Die vielen Gesichter des Hinduismus
Der Hinduismus nimmt für sich in Anspruch, die älteste Religion der Welt zu sein. Er hat eine Milliarde Anhänger, davon 90 Prozent in Indien. Der moderne Hinduismus ist das Ergebnis einer komplizierten Entwicklung und vereinigt viele verschiedene Richtungen in sich. Deshalb wird er oft weniger als Religion denn als Lebensweise bezeichnet. Eigentlich handelt es sich um eine Familie von Religionen, eine Ansammlung kultureller und philosophischer Systeme, die weder einen einzelnen Begründer noch eine einzige Heilige Schrift oder auch nur eine allgemeine Lehre gemeinsam haben.
Die ältesten Wurzeln des heutigen Hinduismus liegen in der Hochkultur, die zwischen 2500 und 2000 v. u. Z. im und am Industal gedieh – im „Land der sieben Flüsse“ oder Sapta-Sindhu (daher das Wort „Hindu“). Dieses altindische Reich war damals größer als Ägypten oder Mesopotamien. Als es durch die Arier aus den nördlichen Steppen neu belebt wurde, entwickelte sich eine Reihe heiliger Texte auf Sanskrit, die gemeinsam als die Veden (von veda = „Wissen“) bezeichnet werden. Vier Veden sind bei allen Hindus anerkannt; am bekanntesten ist der Rigveda. Zu Beginn handelte es sich bei den Anhängern der vedischen Religion um Reisende, Kaufleute und manchmal auch Aggressoren. Seit dem siebten Jahrhundert v. u. Z. setzte sich dann eine Gruppe von Mystikern innerhalb der Tradition für eine veränderte Einstellung ein, die Wert auf Frieden und innere Spiritualität legte. Ihre Lehren findet man in den Upanischaden, die stark von den Veden beeinflusst wurden und wie diese im modernen Hinduismus als heilige Texte gelten. Aus dieser vedischen Religion der Achsenzeit entstand der Hinduismus: Zu der bisher sehr ernsten, eingeschränkten Tradition kam eine verwirrende Fülle farbenprächtiger Gottheiten, Statuen und Tempel hinzu. Der Begriff „Hindu“ selbst setzte
ca. 2500–2000 v. u. Z. älteste Hochkultur im Industal ca. 1500 v. u. Z. Entstehung der Veden
sich ungefähr im 13. Jahrhundert u. Z. durch, aber als eigenständige Religion gab es den Hinduismus erst seit dem 18. oder 19. Jahrhundert, als Indien mit seinen europäischen Kolonialherren zu leben lernte. Dieser neue Hinduismus lehrte, das Göttliche sei unendlich und man könne es deshalb nicht auf einen einzigen Ausdruck beschränken, weder auf Brahman (die transzendente, unpersönliche Macht hinter dem Universum) noch auf Bhagavan oder Ishvara, die Sanskrit-Worte für „Herr“ und „Gott“, die eine höhere, kreative oder destruktive Macht bezeichnen. Stattdessen betete man eine Vielzahl von Gottheiten an, in denen jeweils ein anderer Aspekt des Ganzen zum Ausdruck kam. Am beliebtesten waren Shiva und Vishnu.
| Brahma Im Hinduismus gibt es eine Dreiheit (Trimurti) von Göttern, die gemeinsam das Leben in der Welt umschließen. Neben Vishnu und Shiva gibt es noch Brahma (nicht zu verwechseln mit Brahman), der die Welt und alle ihre Geschöpfe erschafft (die meisten Hindus sind aus Respekt vor allen erschaffenen Lebewesen Vegetarier, und wer Fleisch isst, meidet das Fleisch der Kühe). In bildlichen Darstellungen hat Brahma eine rote Hautfarbe, vier Köpfe – von denen jeder einen der grundlegenden Vedentexte liest –, vier Arme und einen Bart. Er wird zwar als erster der drei Götter bezeichnet und in allen hinduistischen Riten zusammen mit Vishnu und Shiva erwähnt, ihm sind aber nur sehr wenige Tempel geweiht. In der hinduistischen Mythologie gibt es dafür viele Erklärungen; die meisten sind Variationen einer Geschichte, wonach Shiva einen Fluch über Brahma aussprach, weil dieser seine göttlichen Pflichten vernachlässigte, um einer Frau namens Shatarupa nachzustellen. |
Vishnu und Shiva Es gibt im Hinduismus viele Schulen, die unterschiedliche Philosophien vertreten und das Göttliche in unterschiedlicher Form anbeten. Vereinfacht kann man sie in vier Gruppen einteilen: Vaishnavas, Shaivas, Shaktis und Smartas. Die größte Gruppe, die Vaishnavas, stellen Vishnu und seine Fähigkeit, sich als Mensch zu manifestieren, in den Mittelpunkt. Neunmal, meist in Zeiten tiefer Kri-
