Moderne Glaubensrichtungen
Die meisten großen Weltreligionen entwickelten sich in der Achsenzeit zwischen 800 und 300 v. u. Z.. Christentum und Islam entstanden später, griffen aber in großem Umfang auf die Erkenntnisse dieser früheren Zeit zurück. Zwar haben sich alle auf die Veränderungen in der säkularen Welt und im Leben ihrer Anhänger eingestellt, aber über keine kann man sagen, sie habe einen modernen Ursprung. In den letzten beiden Jahrhunderten entwickelten sich jedoch eine Reihe neuer religiöser Traditionen, von denen einige den Anlass zu heftigen Kontroversen gaben. Bevor wir uns ansehen, welchen Herausforderungen die Religion in der modernen Zeit gegenübersteht, wollen wir diese Neuentwicklungen kurz betrachten.
Bahai Nach der Lehre des Islam war Mohammed Gottes letzter Prophet. Der schiitische Islam wartet jedoch noch auf die Offenbarungen eines neuen Imam, der zu Mohammeds Nachkommen gehört und eine Führungslinie fortsetzt, die im 10. Jahrhundert u. Z. unter umstrittenen Umständen zu Ende gegangen ist. Im Iran, der Hochburg des schiitischen Islam, erklärte sich Sayyid Ali Muhammad, ein Nachkomme des Propheten, im Mai 1844 zu diesem neuen Imam. Der Bab, wie er genannt wurde, behauptete, er sei ein Botschafter Gottes, der die bevorstehende Ankunft eines neuen Propheten ankündigen sollte. Er wurde 1850 von den iranischen Behörden hingerichtet. Im Jahr 1852 berichtete der 35-jährige Adlige Mirza Husain Ali, einer von Babs inhaftierten Gefolgsleuten, er habe in seiner Zelle eine Vision gehabt, und darin habe Gott ihn zu seinem neuen Propheten erklärt. Von nun an nannte er sich Bahaullah – „Herrlichkeit Gottes“. Ein Jahr später wurde er aus der Haft entlassen und ins Exil geschickt. Eine Zeit lang lebte er als Einsiedler, aber durch sein Vorbild und seine
1852 Bahaullah erklärt sich zu Gottes Propheten
Schriften zog er eine immer größere Zahl von Bekehrten an. Manche von ihnen waren Muslime, in ihrer Mehrzahl entstammten sie jedoch den christlichen und jüdischen Gemeinden im Nahen Osten, wo Bahaullah im Exil lebte. In seinem Buch Sieben Täler griff er in großem Umfang auf die mystisch-islamische Tradition des Sufismus zurück, an anderen Stellen jedoch pries er die Werte von Toleranz, Respekt gegenüber allen Religionen, sozialen Reformen und internationalem Recht – eine Botschaft, die höchst modern klingt. Seine einflussreichste Schriftensammlung mit dem Titel Kitab-i-Aqdas vollendete er 1892, kurz vor seinem Tod. Die Führungsposition des Bahai-Glaubens ging zunächst auf Bahaullahs Nachkommen über, in jüngerer Zeit dann an ein Gremium, das Haus der Gerechtigkeit. Shoghi Effendi, der die Bahai-Gemeinde von 1921 bis 1957 leitete, fasste Bahaullahs Botschaft an die Welt so zusammen: Anzustreben seien „die selbstständige Suche nach Wahrheit, unbeeinträchtigt durch Aberglauben oder Traditionen; die Einheit des ganzen Menschengeschlechts – das Grundprinzip und die grundlegende Lehre des Glaubens; die grundlegende Einheit aller Religionen; die Ablehnung jeglicher Vorurteile, ob religiöser, rassischer, sozialer oder nationaler Natur; die Harmonie, die zwischen Religion und Wissenschaft herrschen muss; die Gleichberechtigung von Männern und Frauen, der beiden Flügel, auf denen der Vogel der Menschheit fliegen kann.“
Bahaullah, 1817–1892 ‘
San Myung Mun, 1977 ‘
1930er Jahre Entstehung der Rastafari-Gemeinschaft in Jamaika 1950er Jahre Entstehung der Vereinigungskirche
Die Bahai sind begeisterte Missionare und haben die Lehre von Bahaullah über die ganze Welt verbreitet. Die Gemeinschaft hat heute sechs Millionen Anhänger, wird aber im Iran verfolgt: Dort gilt die Vorstellung, Mohammed sei nicht der letzte Prophet gewesen, als Gotteslästerung.
