Orthodoxie
In den Gebeten der orthodoxen Liturgie findet sich die Formulierung „war, ist und wird sein“. Sie fasst die Überzeugung dieser bedeutenden Richtung des Christentums zusammen, dass sie allein die alten Strukturen der Urkirche und den Glauben der Apostel bewahrt hat. „Orthodox“ bedeutet „richtige Lehre“. Theologie, Entscheidungsprozesse und vor allem die Liturgie haben sich im Laufe der letzten zwei Jahrtausende nicht verändert; das jedenfalls behaupten die drei wichtigsten orthodoxen Kirchen – die griechische, die russische und die verschiedenen Richtungen auf dem Balkan.
Mit weltweit rund 250 Millionen Anhängern ist die Orthodoxe Kirche die zweitgrößte christliche Gruppe nach den Katholiken. Die Spaltung zwischen östlichem und westlichem Christentum hat ihre Wurzeln in der Aufteilung des alten Römischen Reiches. Dessen Westteil mit seinem Mittelpunkt Rom zerfiel im fünften Jahrhundert; der östliche Teil mit Konstantinopel als Hauptstadt blieb in wechselnder Form bis 1453 erhalten, erst dann wurde er von den Osmanen erobert. Diese politische Teilung spiegelte sich in der christlichen Kirche wider: In Konstantinopel residierte ein Patriarch, der sich als gleichberechtigt mit dem Bischof von Rom bezeichnete und sich dem Anspruch des Papsttums auf Autorität über alle Christen widersetzte. Die Ostkirche versuchte sogar, den Anspruch Roms auf die direkte Linie über Petrus bis zu Jesus zu übertrumpfen: Sie erklärte, sie sei von Andreas gegründet worden, dem ersten von Jesus ernannten Apostel.
Die Spaltung von 1054 Vor diesem Hintergrund spielten sich die verschiedenen theologischen Dispute ab, die 1054 zur Spaltung zwischen Ost und West führten. Zu den Themen, bei denen die beiden Seiten verschiedener Meinung waren, gehörten die Einstellung zur Dreifaltigkeit (siehe Seite 49) und das Festhalten der Ostkirche an den Ikonen; außerdem gab es Diskussionen über Eucharistie und liturgi-
381 Das Konzil von Konstantinopel setzt einen Stadt-Patriarchen ein 540 Wiederaufbau der Hagia Sophia („Heilige Weisheit“), der Mutterkirche des orthodoxen Christentums (heute eine Moschee)
| Die Heiligen Kyrill und Methodius Kyrill (ca. 827–869) und Methodius (ca. 815–885) sind in der slawischen Kirche als Apostel bekannt; sie waren Brüder, sprachen Griechisch und verbreiteten das Christentum in der Bevölkerung Osteuropas, des Balkans und anderer Regionen. Um die Bibel für ihre neu bekehrten Anhänger leichter übersetzen zu können, entwickelten sie eine eigene Sprache, das Kirchenslawisch, das in den orthodoxen Kirchen bis heute in Gebrauch ist. Sie werden in den Ostkirchen ebenso hoch verehrt wie die ursprünglichen Apostel. Im Jahr 868 sollen sie nach Rom gereist sein, wo sie vom Papst freundlich willkommen geheißen wurden. Die katholische Kirche nahm sie in ihren Heiligenkalender auf, und Papst Johannes Paul II. erklärte sie zu Patronen Europas. |
sche Einzelheiten. Auch vor 1054 gab es schon viele Brüche, diese wurden aber stets gekittet, und auch dieses Mal hofften viele auf eine Überwindung der Kluft. Aber die Hoffnung auf eine Versöhnung schwand, nachdem Konstantinopel 1204 von Kreuzfahrern geplündert wurde, die der Papst ins Heilige Land geschickt hatte, während man gleichzeitig versuchte, in der Region einen lateinischen (römischen) Patriarchen einzusetzen. Weitere Einigungsversuche unternahm man 1274 und 1439 – letzterer fand auf dem Konzil von Florenz statt und war von einem gewissen Erfolg gekrönt, bevor 1453 mit der Eroberung Konstantinopels durch die osmanischen Angreifer auch diese Bemühungen obsolet wurden. Die Trennung von Rom hatte zur Folge, dass sich die Unterschiede zwischen West- und Ostkirche verstärkten; das galt insbesondere nach 1453, als der Balkan und die griechischen Teile der orthodoxen Kirche sich für 400 Jahre mit der islamischen Oberherrschaft abfinden mussten. Die Reformation und die nachfolgenden Unruhen gingen an ihnen weitgehend vorbei. Mit dem Sturz Konstantinopels verlagerte sich das Machtzentrum der Ostkirche nach Moskau, das nun als „drittes Rom“ bezeichnet wurde.