ca. 800–ca. 300 v. u. Z. Entwicklung des „Hinduismus“ ca. 300 v. u. Z. Bhagavad Gita
sen, stieg Vishnu demnach vom Himmel herab und rettete die Erde. Seine nächste Wiederkehr wird nach Ansicht vieler Anhänger das Ende der Welt bedeuten. Die bekanntesten dieser Manifestationen waren Krishna und Rama. Beide sind Gegenstand epischer Erzählungen, welche schildern, wie sie mit heldenhaften Taten die moralische Ordnung und das Gleichgewicht in der Welt wiederherstellten. Vishnu wird meist in Menschengestalt, mit blauer Hautfarbe und vier Armen, dargestellt. Begleitet ist er in der Regel von Licht und Sonne. Die Shaivas bevorzugen Shiva, einen widersprüchlichen Charakter, der manchmal asketisch, manchmal auch hedonistisch ist und nur zerstört, um etwas noch Reineres zu schaffen. Auch Shiva hat in den Darstellungen die Gestalt eines Menschen, aber er hat ein drittes Auge, das Weisheit symbolisiert. Die Shaktis betonen das Weibliche und die göttliche Mutter; diese hat meist die Form von Lakshmi, einer sehr populären Göttin, die als schöne, vierarmige Frau in einer Lotusblüte dargestellt wird. Ihre Vorzüge sind harte Arbeit,Wohlstand, Tugend und Tapferkeit. Die Smartas schließlich beten fünf oder manchmal auch sechs Gottheiten an, die in ihrer Gesamtheit das Göttliche charakterisieren.
| Bhagavad Gita Das Bhagavad Gita („Lied des Herrn“) ist einer der einflussreichsten Texte des Hinduismus und stellt eine weitere Verbindung zwischen den verschiedenen Richtungen dieser Religionsfamilie dar. Es entstand nach Ansicht der meisten Fachleute im dritten Jahrhundert v. u. Z. und ist vordergründig eine Diskussion über den Zweck von Kriegen. Es besteht aus einem Dialog zwischen dem Krieger Arjuna und seinem Freund Krishna, der sich als der Gott Vishnu in Menschengestalt zu erkennen gibt. Arjuna ist nahe davor, Kämpfe als nutzlos abzulehnen, aber Krishna überzeugt ihn davon, dass sie unter manchen Voraussetzungen notwendig seien, um das Dharma in einer ansonsten zerstörerischen Welt wiederherzustellen. Das Bhagavad Gita gewann mit seinen Postulaten großen Einfluss: Es fordert von allen Menschen, sich von weltlichen Vorteilen loszusagen und ihnen gleichgültig gegenüberzustehen. Außerdem verspricht es, dass diesen Zustand nicht nur wenige Auserwählte erreichen könnten, sondern alle Menschen. „Wenn sie sich auf mich verlassen“, sagt Krishna zu Arjuna, „erreichen selbst jene, die im Mutterleib des Bösen geboren wurden, das höchste Ziel.“ |
Bhagavad Gita, ca. 300 v. u. Z. ‘
Indischer Nationalismus Zwischen dem Hinduismus auf der einen Seite und der indischen Kultur und nationalen Identität auf der anderen Seite besteht ein enger Zusammenhang. Dieser wurde im 19. und 20. Jahrhundert durch indische Nationalisten verstärkt, die sich von der Kolonialherrschaft befreien wollten. Weitere Gemeinsamkeiten aller Hindus sind die Veden, bestimmte rituelle Praktiken sowie philosophische Begriffe wie Samsara und Dharma. Samsara, der vom Karma gelenkte Kreislauf von Geburt, Tod und Wiedergeburt, gehört zu den wichtigsten Lehren des Hinduismus und findet sich auch in anderen Religionen wieder. Dharma ist im Hinduismus eine übergeordnete Ethik, die über den Umgang mit anderen Menschen bestimmt. Zu ihr gehört die Vorschrift, anderen und Gott durch tugendhaftes, ethisches Verhalten zu dienen. Jeder Einzelne hat sein Dharma, das Svadharma. Der Moralkodex des Dharma nimmt im Hinduismus eine solch zentrale Stellung ein, dass die Religion häufig auch von Hindus selbst als Sanatana Dharma (Sanskrit für „ewiges Gesetz“) bezeichnet wird.
Worum geht es Der Hinduismus ist eine ganze Religionsfamilie
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