Der militante Islam
Im 20. Jahrhundert lehnten viele Herrscher muslimischer Länder die in ihren Augen mittelalterliche Vergangenheit ab und versuchten, Religion und Politik zu trennen. Atatürk in der Türkei, Nasser in Ägypten, Jinnah in Pakistan und der Schah im Iran wurden von den westlichen Regierungen in ihren Bemühungen unterstützt, mit der Zeit zu gehen: Sie kleideten sich modern, ersetzten die Scharia durch eine bürgerliche Gesetzgebung und drängten Geistliche an den Rand oder vertrieben sie. Solche gewaltigen Veränderungen provozierten aber zwangsläufig eine Gegenbewegung: In den letzten Jahrzehnten des 20. und den ersten Jahren des 21. Jahrhunderts gewann eine neue Form des militanten Islam an Boden.
Im 19. und 20. Jahrhundert wurden die westlichen Vorstellungen von säkularen Nationalstaaten, Demokratie und Industrialisierung vorherrschend. Gesellschaften, die das Vorbild nicht übernahmen, galten als rückständig, und im Kampf um Märkte und weltpolitischen Einfluss wurden sie häufig als Kolonien von europäischen Staaten geschluckt. Dieses Schicksal erlitten die nordafrikanischen Staaten im 19. Jahrhundert durch Frankreich und Italien, und nachdem das Osmanische Reich – „der kranke Mann Europas“ – zusammen mit Deutschland im Ersten Weltkrieg besiegt war, teilten Großbritannien und Frankreich seine Ländereien im Nahen Osten als Protektorate unter sich auf. Ein letztes Symbol für die westliche Eroberung von Gebieten, die Muslime jahrhundertelang als die ihren betrachtet hatten, war 1948 die Gründung des Staates Israel auf dem Gebiet des vorwiegend muslimischen Palästina.
Religiös und säkular Manche muslimischen Herrscher versuchten angesichts des Wandels in der Welt, das westliche Vorbild an ihre Länder anzupassen. Andere, insbesondere die Bath-Bewegungen im Irak und Syrien, verbanden Sozialismus mit arabischem Nationalismus. Alle bemühten sich bis zu einem gewissen Grade, Reli-
1915 Sturz des osmanischen Reiches 1948 Gründung des Staates Israel 1966 Hinrichtung von Sayyid Qutb
gion und Staat zu trennen – und wenn es Widerstand gab, reagierten sie häufig mit Gewalt. In Ägypten ließ der säkulare Nationalistenführer Gamal Abdel Nasser (1918–1970) Sayyid Qutb, den er als Ungläubigen gebrandmarkt hatte, im Jahre 1966 hinrichten. Im Iran trieb die westlich orientierte Regierung des Schahs Mohammad Reza Pahlevi (1944–1979) den geistlichen Schiitenführer Ajatollah Ruhollah Khomeini (1902–1989) ins Exil. Dieser kehrte aber später zurück und kam durch eine Revolution an die Macht.
| Die Fatah Fatah ist eine islamisch-juristische Meinung, die von Juristen oder geistlichen Führern abgegeben wird und die Gesetzeslage klarstellen soll, wenn neue Umstände oder Fragen auftauchen, für die es im Koran und in der Sunna keine klaren Anweisungen gibt. International berüchtigt wurde das Wort 1989, als der Ajatollah Khomeini eine Fatah gegen den britischen Romanautor Salman Rushdie aussprach, weil dieser in seinem Roman Die satanischen Verse angeblich ein gotteslästerliches Bild von Mohammed gezeichnet hatte. Gotteslästerung wird mit dem Tod bestraft. Khomeinis Fatah wurde einen Monat nach ihrem Erlass von 48 der 49 Mitgliedsstaaten der Islamkonferenz missbilligt, aufgehoben wurde sie aber erst neun Jahre später. |
Khomeini bemühte die Geschichte, um seinen Kampf gegen den Staat zu charakterisieren: Er verglich ihn mit dem Kampf zwischen Yazid und Hussein 680 in Kerbela und behauptete, der Schah sei in jeder Hinsicht ein ebenso großer muslimischer Hochstapler wie Yazid. Er betonte, man könne den Islam nicht so modernisieren, dass er zu den wirtschaftlichen oder politischen Umständen passe. Anschließend bediente er sich aber der ersten Ansätze des modernen militanten Islam, um ein Regierungssystem zu schaffen, das seinen eigenen historischen Ansichten entsprach. Im heutigen iranischen Gottesstaat besteht eine instabile Verbindung zwischen demokratischen Wahlen nach westlichem Muster und einem „geistlichen Führer“, der aus der klerikalen Elite stammt.