| Haile Selassie Der äthiopische Kaiser Haile Selassie (1892– 1975) äußerte sich öffentlich nie zu dem Glauben der Rastafari, dass er die Inkarnation Gottes sei. Er stellte aber in Shashamane, gut 300 Kilometer südlich der Hauptstadt Addis Abeba, Land für die Umsiedlung von Rastafaris aus Übersee bereit, und als er im April 1966 Jamaika besuchte, wurde er von einer riesigen Menschenmenge begrüßt. Seitdem feiern die Rastafari jedes Jahr am 26. April den „Grounation Day“. Haile Selassie war aber auch offizielles Oberhaupt der alten Äthiopisch-Orthodoxen Kirche und betete regelmäßig in deren Gotteshäusern. Seine Politik bestand darin, Bündnisse mit dem Westen zu schließen, was den Rastafari ein Dorn im Auge war. Er wurde 1974 durch einen Staatsstreich gestürzt und starb im folgenden Jahr in der Haft unter rätselhaften Umständen. Manche Rastafari glauben, er sei noch am Leben und halte sich versteckt. |
Rastafari Die Religionsgemeinschaft der Rastafari entstand in den 1930er Jahren in Jamaika und hat heute weltweit schätzungsweise eine Million Anhänger. Sie halten Haile Selassie, von 1930 bis 1975 Kaiser von Äthiopien, für eine Inkarnation Gottes. Er werde seine göttlichen Kräfte nutzen, um die Mitglieder der afro-karibischen Gemeinschaft, die heute aufgrund von Kolonialherrschaft und Sklavenhandel im „Land Babylon“ im Westen lebten, nach Afrika in das „Land Zion“ zurückzubringen. Nach dem Glauben der Rastafari sind die schwarzen Afrikaner Gottes auserwählte Rasse. Die Wurzeln der Rastafari-Bewegung liegen in der Arbeit des politischen Aktivisten Marcus Garvey, der in den 1930er Jahren in Jamaika tätig war und bei den Rastafari als Prophet gilt. Grundlage der heute eigenständigen spirituellen Bewegung ist das Alte Testament, aus dem auch die Wiedergeburt, der rituelle Gebrauch von Marihuana zur Verstärkung der Spiritualität abgeleitet werden sowie die Praxis, die Haare zu den charakteristischen Locken zu drehen.
| San Myung Mun San Myung Mun wurde 1920 in dem damals von Japan besetzten Korea geboren. Anfangs wurde er in der konfuzianischen Tradition erzogen, aber mit zehn Jahren trat er zum Christentum und zur Reformierten Kirche über. Eigenen Behauptungen zufolge bekam er mit 16 Jahren Besuch von Jesus, der ihm die Anweisung gab, sein unfertiges Werk zu vollenden und das Reich Gottes auf Erden zu errichten. In seinen ersten Jahren als Prediger wurde Mun im heutigen Nordkorea inhaftiert. Er wurde 1950 von UN-Truppen befreit und gründete 1954 die Vereinigungskirche. Dies alles fand vor dem Hintergrund des Koreakrieges (1950–1953) statt, eines Konflikts zwischen dem kommunistischen Norden und dem vom Westen unterstützten Süden des Landes. Im Jahr 1958 schickte Mun erste Missionare nach Japan und ein Jahr später nach Amerika. 1975 war seine Kirche bereits in 120 Ländern aktiv. |
Die Moonies Die Vereinigungskirche, besser als Moonies (oder Moon-Sekte, abgeleitet von der englischen Schreibweise des Namens Sun Myung Moon) bekannt, wurde in den 1950er Jahren in Korea von San Myung Mun gegründet und hat weltweit rund eine Million Mitglieder. Mun behauptet, er repräsentiere die Wiederkehr Christi und stehe in Kontakt mit Konfuzius, Buddha und Jesus. Die Lehre seiner Kirche greift sowohl auf christliche als auch auf östliche Glaubensüberzeugungen zurück und setzt sich für die Einheit aller Religionen ein, um damit den Himmel auf Erden zu schaffen. Christen werden aufgefordert, das Kruzifix als Symbol aufzugeben, weil es die Menschen an Schmerzen erinnere, und es durch die Krone zu ersetzen. Ihre „Segnungszeremonien“ – manche bezeichnen sie als Massenhochzeiten von Paaren, die durch Mun zusammengestellt wurden – sind nach wie vor ebenso umstritten wie der Gründer selbst. Im Jahr 1982 wurde er in den Vereinigten Staaten wegen Steuerhinterziehung verurteilt.
Worum geht es Es gibt immer neue Wege zu Gott
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