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Leben und Tod

Religion will nicht nur in dieser Welt moralische und ethische Maßstäbe setzen, sondern sie verspricht auch ein Leben nach dem Tod. Es kann sich in einem Paradies wie dem christlichen Himmel oder dem muslimischen Dschanna abspielen, aber auch als Teil eines Kreislaufs aus Tod und Wiedergeburt, bei welcher der Geist sich unterschiedlich manifestieren kann – die hinduistischen Upanischaden sprechen von Samsara.
Alle Religionen verbinden mit dem Tod ein Element des Gerichts: das Verhalten auf Erden steht in Zusammenhang mit Belohnung oder Bestrafung im Jenseits. Dieser Gedanke geht auf die alten Ägypter zurück, deren Hochkultur vom vierten Jahrtausend v. u. Z. bis zur griechischen und römischen Antike am Nil und in seinem Delta gedieh. Dass die Ägypter an ein Leben nach dem Tod glaubten, machen die Mumien und Grabbeigaben in den Grabkammern der Pyramiden mehr als deutlich. Im Reich des Totengottes Osiris wurde das Ka – der Verstand und Geist jedes Einzelnen – in eine Waagschale gelegt und eine Straußenfeder in die andere. Gutes Verhalten galt als leicht. Neigte die Waage sich in die falsche Richtung, bedeutete dies die Verbannung in eine Unterwelt voller Ungeheuer. Die Urteile wurden von Osiris’ Sohn Thot aufgezeichnet; dies ist der Ursprung des üppig illustrierten Totenbuches, das aus dem alten Ägypten erhalten geblieben ist.
Gericht nach dem Tod Obwohl die Israeliten in Ägypten im Exil lebten, übernahmen sie diese Vorstellung eines Gerichtes nach dem Tod nicht, als sie um 1200 v. u. Z. im Heiligen Land ihr eigenes Königreich gründeten. Die hebräischen Schriften und die ältesten Bücher des Alten Testaments sprechen vom Scheol, einem unterirdischen Ort der Ruhe, an den alle Menschen unabhängig von ihren irdischen Verdiensten gelangen. Nur eine Handvoll außergewöhnlicher Menschen, beispielsweise der Prophet Elias, fahren nach dieser Beschreibung in den Himmel zu Gott auf. Ungefähr im achten Jahrhundert v. u. Z. jedoch wurde dann das Element eines Gerichts am Ende des Lebens in die jüdische Lehre aufgenommen und später an die christliche Religion weitergegeben.
ca. 4000 v. u. Z. Im alten Ägypten werden die Seelen der Verstorbenen gewogen ca. 800 v. u. Z. Im Judentum wird die Verurteilung im Totenreich Scheol eingeführt
Nach der traditionellen christlichen Lehre erhalten diejenigen, die Jesu Lehren befolgen, im Himmel das ewige Leben, während diejenigen, die sie ablehnen, Höllenqualen erleiden. Irgendwo dazwischen liegt das Fegefeuer; dieses Wartezimmer für den Himmel wird in theologischen Diskussionen um 1170 erstmals erwähnt und wurde 1254 von einem Papst ausdrücklich benannt. Es steht in enger Verbindung mit dem 2. November, dem Feiertag Allerseelen des christlichen Kalenders, an dem die Gläubigen beten, dass Freunde und Angehörige aus dem Fegefeuer befreit werden und in den Himmel und in die ewige Freude eingehen.

Ein hinduistischer Himmel

Im Hinduismus werden detaillierte Beschreibungen des Jenseits in der Regel vermieden – in der Kausitaki-Upanischade gibt es jedoch eine Schilderung der Landschaft, in der diejenigen, die aus dem Samsara hervorgegangen sind, sich der Vereinigung mit dem unendlichen Geist Brahman erfreuen. „Zuerst kommt er an den See Ara. Er überquert ihn mit seinem Geist, aber jene, die ohne vollständiges Wissen hineingehen, ertrinken darin. Dann kommt er in der Nähe der Wächter, Muhurta, aber sie flüchten vor ihm. Dann kommt er zum Fluss Vijara, den er nur mit seinem Geist überquert. Dort schüttelt er seine guten und schlechten Taten ab, welche auf seine Angehörigen fallen – die guten Taten auf diejenigen, die er liebt, die schlechten auf jene, die er nicht mag … So von guten und schlechten Taten befreit, geht dieser Mann, der die Kenntnis von Brahman hat, zu Brahman.“

Endgültige Erleuchtung Die Upanischaden, die zwischen 700 und 300 v. u. Z. entstandenen heiligen Schriften des Hinduismus, beschreiben das Samsara sehr genau. Wer in einem Leben Getreide gestohlen hat, wird im nächsten eine Ratte. Wer einen Priester tötet, wird als Schwein Wiedergeboren. Die Mokscha, die Befreiung der Seele von der Last des Körpers und damit die endgültige Erleuchtung, ist nach dem hinduistischen Glauben ein lange dauernder Prozess. An seinem Ende findet man weniger einen Ort als vielmehr einen Seelenzustand, der in den Upanischaden als Selbstaufgabe beschrieben wird. Abendländische Christen betrachten die Wiedergeburt manchmal als attraktive Möglichkeit im Vergleich zur Endgültigkeit des Todes, für Hindus ist aber der Kreislauf des Samsara nicht nur eine Gelegenheit zu spirituellem Wachstum, sondern auch eine Bestrafung: Es bedeutet, dass der Gläubige noch nicht die endgültige Erleuchtung erlangt hat.









ca. 700–300 v. u. Z. Beschreibung des Samsara in den Upanischaden 1321 u. Z. Dantes Paradiso

‚Ein Ding, zu gewaltig,
als dass die Zunge
es erzählen oder die
Fantasie es ausmalen könnte.