Pseudo-Dio‘nysios Areopagita, spätes 5. Jahrhundert
1054 Spaltung von Ost- und Westkirche 1453 Konstantinopel wird von den Osmanen erobert
St. Athanasius von Alexandria ca. 293 – 373
Mit der russischen Revolution von 1917 und mit der sowjetischen Machtergreifung in großen Teilen Osteuropas nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die orthodoxe Kirche von den feindseligen kommunistischen Behörden in eine untergeordnete Rolle gedrängt (manchen Schätzungen zufolge kamen sechs Millionen russisch-orthodoxe Christen wegen ihres Glaubens ums Leben). Sie blieb nur dadurch funktionsfähig, dass sie sich ausschließlich auf Liturgie und Anbetung konzentrierte, sich aber an gesamtgesellschaftlichen Aufgaben nicht mehr beteiligte.
Dezentrale Autorität Die heutige orthodoxe Kirche hat keinen einzelnen Kirchenführer, der in seiner Stellung dem Papst vergleichbar wäre. Bei den Bischofsversammlungen der drei wichtigsten Kirchenzweige führt der Ökumenische Patriarch von Konstantinopel als Erster unter Gleichen den Vorsitz. Auch die Autorität ist in Übereinstimmung mit der Praxis frühchristlicher Gemeinden viel stärker dezentralisiert. Die örtlichen Bischöfe haben innerhalb ihres Amtsbezirkes die Hoheit und versammeln sich mit anderen Bischöfen aus ihrer Region, um Entscheidungen von weitreichenderer Bedeutung zu treffen. Das Priesteramt der orthodoxen Kirche steht auch verheirateten Männern offen, Bischöfe müssen aber zölibatär leben und rekrutieren sich vorwiegend aus der mächtigen klösterlichen Tradition innerhalb der orthodoxen Kirche. In Bezug auf die Lehre wird großes Gewicht auf die „Heilige Tradition“ der Kirche gelegt. Das wichtigste Ziel des Einzelnen ist in der orthodoxen Tradition die Theosis, eine mystische Vereinigung des Menschen mit Gott auf kollektiver und individueller Ebene.
Altertümliche Liturgie Der auffälligste Unterschied zwischen den orthodoxen und den westlichen Kirchen besteht in den prächtigen orthodoxen Gottesdiensten. Die Requisiten und Rituale haben sich in den orthodoxen Kirchen seit 1000 Jahren kaum verändert. Die Liturgie wird von Weihrauchwolken begleitet. Die Priester kleiden sich in reich verzierte Gewänder und tragen in Nachahmung der Apostel Bärte und lange Haare. In der Kirche werden Ikonen – religiöse Gemälde – aufgestellt und mit Kerzen eingerahmt. Die Gemeinde verneigt sich vor ihnen und küsst sie. Eine reich verzierte Trennwand, Ikonostatis genannt, trennt den Altar und damit die Geistlichen vom Hauptteil der Kirche und von den Laien ab. Die Liturgie wird zu einem großen Teil gesungen. Der ganze Gottesdienst, der einer charakteristischen Choreografie der Bewegungen und Gesten folgt, kann mehrere Stunden dauern. Die wenigen vorhandenen Kirchenbänke sind ausschließlich älteren und kran-
| Ikonen In der orthodoxen Kirche unterliegen Ikonen festgeschriebenen künstlerischen Konventionen, es gibt dabei allerdings innerhalb der Kirche unterschiedliche Traditionen. Nach allgemeiner Ansicht sollten Ikonen, im Gegensatz zur religiösen Kunst des Westens, nicht die menschliche Seite Jesu, seiner Mutter oder der Heiligen zeigen, sondern ihr göttliches Leben. In der russischen und griechischen Kirche sowie in den verschiedenen Balkankirchen gibt es für Ikonen allgemein anerkannte Symbolcodes. In der russischen Tradition steht beispielsweise die dunkelrote Kleidung der Jungfrau Maria für die Menschheit, die Erde, Blut und Opfer. Obwohl sie als Himmelskönigin gilt, wird sie nie mit einer Krone dargestellt, denn das wäre zu menschlich. Häufig symbolisieren drei Sterne auf ihrem Gewand die Zeit vor, während und nach der jungfräulichen Geburt. In den ersten Jahrhunderten des Christentums wurden Ikonen ausschließlich von Mönchen gemalt, und noch heute gilt die Ikonenmalerei traditionell als Form der Anbetung, bei der die künstlerische Tätigkeit sich mit Gebeten und Versenkung verbindet. Nach dem orthodoxen Glauben malte Lukas, einer der vier Evangelisten, als Erster die Mutter Jesu. In der westlichen Kirche waren Ikonen nach der Abspaltung vom Osten kaum noch in Gebrauch – manche religiösen Künstler, so Duccio in der italienischen Renaissance und El Greco im Spanien des 16. und 17. Jahrhunderts, malten sie aber weiterhin, wobei die strengen orthodoxen Regeln allerdings durch westliche Vorstellungen verwässert wurden. |
ken Menschen vorbehalten. Die orthodoxen Kirchen haben sich standhaft geweigert, ihre liturgischen Rituale und Worte zu modernisieren: Man glaubt, sie spiegelten die frühen Jahrhunderte der Christenheit und die Zeitlosigkeit des Himmels wider.
Worum geht es Die Geschichte Christentums spielt nicht nur in Rom
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