1979 Sturz des Schahs im Iran 1994 Machtübernahme durch die Taliban in Afghanistan 2001 Zerstörung des World Trade Center durch die Al-Qaida
Besuch in der Vergangenheit Sehr schnell vereinnahmte der neue militante Islam auch andere uralte Glaubensüberzeugungen für seine Zwecke. Abul Ala Maududi (1903–1979), der Gründer der Partei Jamaat-i-Islami in Pakistan, dem vielfach ein wichtiger Einfluss auf den militanten Islam zugeschrieben wird, berief sich als einer der Ersten auf den Begriff des Dschihad aus dem Koran – das Wort bedeutet ursprünglich einfach „Kampf“ – und unterstützte einen heiligen Krieg gegen westliche Einflüsse und alle, die sie übernehmen wollten. Zur gleichen Zeit verglich der fundamentalistische Gelehrte Sayyid Qutb sich selbst und seine Anhänger in Ägypten gern mit der Gruppe, die den Propheten begleitet hatte, als er von korrupten Stadtvätern aus Mekka nach Medina vertrieben wurde. Qutbs bekanntestes Werk mit dem Titel Zeichen auf dem Weg erschien 1964. Darin spricht er vom Segen des Koran für Gewalt und Mord an „Ungläubigen“ (einschließlich aller Muslime, die sich säkulare Werte zu eigen machen). Es findet noch heute große Anerkennung bei extremistischen Gruppen wie dem islamischen Dschihad, der Hisbollah im Libanon und der Dissidentenbewegung in Saudi-Arabien. Das Regierungssystem Saudi-Arabiens orientiert sich zwar nach wie vor an den puritanisch- wahhabitischen Idealen aus dem 18. Jahrhundert, der spektakuläre Reichtum, der sich dort in jüngerer Zeit durch die Ölreserven angesammelt hat, und die langjährige Verbindung zu den Vereinigten Staaten waren aber für viele seiner Einwohner, auch für den Al-Qaida-Begründer Osama bin Laden, der Anlass zu militanten Aktionen und zu Morden. Bin Laden plante seinen weltweiten Terrorfeldzug aus dem Exil in Afghanistan, wo seit 1994 die militant-islamische Bewegung der Taliban herrschte. Zu den „Neuerungen“ dieser Regierung gehörte es, Frauen sowohl Schulbildung als auch Berufstätigkeit zu verbieten und ihnen eine vollständige Verhüllung des Körpers in der Öffentlichkeit vorzuschreiben. Nach Ansicht aller Gelehrten aus der Hauptrichtung des Islam widerspricht eine solche Politik der Praxis des Propheten.
Ayatollah Khomeini, 1979 ‘
| Sayyid Qutb Der ägyptische Lehrer, Schriftsteller und Dichter Sayyid Qutb war nach Angaben eines Studienkollegen des Al-Qaida-Führers Osama bin Laden „derjenige, der unsere Generation am stärksten beeinflusst hat“. Über Qutb sind die Muslime geteilter Meinung. Für seine Bewunderer war er ein Märtyrer des wahren Islam. Seine Gegner sehen in ihm einen gewalttätigen Extremisten. Er begrüßte es, dass Nasser 1952 die westlich orientierte ägyptische Regierung stürzte, wurde aber durch den säkularen Nationalismus des neuen Herrschers schon bald desillusioniert. Im Jahr 1954 kam er nach einem Mordversuch an Nasser ins Gefängnis, und, von wenigen Monaten abgesehen, verbrachte er sein ganzes weiteres Leben hinter Gittern. Die Zeit nutzte er, um sein Werk Zeichen der Zeit fertigzustellen, ein bis heute einflussreiches Manifest des politischen Islam. Außerdem schrieb er einen 30-bändigen Kommentar zum Koran: Darin bekannte er sich zum gewalttätigen Dschihad, und er behauptete, die muslimische Welt brauche keine Regierungen – der einzelne Muslim müsse nur dem Koran und dem Hadith gehorchen. Er wurde 1966 auf Befehl Nassers hingerichtet. |
Selbstmordattentäter In seinem Bestreben, auf eine sich wandelnde, vom Westen beherrschte Welt zu reagieren, predigt der militante Islam die Rückkehr zu traditionellen muslimischen Werten. Er selbst hat diese Werte jedoch verzerrt und verletzt, und in den nichtmuslimischen Staaten entstand der Eindruck, die Praktiken von Taliban und Al-Qaida seien im Koran und im Hadith beschrieben. Das stimmt nicht. Für Selbstmordattentate beispielsweise, eine beliebte Taktik der militanten Extremistengruppen, findet sich im Koran keine Begründung. Selbstmord ist im Islam verboten, und die Tötung unschuldiger Unbeteiligter wird als Mord verurteilt. „Wer die Rechtschaffenen zusammen mit den Übeltätern tötet“, schrieb der Prophet, „hat nichts mit mir zu tun, und ich habe nichts mit ihm zu tun.“
Worum geht es Der militante Islam ist eine Minderheit
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