As-Sujathi, 1445-15‘ über das Dschanna
Der Paradiesgarten In vielen Religionen bleibt unklar, wie das Jenseits im Einzelnen aussieht. Die östlichen Religionen sagen darüber fast nichts, Schintoismus und Taoismus beinhalten allerdings Elemente der Ahnenverehrung. Nach islamischer Lehre ist das Dschanna ein Paradiesgarten, wo, dem Koran zufolge, die feinsten kulinarischen Genüsse warten; weitere theologische Spekulationen über die ansonsten abstrakte Idee werden aber als Zannah – selbstgerechte Verschrobenheit – abgelehnt. Augustinus, der vermutlich einflussreichste Schreiber und Denker der christlichen Kirchengeschichte, bezeichnete den Himmel im fünften Jahrhundert als unbeschreiblich – als jenseits der Worte.
Obwohl also ein solches Bündnis mächtiger Stimmen vor dem Versuch warnt, sich das Jenseits vorzustellen, hat es eine lange Reihe von Theologen, Mystikern, Künstlern und Autoren fasziniert und inspiriert. Der italienische Dichter Dante Alig-

Das Schlaraffenland
Im Mittelalter berichteten abendländische Reisende, die aus islamischen Ländern zurückkehrten, der Koran verspreche muslimischen Märtyrern, dass sie im Dschanna von wunderschönen Jungfrauen empfangen würden. Der Koran selbst macht in dieser Frage keine genauen Aussagen – je nach Übersetzung kann die Beschreibung alles Mögliche meinen, von „Gefährten“ bis zu „vollbusigen Mädchen“. Die Hadithe – Aussprüche, die mit unterschiedlicher Glaubwürdigkeit Mohammed zugeschrieben werden – versprechen (wiederum in verschiedenen Versionen): „Die geringste [Belohnung] für die Völker des Himmels besteht in 80.000 Dienern und 72 Ehefrauen, über denen eine Kuppel aus Perlen, Aquamarinen und Rubinen steht.“ Solche Texte ermutigten die abendländische Literatur jener Zeit, sich in Übertreibungen über das erotische Element des Dschanna zu ergehen – eine Haltung, die bis heute anzutreffen ist. Das Liber Scalae („Buch der Leiter“) von 1264 beschreibt das Dschanna als Ort mit rubinenbesetzten Mauern, wo Jungfrauen liegen und darauf warten, Neuankömmlinge unter Baldachinen aus Smaragden und Perlen zu erfreuen, umgeben von Obstbäumen und Tischen voller Speisen und Getränke. Solche Beschreibungen gaben vermutlich ihrerseits den Anlass zu Erzählungen über das fiktive Schlaraffenland, ein irdisches Paradies des Überflusses, das in vielen mittelalterlichen europäischen Schriften und Abbildungen vorkommt.


‚Der Himmel hat keine Lieblinge.
Er ist immer bei den guten Menschen.

Laotse, 6. Jahrhundert v. u. Z.
hieri schuf im 14. Jahrhundert in seiner Göttlichen Komödie ein denkwürdiges Bild des Paradieses, aber auch er scheute sich, den innersten Kern des Himmels zu beschreiben. Seine Beschreibung der Hölle – das Inferno – als Reihe von Ebenen in immer größeren Tiefen der Erde entspricht der des Jainismus, einer altindischen Religion, nach deren Lehre das Universum zwei Himmelsebenen oberhalb der Erde und zwei Höllenebenen darunter enthält.
Mehrere abendländische Künstler übernahmen Darstellungen des Lebens nach dem Tode von dem römischen Dichter Vergil: Dieser beschrieb im ersten Jahrhundert v. u. Z. die elysischen Felder, die man symbolisch durch ein Tor betritt. Mittelalterliche christliche Mystiker, viele von ihnen keusche Nonnen, bevorzugten das Bild eines Christus, der im Himmel auf die Seelen der Gläubigen wartet wie ein Bräutigam auf seine Braut.
Die vielen unterschiedlichen Versuche, sich das Leben nach dem Tod vorzustellen, lassen sich also in zwei Denkschulen einteilen: Nach der einen ist es eine gereinigte Version des irdischen Lebens, die andere behauptet wie Augustinus, die Seelen könnten nur dann in Ewigkeit zufrieden sein, wenn dieses Leben außerhalb unserer Vorstellung liege und nur in Metaphern zu beschreiben sei.
Worum es geht der Tod ist nicht das Ende