in komprimierter Form die wesentlichen Lehren ihrer Kirche. Dieser Vorgang wurde in der Kirchengeschichte mit dem lateinischen Ausdruck Lex orandi, lex credendi bezeichnet – „das Gesetz des Gebets ist das Gesetz des Glaubens“. Oder einfacher gesagt:Was man während eines Ritus oder Rituals ausspricht, glaubt man auch im Herzen.
Worum geht es Privater Glaube hat eine öffentliche Diminsion